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Rezensionen

Lachen gegen den Geist der Zeit(en)

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2023)
Mel Brooks’ „The Producers“ als scharfsinniges Fest der politischen Inkorrektheit

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2023)
Mel Brooks’ „The Producers“ als scharfsinniges Fest der politischen Inkorrektheit

2001 hat Mel Brooks aus seinem Film „Frühling für Hitler“ (1968) das Musical „The Producers“ gemacht. Dominik Wilgenbus inszeniert es jetzt in der Musikalischen Komödie und landet damit einen Volltreffer. Es geht um den Versuch, bewusst einen Broadway-Flop zu produzieren und dafür die mieseste Story dem schlechtesten Regisseur anzuvertrauen. Dank der Verluste sollen keine Sponsorengelder an die alten Damen zurückgezahlt werden müssen, denen der einst erfolgreiche Broadway-Produzent Max Bialystock (Patrick Rohbeck) viele Dollars abgeluchst hat. Gemeinsam mit seinem Buchhalter Leo Bloom (Nick Körber) entscheidet er sich für „Frühling für Hitler“ von Franz Liebkind (Michael Raschle). Ein Alt-Nazi, der seine Brieftauben Hermann, Josef, Heinrich, Eva, Björn (sic!) und Adolf nennt und seinen „Führer“ natürlich selbst spielen will. Weil er sich aber die Knochen bricht, kommt der oberschwule Regisseur Roger deBris (hinreißend: Andreas Rainer) dazu, in dieser Rolle die Revue-Treppe herab zu „schwuchteln“. Und der Plan der beiden geht natürlich gründlich schief: Das Hitler-Stück wird ein voller Erfolg …  

So wie diese Inszenierung, die dank Michael Nündel und dem MuKo-Orchester, dem von Mirko Mahr choreografierten Ballett und dem von Mathias Drechsler einstudierten Chor und Extrachor in jeder Hinsicht fabelhaft verpackt auf die Bühne kommt. Wilgenbus und seine Kostümbildnerin Uschi Haug bleiben den cineastischen und Broadway-Vorbildern branchenüblich dicht auf den Fersen. Peter Engel nimmt sich bei der Bühne einige Überzeichnungsfreiheiten mit angedeuteten offenen Räumen. Ein paar Pointen jubelt die Regie dem originalen Jahr des Geschehens 1959 aber doch unter. Wenn da ein „Vogelschiss“ mit einer Hakenkreuz-Armbinde verdeckt wird oder beim Casting für die Hauptrolle ein Bewerber im „Höckepack“ zu zweit auftritt, hat das Publikum keine Mühe damit, die Zielscheibe des Spottes zu erkennen.

„The Producers“ wird so zu einem Feuerwerk des Slapsticks und der perfekten Tanznummern, vor allem aber der Pointen und Anspielungen: von der Weltkugel des „Großen Diktators“ bis zu einem „Heil mir selbst“. Der Auftritt von Nora Lentner als schwedische Ulla ist genauso perfekt wie die der alten Ladys, denen Bialystock die Schecks aus den Unterhöschen fingert. Dass einem beim Swastika-Ballett oder dem Auftritt von Ivo Kovrigar als blondem Sturmtruppenmann auch mal der Atem stockt, erinnert direkt an die erste Silbe im Wort Totlachen, das auch über diesem Stoff schwebt. Es funktioniert aber, weil dieses Stück ein Publikum voraussetzt und antrifft (!), das immer noch klug genug ist, historische Bezüge herzustellen und keines woken Übereifers bedarf, um vor dem Anblick eines Hakenkreuzes beschützt zu werden. „The Producers“ ist ein Stück gegen jeden Frühling für Hitler. Aber auch eins gegen jedes Gebot einer eifernden politischen Korrektheit, die doch nur eine Form von Selbstzensur ist. Der selbstbewussten jüdischen Gewitztheit eines Mel Brooks sei Dank.

Dr. Joachim Lange

„The Producers“ (2001) // Musical von Mel Brooks

Infos und Termine auf der Website der Oper Leipzig

Familienreise zum Mond

Wien / Volksoper Wien (Oktober 2023)
Offenbachs Märchenoper wird zum vielseitig gelungenen Ereignis für Jung und Alt

Wien / Volksoper Wien (Oktober 2023)
Offenbachs Märchenoper wird zum vielseitig gelungenen Ereignis für Jung und Alt

Spielerisch leicht werden an der Volksoper Wien die ganz großen Themen verhandelt: Generationenkonflikte, Verantwortung füreinander, Respekt vor der Obrigkeit, Liebe, Umweltschutz und letztlich die Frage, wie lebenswert unser Planet ist und ob es eine Alternative gibt. All das steckt in Jacques Offenbachs Märchenoper „Die Reise zum Mond“ – oder zumindest hat der französische Regisseur Laurent Pelly all das daraus gemacht. Seine Inszenierung, die bereits Anfang des Jahres an der Pariser Opéra Comique zur gefeierten Premiere kam, ist jetzt auch in Wien zu sehen: als deutsche Erstaufführung mit einem gelungenen deutschen Libretto (Übersetzung: Stephan Troßbach).

Pelly macht – wie bereits in Paris – den künstlerischen Nachwuchs zu den Stars der Produktion, indem er den Kinder- und Jugendchor sowie das Opernstudio der Volksoper einsetzt. Die Handlung basiert lose auf Erzählungen von Jules Vernes: Prinz Caprice soll von seinem Vater König Zack (im Original Roi Vlan) die Krone übernehmen, hat aber so gar keinen Bock. Stattdessen will er – wohin auch sonst – zum Mond. Einmal in den Kopf gesetzt, kann ihm das niemand mehr ausreden und der Hofgelehrte Mikroskop und sein Vater müssen per Kanone mitkommen – herrlich ironisch frohlockt das Volk: „Schießt den König auf den Mond.“ Dort verliebt Caprice sich in Prinzessin Fantasia, was ihrem Vater, König Kosmos, gar nicht gefällt, da die Liebe auf dem Mond eine Krankheit ist. Das ändert sich, als Fantasia einen von Caprice mitgebrachten Apfel probiert, durch den sie plötzlich Liebe spüren und verstehen kann. Danach explodiert noch ein Vulkan, was aber niemanden verletzt, und schließlich bestaunen alle ehrfürchtig die aufgehende Erde und fragen sich, ob dieser blaue „Stern“ nicht eine neue (alte) Heimat sein könnte.

Neben der Regie sorgt Laurent Pelly auch für fantasievolle Kostüme: zum Beispiel bei den Mondlingen mit individuellen planetaren Hüten und Reifröcken – König Kosmos herrlich witzig kugelrund. Apropos Optik: Das Bühnenbild (Barbara de Limburg) fasziniert ab der ersten Szene, in der eine amorphe Masse in dunkelgrauen Anzügen mit einheitlichen Designerbrillen und Smartphones sich ihren Weg durchs Plastikmüll-Gebirge bahnt. Die Welt scheint eindrucksvoll verloren.

Musikalisch kommen Offenbach-Fans voll auf ihre Kosten: Operetten-Flair mit Strauss’schen Walzer-Anklängen. Schauspiel und Sprechtext werden qualitativ sehr unterschiedlich dargeboten – von etwas zu aufgesetzt und teilweise unverständlich (Aaron Casey Gould) bis großartig komisch und überzeugend (Christoph Stocker). Gesanglich werden hingegen durchweg solide Leistungen abgeliefert. Der hervorragende Chor trägt die vielen schwungvollen Operettennummern, solistisch ist Alexandra Flood (Prinzessin Fantasia) mit ihrem klaren Gesang bis in die Höhen hervorzuheben, die auch beim Apfel-Duett gemeinsam mit Aaron Casey Gould (Prince Caprice) traumhaft schöne Harmonien entstehen lässt. Dirigent Alfred Eschwé hat hörbar Freude daran, Offenbach gemeinsam mit dem Orchester fein auszudifferenzieren und schon bei der Ouvertüre äußerst passende Akzente bei Tempo und Lautstärke zu setzen.

Der Zusatz „Oper für die ganze Familie“ sollte niemanden abschrecken, denn sowohl Musik als auch Inszenierung sind kindgerecht, aber auf keinen Fall kindisch. Sogar der frivole Offenbach scheint immer wieder durch. Politisch und dennoch leicht, beschwingt und nicht belehrend beschert uns Pelly einen unterhaltsamen Abend, der zum Nachdenken anregt.

Christoph Oscar Hofbauer

 „Die Reise zum Mond“ (im Original „Le voyage dans la lune“, Opéra-féerie, 1875) // Oper für die ganze Familie von Jacques Offenbach in einer Fassung von Laurent Pelly, Agathe Mélinand und Alexandra Cravero

Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien

Goldader par excellence

Hamburg / Allee Theater – Hamburger Kammeroper (Oktober 2023)
Deutsche Erstaufführung von Mercadantes Mozart-Ableger „I due Figaro“

Hamburg / Allee Theater – Hamburger Kammeroper (Oktober 2023)
Deutsche Erstaufführung von Mercadantes Mozart-Ableger „I due Figaro“

Sie sind die Schatzgräber im Hamburger Opernleben: Zahlreiche der Produktionen, die seit bald drei Jahrzehnten auf dem Spielplan der Hamburger Kammeroper standen, haben nicht nur für fragende und staunende Mienen im Publikum des 215-Plätze-Hauses gesorgt, sondern die Raritäten und verschollen geglaubten Werke entpuppten sich auf der kleinen Bühne immer wieder aufs Neue als musikalische Entdeckungen. Und auch mit ihrem jüngsten Coup beweisen die Hanseaten mehr als nur ein glückliches Händchen: Bald 200 Jahre nach seiner Entstehung erlebt Saverio Mercadantes „I due Figaro“ nun an der Elbe seine deutsche Erstaufführung – und entpuppt sich als kleiner, großer Schatz!

Dichterisch, denn die Geschichte „Figaros Hochzeit zweiter Teil“ erzählt, wie es Jahre nach Mozarts „Le nozze di Figaro“ im Schloss des Grafen Almaviva weitergeht: Die Paare sind in die Jahre gekommen und haben sich eigentlich nicht mehr viel zu sagen, sondern wahren nur noch unterkühlt die Form. Dafür zieht Figaro weiter seine Strippen und plant des Grafen Tochter Inez mit einem Nichtsnutz zu verkuppeln, um sich dann mit diesem die Mitgift zu teilen. Doch er hat die Rechnung ohne den beim Militär zu Geld und Ehr gekommenen Cherubino gemacht, der längst das Herz der gräflichen Tochter erobert hat und nun als zweiter Figaro die Pläne durchkreuzt …

Musikalisch, denn mag Mercadante auch kein zweiter Mozart sein, so knüpfen nicht allein die Finali der beiden Akte an die Virtuosität eines Rossini an: Die Melodien sind eingängig, die Koloraturen geschmeidig und obendrein gibt es – passend zum Ort der Handlung – reichlich spanisches Lokalkolorit vom Bolero über Cachucha bis zur Tirana, was der Koketterie Susannas (mit leuchtendem Sopran: Natascha Dwulecki) ebenso zugutekommt wie ihrem emanzipierten Carmen-Auftritt. Doch auch die beiden anderen Damen des Abends haben trotz wunderhübscher historischer Kostüme (Marie-Theres Cramer) durchaus die Hosen an: Feline Knabe beweist als Gräfin die nötigen Spitzen, während Lilia-Fruz Bulhakova als Inez mit warmer, weicher Stimme nicht nur Cherubino (Edilson Silva Junior) betört. Amüsant, aber auch tiefsinnig kommt Marco Trespioli als im Zen-Buddhismus versunkener Graf daher, wenn der (nicht immer strahlende) Tenor über die Vergänglichkeit der glühenden Liebe sinniert. Und Titus Witt vermag die Bühne nicht nur mit Verschlagenheit zu erobern, sondern ebenso mit kräftigem Bariton zu punkten.

Dramaturgisch, denn Alfonso Romero Mora begeistert in seiner Regie gleichermaßen mit feiner Personenführung wie mit überraschenden Ideen und Humor. Letzteren offenbart auch Barbara Hass in ihrem schlagfertig-unterhaltsamen Libretto. Dazu verschlossene Türen, verschachtelte Wände, Kerzen und ein Sofa (Bühne: Kathrin Kegler) – und schon entbrennt auf wenigen Quadratmetern ein Feuerwerk an Spiel- und musikalischer Freude, da auch die fünf Musiker in den eingängigen kammermusikalischen Arrangements ihres Dirigenten Ettore Prandi Spannung, Witz und Sensibilität beweisen. Das kleine Hamburger Haus hat wahrlich eine große Goldader gefunden!

Christoph Forsthoff

„I due Figaro“ („Figaros Hochzeit zweiter Teil“) (1835) // Melodramma buffo von Saverio Mercadante in einer Bearbeitung von Barbara Hass, musikalisch arrangiert von Ettore Prandi

Infos und Termine auf der Website des Allee Theaters – Hamburger Kammeroper

Cancan tanzen gegen den Kolonialismus

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2023)
Calixto Bieito liefert eine oftmals genialische „Aida“ – wäre nur nicht die Wokeness

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2023)
Calixto Bieito liefert eine oftmals genialische „Aida“ – wäre nur nicht die Wokeness

Keine „Aida“ mehr ohne Postkolonialismus, das scheint heute Allgemeingut der Opernregie zu sein. Man kann froh sein, wenn nicht Puppen die Rolle der äthiopischen Königstochter übernehmen wie zuletzt in Paris. An der Berliner Staatsoper sind die neuen Akzente weniger einschneidend: Eine schwarze Tänzerin steuert etwas Lokalkolorit bei, daneben wird die Kolonialgeschichte in Projektionen und stummen Handlungen gezeigt. So müssen kleine Kinder – ihre Hautfarbe muss man nicht zum Nennwert nehmen – während der Siegesfeier Frondienste leisten, wobei sie von einem Sklaventreiber in Clownsmaske mit Peitsche traktiert werden. Die Projektionen kreisen um koloniale Erinnerungen der populärsten Sorte, etwa eine Elefanten-Safari. Die Ägypter treten derweil unvermittelt als Ballgesellschaft aus dem 19. Jahrhundert auf. Sie tanzen wie berauscht, Cancan-artig zu den kolonialen Filmszenen – und natürlich zu Verdis musikalischer Siegesfeier.

Beide Elemente werden von Calixto Bieto gekonnt amalgamiert und ergeben so eine Botschaft, die irgendwie auch an das Publikum geht: Auch ihr habt an den kolonialen Untaten mitgewirkt und davon profitiert. Das führt dann vielleicht auch zu den Buhs gegen das Regieteam, das daneben eine handwerklich gute bis vorzügliche Arbeit geleistet hat, natürlich mit einigen Wacklern, etwa wenn Radamès noch im Duett mit Aida einige Äthiopier erschießen muss. Doch inhaltlich stimmt auch diese Idee gut ein auf die inneren Konflikte der Figuren zwischen den Kriegsfronten. Aber diese kleine Zumutung ist da gewesen, vielleicht eine zu viel, auch in sachlicher Hinsicht. Denn eigentlich hat „Aida“ zwar viel mit nationalen oder ethnischen Konflikten zu tun, aber eher wenig mit der europäisch-afrikanischen Kolonialgeschichte. Nicht einmal schwarz geschminkt waren die Aidas des 19. Jahrhunderts. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bieito gelingen zum Teil wahre Geniestreiche, sicher auch dank einer Amneris wie Elina Garanča, die nur aufzutreten braucht, um die Bühne zum Leben zu erwecken. Ohne Mühe verkörpert sie die einflussreiche Prinzessin, die stets mit sicherer Stimme das letzte Wort hat. Das gilt bekanntlich bis zum Schluss des Werks, an dem die Garanča dieses Mal durchaus dramengemäß einen zweifachen Todesengel spielen darf. Auf gleichem Niveau singt und spielt René Pape, der als Oberpriester Ramphis wie das Licht der Wahrheit durch die teils tumultuarische Handlung stolziert.

Nicola Luisotti führt die Staatskapelle Berlin elegant in gedeckten Farben, fast körperlos rein, temporeich und manchmal etwas trocken, nur ab und zu darf der Klang üppig und ausladend werden. Deutlich wird so seine eminente Kennerschaft bei der Gestaltung von musikalischer Vorbereitung und Steigerung über weite Strecken. Ein wenig mehr Schmelz und Evasion ins Ariose würde den Sängern und dem Publikum aber guttun.

Das Bühnenbild (Rebecca Ringst) ist ein fast bis zuletzt einheitlicher Saal in Lackweiß mit einigen Fächern und einziehbaren Ebenen, der abwechslungsreich, mit Lichtstimmungen von Silber über Glanzgold bis Gleißend-Weiß (noch so eine kleine Zumutung), bespielt wird. Genial, wie der religiöse Ptah-Chor als Waffenweihe und folglich als Gesang der ins Feld ziehenden Soldaten – samt Todessschauer in der Lebensfeier – aufgefasst ist.

Yusif Eyvazov bietet als Radamès von Beginn an eine Vielfalt an Klangcharakteren, vom kehligen Leidensmann – besonders im packenden Finalduett mit Amneris – bis zur himmelblauen Tenorhöhe, und artikuliert vor allem in den Ensembles einmalig klar. Marina Rebeka gibt ihr Rollendebüt und gestaltet eine Aida, die nicht ozeanisch zerfließt, sondern mit kompakt gerundetem Klang und Verve am Drama teilnimmt. Gabriele Viviani ist ein Amonasro aus dem Bilderbuch, mit dunkler Tinta und Tragfähigkeit. Er und die Aida sind nicht dunkel geschminkt, und das stört kein bisschen bei der Auffassung des Dramas.

Matthias Nikolaidis

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Unmögliche Liebe

Sevilla / Teatro de la Maestranza (September 2023)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit Fokus auf die Musik

Sevilla / Teatro de la Maestranza (September 2023)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit Fokus auf die Musik

Es kommt nicht allzu oft vor, dass man südlich von Madrid Wagner-Aufführungen erlebt, und dazu noch durchaus gute. Das traditionsreiche Teatro de la Maestranza in der andalusischen Hauptstadt Sevilla, eher für ihren phänomenalen Dom, den Stierkampf sowie eine nicht unbekannte Oper des Wagner-Verehrers Georges Bizet berühmt, hat in diesem Herbst dreimal „Tristan und Isolde“ angesetzt. Allex Aguilera zeichnet für Regie und Bühnenbild verantwortlich. Die Kostüme kommen von Jesús Ruiz, die Beleuchtung von Luis Perdiguero und die Videos von Arnaud Pottier. Das wohl Wichtigste aber ist, dass die mittlerweile (nicht nur) im Wagner-Fach bekannte Schwedin Elisabet Strid ihre erste Isolde singt. Ihr Partner ist der langjährige Tristan Stuart Skelton und der Dritte im Bunde Albert Pesendorfer als König Marke.

Mit der Inszenierung kann man eine Interpretation erleben, die aus Wagners Intentionen und der Musik heraus erarbeitet wurde, das zentrale Thema der im Leben unerfüllten Liebe zwischen Tristan und Isolde thematisiert und mit Bühnengeschehen und -optik intensiv assoziiert. Aguilera hat sein Regiekonzept mit ständigem Blick auf die Schönheit ausgerichtet und versucht, „diese unmögliche und unbefriedigte Liebe“, wie sie sich über das ganze Stück darstellt, zu portraitieren. Aus seiner – durchaus nachvollziehbaren – Sicht hat im „Tristan“ die Musik viel mehr Macht als das Wort, womit man sicherer in der Regie sein kann und weniger Gefahr läuft, sich in zweifelhafte Interpretationen zu verlieren. So könnte eine Gebrauchsanweisung gegen überzogenes Wagner’sches Regietheater lauten …

König Marke sieht Aguilera als direkten Grund für den Transformationsprozess, den das Liebepaar durchläuft. So legt sich im zweiten Aufzug eine überdimensionale Königskrone langsam, aber sicher aus dem Schnürboden auf Tristan und Isolde. Sie dokumentiert den ungeheuren höfischen Druck, der schließlich zur Katastrophe führt. Im ersten wie auch im dritten Aufzug ist bildbestimmend das Meer in schwarz-weißen Videos auf dem gesamten Bühnenhintergrund zu sehen. Die Intensität der Wellen hätte aber besser auf die jeweilige Stimmung abgestellt werden müssen. Zusätzlich baut der Regisseur noch Elemente des japanischen Butoh ein.

Elisabet Strid erringt mit ihrer erwartungsgemäß lyrisch interpretierten Isolde einen ganz großen Erfolg. Es gelingen ihr herrliche Piani, aber auch kraftvolle Linien in der Mittellage bei durchaus guten Spitzentönen und einnehmender Darstellung. Auch Stuart Skelton lässt als Tristan vornehmlich lyrische Töne bei sichtbar zum Ausdruck gebrachtem Leidensdruck hören – ein starkes Paar! Albert Pesendorfer lässt als Marke mit seinem kraftvollen Bass einmal ganz andere, sehr menschliche Noten anklingen, in einem ebenso lebhaften wie facettenrechen Vortrag. Markus Eiche ist ein sehr guter Kurwenal und Agnieszka Rehlis eine intensive Brangäne mit farbenreichem Mezzo. Der junge Ungar Henrik Nánási dirigiert mit viel Liebe zum Detail und hoher musikalischer Intensität das Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und den aus der Galerie singenden Coro Teatro de la Maestranza.

Dr. Klaus Billand

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

Spritzige Mixtur

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2023)
Rossinis „Il barbiere di Siviglia“ vereint Parodie und Gefühligkeit

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2023)
Rossinis „Il barbiere di Siviglia“ vereint Parodie und Gefühligkeit

Schauspieler Gregor Bloéb inszeniert erstmals am Salzburger Landestheater. Mit Gioachino Rossinis beliebtester und meistgespielter Komödie „Il barbiere di Siviglia“ gelingt ihm ein Opernabend spritziger und amüsanter Unterhaltung. Das junge, bewegliche Ensemble setzt die Komödiantik mit großer Spielfreude und viel Elan musikalisch und darstellerisch anschaulich um, zeigt sich witzig, virtuos und italienisch textfreundlich. Das teils parodierende, teils gefühlige Verwirrspiel um den Grafen Almaviva und seine diversen Versuche, die von ihm geliebte Rosina mit Hilfe seines Faktotums Figaro der Kontrolle ihres Vormunds Bartolo zu entziehen, hat bekanntlich Beaumarchais’ Figaro-Trilogie als Vorlage.

Die Handlung findet einzig in den Mienen, der Körpersprache, dem gesanglichen Ausdruck und in der gut gesungenen und verständlichen Textbehandlung des Ensembles statt. Dieses liefert ein überzeugend munteres Spielszenario. Dabei mischen auch Anklänge an die Commedia dell’arte mit weißen Gesichtsmasken, Halskrausen oder so mancher Harlekinade mit. Szenische Garnierung voller Gags und Ausstattungsvielfalt vermisst man nicht, die schlichten Fantasiekostüme passen ins Bild. Die Kulissen aus diversen ungeordneten Versatzstücken aus weißer durchscheinender Gaze mögen indes Rätsel aufgeben. Da gibt es bewegliche Quadrate, Drehtüren, Leitern und Stangen, auch ein angedeutetes Labyrinth, alles ohne sichtliche Anordnung oder Sinnfälligkeit, was aber nicht verstörend wirkt und die Darsteller davor sogar plastischer erscheinen lässt (Ausstattung: Laura Malmberg und Paul Sturminger).

George Humphreys findet im Figaro eine Glanzrolle, ist Drahtzieher und Mittelpunkt des Geschehens, witzig, wendig, gesanglich präsent und deutlich in der Aussprache. Eine ansprechende Leistung, die mit viel Applaus bedacht wird. Theodore Browne stattet den Grafen Almaviva mit hohem, hellem Tenor und klingenden Spitzentönen gut aus, sein Einsatz ist auch darstellerisch gefordert im Wechsel zwischen Parodie und Liebeswerben. Rosina findet in Mezzosopranistin Katie Coventry eine selbstbewusste, pfiffige junge Frau, die weiß, was sie will und auch gesanglich klingende Meriten aufzuweisen hat. Bartolo, Rosinas Vormund, ist Daniele Macciantelli, der eine bühnenpräsente Persönlichkeit mit warm klingendem Bass und darstellerischer Wendigkeit vorstellt. Auch Martin Summer als Basilio lässt seinen Bass in seiner Arie „La calunnia è un venticello“ mächtig rollen und grollen. Hazel McBain gibt die aufmüpfige Dienerin Berta mit strahlenden Sopranhöhen.

Am Pult des Mozarteumorchesters Salzburg feiert Dirigent Carlo Benedetto Cimento seinen Einstand als neuer 1. Kapellmeister und erweist sich als Glücksfall. Unter seiner Leitung wird Rossinis Musik in allen Facetten zum vielfarbigen Klingen gebracht. Rasche Tempi in vielen unterschiedlichen Schattierungen und dynamischer Vielfalt machen Rossinis Motorik zum überzeugenden Klangereignis. Der Dirigent weiß auch Zäsuren zu setzen und den Sängern einen feingewebten lyrischen Klangteppich zu bereiten. Am Ende große Begeisterung für einen unterhaltsamen und fabelhaft musizierten Opernabend.

Elisabeth Aumiller

„Il barbiere di Siviglia“ („Der Barbier von Sevilla“) (1816) // Melodramma buffo von Gioachino Rossini

Infos und Termine auf der Website des Salzburger Landestheaters

Kein Krieg ist romantisch …

Paris / Opéra national de Paris (September 2023)
Wagners „Lohengrin“ als beklemmendes Antikriegsstück

Paris / Opéra national de Paris (September 2023)
Wagners „Lohengrin“ als beklemmendes Antikriegsstück

Nach dem Wiener „Parsifal“ ist jetzt auch sein „Lohengrin“ in Paris ein Volltreffer: Kirill Serebrennikov hat sich quasi aus dem Stand in der Spitzenriege der gefragten Opernregisseure im Westen etabliert. In Paris erzählt er mit sehr genauer Personenführung die bekannte, märchenhafte Geschichte konsequent aus der Sicht von Elsa und im Lichte der Folgen, die euphorisch bejubelte Kriegszüge an Wunden und Tod für die kämpfende Truppe und an Trauer und Verlust-Traumata für die Zurückgebliebenen mit sich bringen. Mit einem Vorspiel-Video, das an den Abschied Elsas von ihrem blutjungen, in den Krieg ziehenden Bruder erinnert. Das erklärt, was sie um den Verstand gebracht hat. Flankiert von zwei Bühnen-Doubles hat sie sich in eine eigene Wirklichkeit voll surrealer Versatzstücke geflüchtet, was von ihrer Umgebung als Wahnsinn wahrgenommen und entsprechend (von Telramund und Ortrud) „behandelt“ wird. Der von Elsa imaginierte Lohengrin selbst kommt dann zwar ganz real als Soldat in Tarnfleckuniform, ähnelt in seinem Habitus aber Elsas Bruder.

Im zweiten Aufzug enthüllt die Bühne auf einen Blick die Logik des Krieges. Links erwarten aufbruchbereite Soldaten in Kampfuniformen ihre Frauen zum Abschied. Die königliche Kriegspropaganda zeigt Wirkung. Die wenigen Stimmen der Vernunft, die nach dem Zweck des Ganzen fragen, werden niedergebrüllt. Das zentrale Segment der Bühne ist ein Lazarett mit Verwundeten, Verstümmelten und Sterbenden, die von ihren besorgten Frauen besucht werden und bei denen sich auch der König blicken lässt, um medienwirksam Orden zu verteilen oder den Heldenmüttern zu kondolieren. Gleich daneben stapeln sich die Leichensäcke, weil die Kühlfächer längst überfüllt sind. Elsas Hochzeit ist ein Albtraum. Im dritten Aufzug lassen sich viele Paare fotografieren, die kurz vor dem bevorstehenden Sterben an der Front noch schnell heiraten. Am Ende kehrt Elsas Bruder (aus dem Vorspiel-Video) nicht zurück, sondern ein mit Wunden übersäter junger Mann entsteigt einem Leichensack. Kein „Führer“ oder wie es hier heißt „Schützer“ von Brabant, höchstens eine leibhaftige Mahnung! So eindringlich heutig, allgemeingültig, mit so viel Empathie für die Opfer und obendrein so konsequent aus der Perspektive Elsas wie bei Serebrennikov hat man das noch nie gesehen.

Dazu die musikalische Pracht-Entfaltung: Piotr Beczała und Johanni van Oostrum als vokales Traumpaar Lohengrin und Elsa. Nina Stemmes Ortrud und Wolfgang Kochs Telramund als Gegenspieler. Tareq Nazmi als König mit Shenyang als Heerrufer. Auch der fabelhafte Chor und das Orchester der Opéra national de Paris unter Alexander Soddy lassen keine Wünsche offen. Jubel für die Protagonisten, der beim Regieteam (Wagner-üblich) mit ein paar wenigen, kräftigen Buhs gewürzt ist.

Roberto Becker

„Lohengrin“ (1850) // Romantische Oper von Richard Wagner

Out of the box

Wien / Musiktheatertage Wien (September 2023)
„Pandora“: „Cyber-Reanimation“ eines barocken Operntorsos

Wien / Musiktheatertage Wien (September 2023)
„Pandora“: „Cyber-Reanimation“ eines barocken Operntorsos

Jenseits der Tempel der klassischen Musik haben sich die Musiktheatertage Wien als kleines, aber hochengagiertes Festival etabliert. Thomas Cornelius Desi und Georg Steker sind als künstlerische Leiter Jahr um Jahr bemüht, ein möglichst abwechslungsreiches Programm auf die Beine zu stellen. Das Ziel: ausgetretene Pfade zu verlassen, möglichst viele Musikstile zu vereinen, neue Medien, Technologien und Formate zu integrieren, junge Künstlerinnen und Künstler zu fördern und Kompositionsaufträge zu vergeben.

Das Auftaktstück des diesjährigen Festivals „Heiliger Zorn/detuned“ aus der Feder von Komponist und Regisseur Thomas Cornelius Desi in der Wiener Hofburgkapelle verursacht in den Köpfen der Zuschauer allerdings eher Verwirrung als Entzückung. Das Thema rund um den historischen Konflikt zwischen dem zornigen König Henry II Plantagenet und seinem gelassenen Kanzler Thomas Becket zündet nicht. Die Idee, den Jugendchor aus Schülerinnen und Schülern des AkG Beethovenplatz in das Stück miteinzubeziehen, ist lobenswert. Allerdings rufen die Tableaus, zu denen sich die Jugendlichen mit Hilfe altmodischer Requisiten formieren müssen, nur bei anwesenden Familienangehörigen wohlwollende Begeisterung hervor.

Ganz anders präsentiert sich die Uraufführung der frisch komponierten Oper von Matthias Kranebitter, „Pandora“. Bekanntlich verheißt es nichts Gutes, die Büchse der von Hephaistos aus Lehm geschaffenen Frau zu öffnen. Hier erwächst daraus Kreatives, ein finessenreicher Mix aus Performance, exzellentem Gesang, großer Darstellungskunst, noch größerem Durchhaltevermögen der Künstlerinnen und Künstler, einem spannenden Bühnenbild und abwechslungsreicher Musik. Der 1980 geborene Wiener Komponist sammelte Erfahrungen in zahlreichen Musikstilen, mit diversen Orchestern und Klangformationen, die sich mit der sogenannten modernen Musik auseinandersetzen.

Diesmal belebt er den barocken Operntorso „Pandora“ nach verschollener Musik von Joseph-Niclas-Pancrace Royer und Worten von Voltaire wieder. Da dreht sich alles um Freiheit, Revolution, Guillotinen und Cembali. Als Zuseher braucht man schon Zeit, um sich zwischen den großen weißen Boxen, den in grau-weiße stilisierte Krinolinen verpackten Sängern zu orientieren, die Erweckung der Pandora zu identifizieren und die Folgen der Öffnung der berühmten Büchse zu verstehen. Aber alles kommt sehr witzig daher, die Musik ist gefällig, sie dekonstruiert gekonnt barockes Notenmaterial in das 21. Jahrhundert, alles passend zum sanft bröckelnden Ambiente des Odeon Theaters.

Regisseur Michael Höppner beweist Humor mit der Installation eines Roboterarms statt eines Dirigenten, Vinicius Katta darf nach wenigen Minuten allerdings das Black Page Orchestra persönlich leiten. Szenograf Christopher Sturmer greift tief in Farbtiegel und Lehmkübel, um die Sänger zu Kunstobjekten zu verpacken. Georg Bochow (Countertenor), Heike Porstein (Sopran) und Andreas Jankowitsch (Bariton) sind nicht nur für ihre ausgezeichneten sängerischen Leistungen lobend zu erwähnen, sondern auch für die große Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre Figuren im besten Licht erscheinen lassen. Vielleicht nicht der größte Abend, den man als Zuschauer erleben kann, aber ein sehr interessanter.

Susanne Dressler

„Pandora“ (2023) // Eine Cyber-Reanimation des barocken Operntorsos von Royer und Voltaire durch Matthias Kranebitter

Er kann es nicht lassen …

Strasbourg / Opéra national du Rhin (September 2023)
Der dänische Komponist Simon Steen-Andersen folgt Don Giovanni in die Unterwelt

Strasbourg / Opéra national du Rhin (September 2023)
Der dänische Komponist Simon Steen-Andersen folgt Don Giovanni in die Unterwelt

Er kann es nicht lassen. Selbst in der Unterwelt nicht. Don Giovanni bleibt auch da das Musterexemplar der Sorte Männer, die vor allem ihren „Erfolg“ bei Frauen auf der Agenda haben. Ganz so, wie man ihn während seines letzten Erdentages bei Mozart erlebt. So jedenfalls führt ihn der dänische Komponist Simon Steen-Andersen in seiner – tja, was eigentlich? komponierten? arrangierten? collagierten? – sagen wir kreierten Reise in die Unterwelt vor. Und in das Innenleben eines Opernhauses, denn parallel dazu geht es auch um die Erfahrungen des Interpreten mit den diversen Rollen der eher dunkleren Provenienz.

Und da hat die Operngeschichte (seit des noch moralisch akzeptablen Ausflugs von Sänger Orpheus dorthin) einiges zu bieten. Musikalisch hat sich Steen-Andersen nicht auf eine eigene Höllenmusik eingelassen. Er nimmt das, was es schon gibt, und kombiniert in schnellen Schnitten Einschlägiges. Was Leporello auf Erden für Giovanni war, wird drunten ein Polystophélès, dessen Namen nicht nur nach Mephistophélès klingt, sondern der auch etliches von dessen und seiner teuflischen Kollegen Charakterzügen hat. Er ist Reiseführer für den in der ersten Szene eindrucksvoll in der Versenkung der Bühne und zugleich in die Unterwelt Gestürzten (die Tafel, zu der der Komtur geladen war und kam, entschwindet gen Schnürboden). Hier begegnet er allen, die ebenfalls dort unten gelandet sind oder es hätten müssen. Ob sie nun Faust, Jago, Macbeth, Fliegender Holländer oder Turandot heißen. Andere wie Charon oder Pluto sind hier eh angestellt. Das gesamte rund vierzig Köpfe zählende Panoptikum hat durchweg mehr oder weniger triftige Beziehungen zur Unterwelt.

Für seine etwa zweistündige, in flottem Szenenwechsel absolvierte Reise entfesselt der Komponist einen musikalischen Hexenkessel, für den er sich bei allem bedient, was dafür relevant ist. So kommen Monteverdi und Gluck, Rameau, Berlioz, Gounod und Boito, Verdi, Puccini, Wagner und selbstverständlich auch die Namenspaten seiner Oper Mozart und Offenbach musikalisch vor.

Für versierte Operngänger ist das ein Déjà-vu-Spaß von Rang, eine Novität mit erheblichem Vergnügungspotenzial. Höhepunkt der Strafaktion ist übrigens ein Nacktauftritt Giovannis vor Publikum. Selbst den absolviert Bariton Christophe Gay mit spielerischem Charme. Damien Pass ist als souveräner Tenor der Polystophélès. Die übrigen Rollen teilen sich Geoffroy Buffière, François Rougier, Sandrine Buendia und Julia Deit-Ferrand. Bassem Akiki sorgt im Graben dafür, dass sich niemand in der Unterwelt verirrt und die Musiker des Orchestre philharmonique de Strasbourg und das sie ergänzende Ictus-Ensemble das angemessene Reisetempo beibehalten. Durch die Unterwelt. Und die Geschichte der Oper.

Roberto Becker

„Don Giovanni aux enfers“ („Don Giovanni in der Unterwelt“) (2023) // Lyrische Reise in die Unterwelt von Simon Steen-Andersen

Infos und Termine beim Koproduktionspartner Royal Danish Opera

Verheißung, groß wie Walhall

London / Royal Opera House (September 2023)
Antonio Pappano und Barrie Kosky beginnen einen neuen „Ring“

London / Royal Opera House (September 2023)
Antonio Pappano und Barrie Kosky beginnen einen neuen „Ring“

Die Weltesche hat mindestens einen Weltenbrand schon hinter sich, wenn das mythische, 136 Takte dauernde „Es“ zum Vorspiel des „Rheingold“ anhebt. Ihr Skelett ragt in den Bühnenhimmel, die Rheintöchter trällern darauf arglos ihr „Wagala Weia“ über weia wag, den Heiligen Fluss. Die Urmutter Erda beobachtet sie dabei, ist überhaupt über die gesamten zweieinhalb Stunden auf der Bühne. Sie sieht zu, leidet, wird in Nibelheims Goldgewinnungs-Anlage des Zwerges Alberich fürchterlich gequält und ruft – natürlich – gegen Ende den Göttervater Wotan zur Vernunft, als er den verfluchten Ring nicht hergeben will. Doch der Reihe nach.

In seiner letzten Spielzeit als Chefdirigent und Spiritus Rector des Royal Opera House in Covent Garden hat Antonio Pappano eine Neuproduktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ begonnen, dessen drei weitere Teile ihn in den kommenden Jahren immer wieder zurückbringen werden nach London. Als Regisseur für das Unterfangen hat er Barrie Kosky angeheuert, den aktuellen Superstar der Musiktheaterregie. Aus seinem ersten „Ring“ in Hannover, den Kosky rückblickend kritisch sieht, hat der die uralte, nackte Erda übernommen. Sonst ist alles neu an diesem „Rheingold“, und, man kann es nicht anders sagen: Es ist fantastisch, überwältigend, schlüssig, gewitzt, intelligent, bildmächtig, unübertrefflich.

Wie verwandelt Alberich sich qua Tarnhelm in einen Drachen und in eine Kröte? Wie wird er gefangen genommen von Wotan, der ihm, dem Dieb des Rheingoldes, ja nur seinerseits stiehlt, was ihm nicht gehört, nämlich den Ring? Derlei Bilder-Aufgaben im „Rheingold“ wirken oft peinlich oder bemüht – hier ist das alles logisch, bisweilen erscheint es zwingend richtig so. Die erwähnte verkohlte Weltesche ist auch Schauplatz der weiteren drei Bilder des Stückes (Bühne: Rufus Didwiszus). Lavahaft fließt aus einem Astloch das Gold, wird im Nibelheim-Bild mit Hilfe einer kalten Maschine und der an Schläuche angeschlossenen Erda aus ihr mit blanker Gewalt herausgezwungen.

Die Figur der Erda berührt, doch das gilt ausnahmslos für alle auf der Bühne. Sie seien, so steht es im Programmheft, nach ihren sängerischen ebenso wie nach ihren darstellerischen Fähigkeiten ausgewählt worden, und das ist in jeder Sekunde zu sehen und zu spüren (und das nicht nur, weil man jedes Wort versteht). Christopher Maltman (Wotan) strahlt stimmlich und szenisch Autorität aus, fehlbar, gütig und mit verkohltem Speer. Christopher Purves’ Alberich glaubt man schon nach der ersten Szene, dass die deftige Demütigung durch die drei Rheintöchter (brillant: Katharina Konradi, Niamh O’Sullivan, Marvic Monreal) ihn zum Tyrannen machen wird. Sean Panikkar (Loge) platzt auch stimmlich vor Spielfreude. Marina Prudenskayas Fricka ist so kapriziös wie liebend – man ahnt bereits hier, dass sie die großen Ehekräche wie den in der „Walküre“ im nächsten Jahr gewinnen wird. Und auf Brenton Ryans größere Mime-Partie im „Siegfried“ darf man sich auch jetzt schon freuen.

Pappano spornt das Orchester des Royal Opera House zu einer dort nicht immer hörbaren Perfektion und Transparenz an. Er verzichtet dabei auf jedes romantisierende Fett, der Klang aus dem Graben ist sprechend, sehnig, ausbalanciert – das ist internationale Klasse. Folgerichtig bekommen die Musikerinnen und Musiker beim Schlussapplaus auf der Bühne einen großen, verdienten Teil der Ovationen ab. Antonio Pappano und Barrie Kosky haben mit diesem „Rheingold“ nicht weniger in die Welt gesetzt als die Verheißung, hier den Referenz-Ring der Gegenwart zu schmieden.

Stephan Knies

„Das Rheingold“ (1869) // Vorabend zum Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Royal Opera House