Es gibt zwei Gründe für den Wagemut der Oper Dortmund, das völlig unbekannte Drame lyrique „Frédégonde“ auf den Spielplan zu setzen. Einmal ist es eingebunden in den vierjährigen Zyklus „Wagner-Kosmos“ rund um die Neuinszenierung vom „Ring des Nibelungen“, als Beispiel für den französischen Wagnérisme. Zum anderen reiht es sich in die Aktivitäten anlässlich des 100. Todestags von Camille Saint-Saëns ein. Wobei nur die letzten beiden Akte samt Ballettmusik von dem Spätromantiker stammen. Denn der eigentliche Komponist war sein Freund Ernest Guiraud, jener französische Tonschöpfer, der heute für die Bearbeitungen von Bizets „Carmen“ und Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ bekannter ist denn für seine eigenen Werke. Guiraud aber starb vor der Vollendung und Paul Dukas orchestrierte die ersten drei Akte, während Saint-Saëns den Rest während eines dreimonatigen Aufenthalts in Saigon komplettierte. In der vietnamesischen Metropole, der jetzigen Ho-Chi-Minh-Stadt, fand 2017 auch die bislang einzige – konzertante – Vorstellung nach der Pariser Uraufführung 1895 statt.

„Frédégonde“ ist ein blutrünstiges Familiendrama, das historisch sehr frei um Machtränke innerhalb der Merowinger-Dynastie im 6. Jahrhundert kreist. Die Titelheldin, Mätresse und spätere Ehefrau des Königs Hilpéric, lässt erst dessen erste Gattin ermorden und danach ihre Schwägerin Brunhilda, die Konkurrentin um den Thron, verbannen. Darauf begeht Mérowig, Hilpérics mit Brunhilda verheirateter Sohn, Selbstmord.

Stilistisch kann man „Frédégonde“ als spätes Relikt einer Grand opéra mit opulenten Tableaus, großen Chören und einem hier gestrichenen Ballett einordnen. Beim ersten Hören klingen die drei musikalischen Handschriften wie eine Einheit, vielleicht melodiös einprägsamer bei Guiraud, gerade im Vergleich der beiden ausgedehnten Duette für das böse und gute Paar.

Die Aufführung musste pandemiebedingt mehrmals verschoben und an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Deshalb ist der Chor im Parkett und das Publikum nur in den Rängen platziert. Marie-Eve Signeyrole arbeitet in ihrer Inszenierung mit drei Ebenen. Zum einen läuft die krude Geschichte teils in Rückblenden als ein mit viel Sex and Crime gewürzter Stummfilm auf einer großen Leinwand ab. Parallel dazu finden Live-Aktionen auf dem vorderen Rand der Bühne statt. Und drittens sehen wir an der Seite zwei Statistinnen als Königinnen beim Schachspiel, ein Symbol für die Machtkämpfe.

Dass angesichts der visuellen Tripelung und der damit verbundenen bildnerischen Überfrachtung die Musik zu ihrem Recht kommt, ist dem sich leidenschaftlich einsetzenden Dirigenten Motonori Kobayashi und dem famosen Ensemble zu verdanken. Anna Sohn als höhenstarke, auch im Espressivo stimmlich kultivierte Brunhilda kontrastiert optimal mit dem wuchtigen Mezzo von Hyona Kims Frédégonde. Der erst kurz vor der Produktion eingesprungene Sergey Romanovsky, als Belcanto-Tenor eine Kapazität, zeigt als Mérowig auch im französischen Fach vokale Souveränität. Und Mandla Mndebele beglaubigt mit noblem Bariton den schwachen König. Eine Entdeckung, auf die die Oper Dortmund stolz sein kann.

Karin Coper

„Frédégonde“ (1895 uraufgeführt) // Drame lyrique von Ernest Guiraud und Camille Saint-Saëns in Zusammenarbeit mit Paul Dukas

Infos und Termine auf der Website des Theaters