Kornél Mundruczós Neuinszenierung der „Rusalka“ präsentiert gleich zwei Deutungen des Stoffes: eine reale und eine surreale. Zunächst zeigt der Regisseur im Bühnenbild von Monika Pormale eine an sozialen Gegensätzen scheiternde Liebesgeschichte. Dvořáks Seejungfrau erscheint als Teenager, der mit drei Mitbewohnerinnen („Elfen“) und einem verlotterten Alt-68er („Wassermann“) in einer schäbigen Prekariats-Etagenwohnung haust. Sie ist unglücklich in den wohlhabenden Mieter („Prinz“) aus dem oberen Stockwerk verliebt. In ihrem Liebeskummer verkriecht sie sich in die Badewanne. Um Rusalka für ihren Märchenprinzen aufzuhübschen, verpasst ihr die Nachbarin (die „Hexe“ Ježibaba) einen Haarschnitt und ein schickes Kleid. Das ist plausibel. Unplausibel ist, dass dazu unter Einsatz von Trockeneisnebel ein Zaubertrank gebraut werden muss und sie dadurch sprachlos wird. Im zweiten Akt geht es statt an den Hof des Prinzen einfach ein Stockwerk höher in eine stylische Penthouse-Wohnung. Die hochnäsige Familie des Bräutigams mobbt dort das Unterschichtmädchen. Der Wassermann holt die Gescheiterte zurück in die Etagenwohnung. Damit könnte die Geschichte abgeschlossen sein.

Der letzte Akt präsentiert eine überraschend neue Deutung: Rusalka ist statt zum „Irrlicht“ zu einem riesigen, schwarzen, gliederfüßerartigen Insekt mutiert. Das Bühnenbild wechselt erneut die Etage, nun nach unten in den Keller. Elfen und Wassermann treten dort als verunstaltete Mutanten auf. Die Insekten-Rusalka schlängelt sich über den Boden und versetzt dem ihr gefolgten Prinzen tödliche Küsse. So geht durch die Inszenierung ein Bruch. Denn die aus Franz Kafkas „Verwandlung“ entlehnte Insekten-Metapher des existentiellen Fremdseins ist nicht deckungsgleich mit dem zunächst gezeigten Fremdsein des Prekariats-Mädchens in einer Oberschichten-Welt. Dabei harmoniert die Präsentation der Nixe als kleine Schwester von Gregor Samsa in ihrer Phantastik mit dem Stoff sogar besser als das Herunterbrechen des Märchens auf eine sozialkritisch aufgepolsterte Liebesgeschichte. Nicht zuletzt erzählt die Partitur, die Robin Ticciati mit der Staatskapelle Berlin farbig und atmosphärisch umsetzt, von einer verzauberten Welt, die in den ersten beiden Akten auf der Bühne nicht gezeigt wird.

Christiane Karg in der Titelpartie beglaubigt beide Regieansätze mit intensivem Spiel. Als zur Stummheit verdammte Außenseiterin überzeugt sie im zweiten Akt sogar tänzerisch (Choreografie: Candaş Baş). Nach einem ausbuchstabiert klingenden „Lied an den Mond“ findet sie intensive Töne für die zunehmende Verzweiflung ihrer Figur. Großartig gestaltet Mika Kares mit profundem Bass den Wassermann, saftige Mezzotöne hat Anna Kissjudit für die Ježibaba parat. Pavel Černoch bietet für den Prinzen solides Tenormaterial auf. Die „Fremde Fürstin“ der Anna Samuil wirkt dagegen zu hell timbriert und irritiert mit einigen schrillen Tönen in der Höhe. Die kleineren Partien sind sämtlich rollendeckend besetzt. Am Ende bleibt der Eindruck von einer musikalisch ordentlichen Aufführung mit disparaten Regieideen.

Dr. Michael Demel

„Rusalka“ (1901) // Lyrisches Märchen von Antonín Dvořák