Mit der jeweils dreieinhalbstündigen Doppelpremiere von „Barbier“ und „Figaro“ an zwei aufeinanderfolgenden Tagen leistet das Wiesbadener Staatstheater ein in Covid-19-Zeiten rekordverdächtiges Wagestück. Doch zunächst stimmt Regisseur Tilo Nest ganz in scheinbarer Rücksicht auf die Seuchenlage das Publikum zu Beginn des auf der ersten Komödie von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierenden „Barbier“ die 200 zugelassenen Besucher auf einen lediglich halbszenischen Abend ein, indem er das Orchester auf der Vorderbühne positioniert. Kaum aber haben zwei Mitglieder des Klangkörpers füreinander Feuer gefangen und sind zu Rosina und Almaviva mutiert, fahren die Kollegen in den Graben hinab und geben einem Treiben Raum, dessen Herkunft aus der Commedia dell’arte die Regie keinen Augenblick verleugnet. Daher gelingt es der „Barbier“-Personage auch, souverän mit der Covid-19-Lage zu spielen. Das fängt beim demonstrativen Einhalten des Distanzgebots an und hört bei Rosinas domestiziertem Riesengürteltier nicht auf. Fiese Gerüchte wie Viren versprühend, verwandelt sich Basilio im Crescendo der Verleumdungsarie in eine Fledermaus. Um keinen Schlich verlegen, schlüpft Figaro in diverse Theaterberufe vom Inspizienten bis zum Kapellmeister und gebietet ferner über die Bühnenmaschinerie. Zu allem Überfluss hüpft Rossini in Bartolos Part über die Bühne. Erst die letzten Raketen des Ideenfeuerwerks wollen nicht mehr zünden. Die für Almaviva geöffneten Striche münden in eine One-Man-Show, in der sich die übrigen Ensemblemitglieder zu bloßen Zuhörern degradiert sehen müssen. Aufs Ganze gesehen aber gerät der Wiesbadener „Barbier“ zu einer Riesengaudi, in der Gisbert Jäkels die technischen Möglichkeiten des Hauses fordernde Bühne munter mitmischt. So setzt sich Rosinas rosa tapeziertes Mädchenzimmer in den Turbulenzen des ersten Finales in aufgeregte Bewegung. Für die Kostüme legen sich Anne Buffetrille und Mirjam Ruschka keinerlei Zügel an. Rosina wechselt zwischen Girlie und Señora. Almaviva platzt als Offizier der Roten Funken aus dem rheinischen Karneval in Bartolos Haus.

Musikalisch brilliert der Abend vor allem durch vokale Leistungen. Denn Konrad Junghänel entlockt zwar den Holzbläsern des beinahe kammermusikalisch besetzten Hessischen Staatsorchesters abwechselnd Poesie und Schalk, das Häuflein Streicher aber muss die Töne treiben. Stimmlich gewinnend lässt Ioan Hotea seinen Almaviva zwischen lyrischem Tenor und tenore di grazia changieren. Silvia Hauer grundiert Rosina noch in den mutwilligsten Passagen mit einer Spur Noblesse. Thomas de Vries gibt einen frappierend Parlando-geläufigen Bartolo. Rollenadäquat lässt Young Doo Park seinen Basilio orgeln und donnern. Christopher Bolduc verkörpert die Titelfigur darstellerisch wendig.

Michael Kaminski

„Il barbiere di Siviglia“ („Der Barbier von Sevilla“) (1816) // Gioachino Rossini