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Rezensionen

Sprühende Klanglust

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

„Auch die Pause gehört zur Musik“, zitiert Intendant Thomas Enzinger Stefan Zweig. „Es sind die kurzen kraftvollen Momente des Innehaltens, die Kraft verleihen, und gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen ist es umso bedeutender, Geist und Seele Atem holen zu lassen. So wie das Lehár Festival eine Pause für die Seele ist.“ Für solches Abschalten vom Alltäglichen erweist sich die Premiere von „Madame Pompadour“ zum 150. Geburtstag von Leo Fall als gutes Rezept. Franz Lehár hatte einst auf die Frage, ob er einen Konkurrenten habe, geantwortet: „Ja, das ist der Fall.“

Enzinger inszeniert einen heiteren Bühnenspaß voller Temperament, wirbelndem Tanzvergnügen, Amüsement und gewitzter Komik, gespickt mit parodierenden Elementen. Die Geschichte dreht sich um die historische Madame Pompadour, Mätresse des französischen Königs Ludwig XV. Es ist Fasching in Paris, wo die selbstbewusste Marquise de Pompadour dem Hofleben entflieht, indem sie sich unerkannt unters Volk mischt. Im „Musenstall“, einer gewöhnlichen Spelunke, trifft sie auf Graf René und dessen Freund, den Dichter Joseph Calicot, der ein Spottlied auf die Mätresse des Königs verfasst hat. Diesen beiden Schwerenötern verdrehen die Marquise und ihre Kammerzofe Belotte gewitzt den Kopf.

Fall schrieb die Partie der Pompadour für die damalige Diva Fritzi Massary: „Durch den Rokoko-Schleier erzählt die Geschichte von einer selbstbewußten Frau der Zwanziger Jahre.“ Erik Charell schuf später eine Umarbeitung zur Revue. Die Ischler Premiere bietet auf musikalischer Seite eine neu arrangierte Fassung als Revue-Operette von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Dirigent Christoph Huber. Es wurden Saxophon, Banjo, Sousaphon und Jazz-Schlagzeug hinzugefügt und die Blechbläser mit zeitgenössischen Jazz-Dämpfern versehen. Das Ergebnis: sprühende Klanglust, von den Tänzern flott beweglich umgesetzt (Choreografie: Evamaria Mayer), dazu in passender Ästhetik das szenische Ambiente (Sabine Lindner) und die historisch stilisierten Kostüme (Sven Bindseil).

Geschickt verblendet der Regisseur komödiantischen Witz mit Parodie und Kabarett-Einschüben, lässt unterschwellig aktuelle Bezüge in die Dialoge einfließen und bringt die Mischfarben zu einer gelungenen Einheit. Als distinguierter Haushofmeister ist Enzinger selbst mit von der Partie. Die Marquise de Pompadour findet in Julia Koci eine ideale Verkörperung. Die Sopranistin agiert mit Eleganz und selbstbewusster Präsenz und singt mit wohllautender, gut geführter Stimme. Die bekannten Couplets „Heut’ könnt’ einer sein Glück bei mir machen“ oder „Ich bin dein Untertan“ macht sie zu gesanglichen Höhepunkten. Im Duett „Joseph, ach Joseph, was bist du so keusch?“ werden sie und Kaj-Louis Lucke (Dichter Calicot) gemeinsam in der Badewanne zu heftig beklatschten Publikumslieblingen. Maximilian Mayer ist mit ansprechendem Tenor der glühende Verehrer der Marquise, Loes Cools agiert und singt mit Witz als Kammerzofe Belotte. König Ludwig (Claudiu Sola) favorisiert eine kesse Sohle aus Stepptanz-Elementen, während Alfred Rauchs Polizeiminister Maurepas immer und überall „schläuer“ ist. Christoph Huber am Pult bringt das Franz Lehár-Orchester mit zündendem Elan zum Klingen.

Elisabeth Aumiller

„Madame Pompadour“ (1922/2023) // Operette von Leo Fall in einer jazzigen Revue-Fassung für großes Orchester von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Christoph Huber

Im Abgrund versunken

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Im Grand Théâtre de Provence gibt es den Abgrund, in den Wozzeck bei Georg Büchner und in Alban Bergs Oper blickt, diesmal sogar ganz wortwörtlich. Der von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängte, gehetzte und geschundene Mann versinkt tatsächlich: im Bühnenambiente von Miriam Buether, ganz langsam und genau zu den von Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In Simon McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, streckt Wozzeck bei seinem Untergang noch in stummer Verzweiflung die Hände nach seinem Sohn aus. Der bleibt ganz stumm und allein zurück, mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Rücken. Das vorher schon immer mit dem Vater mitlaufende kindliche Alter Ego des Hauptmanns bedrängt ihn zu den „Hopp, hopp!“-Tönen. Genauso, wie es zuvor dessen weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, immer wieder getan hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist damit nicht nur auf den Punkt gebracht, sie geht auch wie selten zu Herzen.

Drei Wände begrenzen die leere Spielfläche und werden reichlich, aber wohldosiert für atmosphärische Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzt. Sie bilden das metaphorische Gefängnis, in dem sich nicht nur Wozzeck, gehetzt wie in einem Hamsterrad, abstrampelt. Maries Behausung (im Plattenbau) wird nur durch eine Tür angedeutet.

Dass dieser Wozzeck den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen bewusst wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur ein Ausnahme-Interpret wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem „Trotz allem!“ auszustatten. Aber auch die vokal leuchtende Malin Byström (Marie), Thomas Blondelle (als machohafter Tambourmajor), Brindley Sherratt (der schrullige Doktor), Robert Lewis (als einziger Freund Andres) sowie Héloïse Mas (eine exquisite Margret) machen aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zu intensivem Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und die „Actors“-Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne. Einhelliger, wohlverdienter Jubel für eine festspielwürdige Produktion.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

kostenfreier Stream bis 12. Juli 2024 auf ARTE Concert

Lebenskunst in Krisenzeiten

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Im idyllisch in der Rudolstädter Gegend gelegenen Liebhabertheater, gegründet von Carl von Stein, dem Sohn von Goethes Freundin Charlotte, findet alljährlich ein Sommerfestival am authentischen Ort historischer Aufführungspraxis statt: gehörig zu Schloss Kochberg, umgeben von einem schönen Landschaftspark und in ländlicher Umgebung verortet. In diesem Jahr steht das Festival unter dem Thema „Lebenskunst“. Um Lebenskunst geht es auch im Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“, in einer thematischen Verbindung bis zur Gegenwart, kreisend um das Leben im Krieg, in Krisen und Klimakatastrophen. Es ist eine Koproduktion des Liebhabertheaters Schloss Kochberg und der lautten compagney Berlin, produziert von Silke Gablenz-Kolakovic, der Ur-ur-ur-Enkelin Carl von Steins.

Die Handlung, geschrieben von Regisseur Nils Niemann, Spezialist für szenische Aufführungspraxis und barockes wie klassisches Theater, besteht aus Briefen und den Lebenserinnerungen des Theatergründers Carl von Stein (1765-1837), der auch selber auf der Bühne durch sein Leben und seine Zeit führt. Schauspieler Harald Arnold, der auch schon als Sänger in Erscheinung getreten ist, interpretiert diese Partie hervorragend in Sprechweise, mimischem Ausdruck und schauspielerischer Aktion bis hin zu kleinen Gesangseinlagen. Der wahre Carl von Stein war es auch, der das seiner Familie gehörende Rittergut von 1796 bis 1830 in einen Musenhof verwandelte. Aber auch auf sein Leben hatten Krisen, der Napoleonische Krieg und Missernten wie Hungersnöte, aber auch die eigene Verschuldung Einfluss. Über diese von außen auf Carl von Stein einwirkenden Gegebenheiten wird der Faden in die Gegenwart gespannt.

Darum ranken sich wie Blumen die 22 einzelnen, passend zum Handlungsverlauf arrangierten und oftmals zu Unrecht unbekannten Arien, Duette und instrumentalen Musikstücke der barocken, klassischen und romantischen Komponisten. Es erklingen, neben Instrumentalstücken, Ausschnitte aus den Singspielen „Der Dorfjahrmarkt“ von Benda, „Die Dorfdeputierten“ und „Der Abend im Walde“ von Wolf, „Das Jahrmarktsfest von Plundersweilern“ von Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, „Der Aerndtekranz“ von Hiller, „Die beiden Pädagogen“ von Mendelssohn-Bartholdy, aber auch aus Galuppis komischer Oper „L’Arcadia in Brenta“, Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, der Kantate „Die Landlust“ von Telemann sowie einige Kunstlieder von Benda, Eberwein, Methfessel und Carl Maria von Weber.

Mit leuchtendem, hellem Sopran, deutlicher Diktion und zeitgemäßem Spiel interpretiert Anne Schneider die Frauenpartien, während Christopher B. Fischer herausragend wortdeutlich, mit mimischer Finesse und brillantem Tenor die Männerpartien verkörpert. Die Inszenierung setzt sich aus historischen Gesten, schauspielerischen Aktionen und Interaktionen der drei Protagonisten zusammen. Die in historisch zeitgemäßen Kostümen ausstaffierten Darstellenden (Kostüme: André Markov) müssen mit der Hitze kämpfen. Vielleicht hätten etwas leichtere Stoffe dem zumindest etwas Abhilfe schaffen können. Ein Bühnenbild ist nicht vorhanden, dafür aber viele zeittypische Requisiten. Es spielen ausdrucksstark und differenziert von der Balustrade herab acht Mitglieder der bekannten lautten compagney Berlin, in der Musikdramaturgie von Wolfgang Katschner, musikalisch geleitet von Birgit Schnurpfeil. Das Publikum applaudiert sehr angetan.

Dr. Claudia Behn

„Auf der Suche nach der besten Welt – ein Opern-Pasticcio über Musen, Acker und Bankrott“ (2023)

Infos und Termine auf der Website des Liebhabertheaters Schloss Kochberg

Eine Pyramide aus Licht

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Giuseppe Verdis „Aida“ ist ja ein Kammerspiel extremer Gefühle, mit fünf Duetten und drei Arien, denen gerade mal zwei große Chorszenen gegenüberstehen. Doch der Anlass der Komposition (ein Auftrag zur Eröffnung des Suezkanals 1871) und nicht zuletzt auch die opulenten Inszenierungen machen das Werk genauso zum Massenspektakel – Paradebeispiel dafür sind die bald 750 (!) Aufführungen im antiken Riesenoval der Arena di Verona, dreimal mehr als irgendeine andere Oper dort erlebt hat. Idiomatisch sind die Pyramiden, Palmblätter und Sphinxen, nicht erst in der seit 2002 tonangebenden Deutung von Regie-Altmeister Franco Zeffirelli (der übrigens, passend zur aktuellen 100. Ausgabe der Festspiele, im Februar seinerseits 100 Jahre alt geworden wäre).

Keine leichte Aufgabe also für Stefano Poda, den Opern-Ästheten, der wie immer neben der Regie auch Bühne, Kostüme, Choreografie und Licht gestaltet hat. Er will beides nicht, nicht die feine psychologische Ausdeutung und erst recht nicht den Orientkitsch. Sein Anliegen, so lesen wir im Programmbuch, ist es, „in einer von Gegenständlichkeit und Realismus beherrschten Welt […] Raum für die Seele und Träume zu schaffen“, jede(r) solle die eigenen „meditativen Fähigkeiten wecken“ können. Das schafft er zweifellos: Jeder Augenblick der dreieinhalb Stunden könnte als Feng-Shui-Wandposter herhalten, in leuchtender, weiß-schwarz-roter Stefano-Poda-Optik, mit Lichtpyramide, Silberkostümen und einer riesigen schiefen Plexiglas-Ebene als Hauptelement.

Jedoch – die Bühne als Spielraum für Theater hat ja eine Funktion, es ist nicht egal, wo und wie die Figuren sich darin bewegen, wo sie stehen, wo auf- und abgehen. Und hier geht Poda das Stück verloren. Wenn der Äthiopierkönig Amonasro seine Tochter Aida bestürmt, von ihrem Liebsten Radamès die Route des ägyptischen Heeres zu erfragen, wälzen sich unzählige halbnackte Zombies in „Edle Wilde“-Optik (das sind seine toten Soldaten) dekorativ am Boden; sie (als Sklavin!) schreitet aus irgendwelchen Gründen royal durch ein Lichtstab-Spalier einer halben Hundertschaft Statisten; in den oberen Arena-Rängen turnen immer wieder schwarz oder weiß gewandete Tänzer, wer wer sein soll, geht meist unter im Gewühl. Sehr, sehr schön sieht das aus und dabei oft sehr, sehr beliebig.

Und so hat diese „Aida“ ihre stärksten Momente, wenn keine hübsch mäandernden Massen stören: Die beiden Duette von Aida und Radamès, besonders auch das der Pharaonentochter Amneris mit dem Heerführer – das geht ans Herz. Die Rollen hat Sängerin-Intendantin Cecilia Gasdia perfekt gecastet (mit jeweils bis zu sechs Besetzungen über den „Aida“-Sommer). In der besuchten Vorstellung tönen Abramo Rosalen (König), Roman Burdenko (Amonasro) und Alexander Vinogradov (Ramfis) wuchtig und bestens verständlich, Angelo Villari (Radamès) stellt sich seiner Aufgabe zunehmend tenorstrahlend und spielfreudig, Monica Conesa füllt die Titelrolle nie forcierend, mit warmem Kern, starken Ausbrüchen und berührenden Piani. Meisterhaft gebietet schließlich Olesya Petrova über die riesige Tessitura der Amneris, mit dunkler Tiefe und flackernder Höhe, dringlich, emotional – und mit schlicht erstaunlichen Stimmreserven. Dirigent Marco Armiliato hat das Gewoge im weiten Rund ausladend-präzise im Griff, jedenfalls meistens.

Ob eine Verdis Oper nur als Folie benutzende, humanistisch-ästhetische Vision dem Arena-Publikum gewichtig genug ist, die über Jahrzehnte liebgewonnenen Palmwedel dauerhaft abzulösen? Das werden die kommenden Jahre zeigen.

Stephan Knies

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Arena di Verona

Ein Tanz mit Marylou

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Mit Paul Abrahams „Ball im Savoy“ begann Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin seine wundersame Entdeckungsreise in die Gefilde der Unterhaltungskultur um 1930. Sie leitete eine nachhaltige Rehabilitation dieses im Dritten Reich verfolgten, im amerikanischen Exil psychisch unheilbar erkrankten jüdischen Komponisten ein: Nicht nur „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und eben „Ball im Savoy“, seine drei damals besonders populären Operetten, schmücken regelmäßig die Spielpläne deutschsprachiger Bühnen, auch das 1934 in Wien uraufgeführte musikalische Lustspiel „Märchen im Grand-Hotel“. Im Staatstheater Cottbus sorgt es jetzt in einer aus Nürnberg übernommenen, teilweise überarbeiteten Produktion für den umjubelten Saisonausklang – in der Regie von Otto Pichler, der als Choreograf in Koskys Stammteam wesentlich zum Erfolg der Operetten-Revivals beitrug.

Das Stück beginnt in Hollywood, wo Filmproduzent Sam Makintosh nach einer neuen Story mit Happy End sucht. Daher reist Tochter Marylou in ein mondänes Grand-Hotel an der Côte d’Azur, in dem die von Geldsorgen geplagte spanische Prinzessin Isabella mit ihrer Entourage residiert. Als sich Albert, der als Kellner arbeitende Sohn des Hotelbesitzers, unstandesgemäß in sie verliebt, sind turbulente Verwicklungen vorprogrammiert. Im Finale finden Adel und neureiches Bürgertum zueinander und Marylou hat ihren Plot.

In Jan Freeses Bühnenbild trifft amerikanische Filmwelt auf europäische Historie. Ein im Hintergrund thronender Riesenaffe symbolisiert Hollywood – „King Kong“, der legendäre Horrorschinken von 1933, lässt grüßen –, während im Hotelsaal Fragonards Rokokogemälde „Die Schaukel“ auf die kommenden amourösen Wirrungen einstimmt. Otto Pichler lässt die Geschichte mit überbordender Vitalität ablaufen und nutzt jede Gelegenheit für effektvolle Revue-Einlagen, die, ob Burlesque-Show oder energetische Steppnummer, eine Steilvorlage für das Cottbusser Ballett sind. Albert alias Jörn-Felix Alt, in jeder Geste ein Romantiker, macht der Infantin auf so treuherzig-unbeholfene Weise den Hof, dass ihm alle Sympathien zufließen. Anna Martha Schuitemaker bietet vokale Noblesse und überspielt Isabellas Gefühlschaos mit hochmütigem Glamour. Hardy Brachmann, Heiko Walter, Andreas Jäpel und Jens Janke erweisen sich als Komiker ersten Ranges, übertroffen noch von Gesine Forberger. Die Sopranistin, sonst oft im dramatischen Fach eingesetzt, demonstriert als Hofdame, dass sie auch kabarettistische, erotisch unterfütterte Vortragskunst mit pointierter Sprachkultur beherrscht. Bleibt Marylou. Maria-Danaé Bansen scheint direkt vom Broadway eingeflogen zu sein. Wie ein Wirbelwind fegt sie über die Bühne, singt und tanzt mit grenzenloser Energie, sodass jeder ihrer Auftritte zum Showstopper gerät. Das Philharmonische Orchester des Staatstheaters unter Leitung von Johannes Zurl bringt Abrahams unwiderstehliche Melange aus europäischem Operettenschmelz und swingendem Jazz locker und fetzig über die Rampe. Kurzum: Cottbus hat seine Operetten-Attraktion.

Karin Coper

„Märchen im Grand-Hotel“ (1934) // Lustspiel-Operette von Paul Abraham

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Cottbus

Brünstiges Begehren und Gewalt

Halfing / Immling Festival (Juni 2023)
Richard Strauss’ Musikdrama „Salome“ aus psychoanalytischer Perspektive

Halfing / Immling Festival (Juni 2023)
Richard Strauss’ Musikdrama „Salome“ aus psychoanalytischer Perspektive

Mit einem Paukenschlag eröffnet das Immling Festival die Saison. Intendant und Gründer Ludwig Baumann setzt Richard Strauss’ „Salome“ aufs Programm – eine zweifache Premiere. Denn das Musikdrama gab es noch nie in Immling zu sehen. Von einer solchen Dimension habe er bisher nur geträumt, erklärt Baumann zur Begrüßung vor ausverkauftem Haus.

Mit seiner Inszenierung lenkt er den Blick zurück in die Entstehungszeit der Oper. Aber er lässt sich nicht von der Begeisterung für Exotik, dem Jugendstil oder der Dekadenz des Fin de Siècle leiten, sondern greift Sigmund Freud und seine Erkenntnisse zum Unterbewusstsein auf. Fasziniert von den „extremen“ Charakteren, betrachtet er das Musikdrama, wie er im Programmheft betont, aus „psychoanalytischer Perspektive“. Zur Frage, ob plötzliche Laune oder existenzieller Zwang Salomes Verhalten und ihren Wunsch nach Jochanaans Kopf bestimmt, bezieht er mit seiner Regiearbeit eindeutig Stellung.

Die gesamte Bühne zeigt Baumann als Gefängnis. Düsternis bestimmt sie. Wie die an die Expressivität der Stummfilme erinnernden Projektionen (Linua Land und Mariella Weiss) ist bis zu den Kostümen (Camilla Wittig) alles in Schwarz-Weiß gehalten. Überall befinden sich Kameras. Nicht nur Jochanaan ist ein Gefangener – alle Figuren des Dramas sind es. Herodias ist verstrickt in ihre Schuld an doppeltem Ehebruch. Herodes wird getrieben von seiner Begierde, seinem Machthunger und seinen Schuldgefühlen. Die Prophezeiung Jochanaans, nach ihm werde einer kommen, der stärker sei als er, beängstigt ihn zutiefst. Er fühlt das Unheil kommen und sieht in allen Erscheinungen drohende Zeichen. Salome wird heimgesucht von ihrem Kindheitstrauma. Ähnlich wie Cyril Teste an der Wiener Staatsoper begreift Baumann Salome als ein in seiner Kindheit missbrauchtes heranwachsendes Mädchen. Diese Deutung zieht er stringent durch. Bereits zu Beginn zeigt er an der Bühnenrückwand Projektionen eines Kindes. Noch deutlicher wird es, wenn sich während des Tanzes der sieben Schleier ein schwarzer Schatten über das Kind schiebt. Baumann legt die Hintergründe offen und entlarvt die rauschhafte Einheit von Eros und Tod, brünstigem Begehren und Grausamkeit, die das Werk vor Augen führt. Entsprechend drastisch gestaltet er die Szene, wenn Salome den abgeschlagenen, blutenden Kopf Jochanaans küsst.

Getragen wird die Inszenierung von einem großartigen Sänger-Ensemble, allen voran Lidia Fridman, die eine phänomenale Salome von elektrisierender Präsenz auf die Bühne stellt. Ihr Sopran besitzt eine beeindruckende Flexibilität und Durchdringungskraft. Auch die übrigen Sänger wie Hans-Georg Priese (Herodes), Kassandra Dimopoulou (Herodias) und Rhys Jenkins (Jochanaan) überzeugen stimmlich und darstellerisch. Mit Verve leitet Cornelia von Kerssenbrock das Festivalorchester Immling, das sie um das Staatliche Kammerorchester Tiflis zu einem harmonischen Klangkörper geformt hat, und spornt es mit inspirierender Kraft zu Höchstleistungen an. Am Ende ist das Publikum spürbar überwältigt und feiert die Künstler mit langanhaltendem Applaus.

Dr. Ruth Renée Reif

„Salome“ (1905) // Musikdrama von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website des Immling Festivals

Engel der Vernichtung

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Juni 2023)
Zerfall des Bürgertums in Battistellis „Il Teorema di Pasolini“

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Juni 2023)
Zerfall des Bürgertums in Battistellis „Il Teorema di Pasolini“

Giorgio Battistelli (*1953) hat für seine jüngste Oper Pier Paolo Pasolinis (1922-1975) „Teorema“ als Vorlage benutzt: den Film von 1968 und das Buch. Ein junger Mann verführt als Gast mit seinem erotischen Charisma in einem großbourgeoisen Haushalt nacheinander Haushälterin, Sohn, Tochter, Mutter und dann auch noch den Vater. Auf seine Frage, wer der Besucher sei, habe ihm, so der Komponist im Programmheft, Pasolini geantwortet: „Denke ihn Dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“ Wenn der metaphorisch der Auslöser für den Anfang vom Ende einer bourgeoisen Werteordnung ist, dann wird der eskalierende Zusammenbruch aller einzelnen Existenzen, der Familie und damit der Gesellschaft nach der Abreise des Fremden zur logischen Konsequenz.

Das britisch-irische Theaterkollektiv „Dead Centre“ (Ben Kidd und Bush Moukarzel) zeigt das als Laborversuch. Wie auf dem Display werden relevanten Daten für jede Szene auf einen Zwischenvorhang projiziert. Wissenschaftler wuseln mit der entsprechenden Ausrüstung und in weißen Schutzanzügen vor den Zimmern herum, die sich jeweils wie in einem Zoom öffnen und wieder schließen. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Terrasse usw. tauchen mal einzeln auf, mal eins neben dem anderen, dann im zweiten Teil alle Zimmer auf einmal. Da ist der geheimnisvolle Besucher wieder verschwunden und alle sind auf sich selbst zurückgeworfen.

Jetzt spielen die im ersten Teil von Schauspielern gedoubelten Akteure auch. Mit ihren Parts zwischen Sprechgesang und Deklamieren berichten sie stets in der dritten Person von sich und ihrem Tun. Der Weg in den Abgrund ist flankiert von immer surrealeren Bildern. Hausmädchen Emilia (Monica Bacelli) etwa entschwebt wie eine Heilige gen Himmel. Mutter Lucia (Ángeles Blancas Gulin) stürzt sich in wilde Sexabenteuer. Pietro (Andrei Danilov) entdeckt den Aktionskünstler in sich, seine Schwester Odetta (Meechot Marrero) hat einen psychischen Knacks. Als Höhepunkt zieht schließlich Vater Paolo (Davide Damiani) nackt in die Wüste und entlässt uns mit einem Urschrei des Alleinseins. Nur für den Gast reichen Gestalt und Stimme von Nikolay Borchev. Allesamt sind erstklassig!

Daniel Cohen und das Orchester der Deutschen Oper Berlin zelebrieren diese über weite Strecken sinnliche, langsam atmende Musik mit Augenmaß und halten die atmosphärische Spannung dieses pulsenden Raunens, das sich mit handwerklicher Perfektion von vielen Quellen inspirieren lässt, langsam aufbaut und auch wieder abflaut.

Ob man nun einem Laborversuch oder der Geschichte einer großen Verführung zu sich selbst, einer Verunsicherung oder Apokalypse im Kleinen, eine Selbstbefreiung oder Selbstvernichtung beigewohnt hat, bleibt offen. Antworten sind dem Publikum überlassen – und das ist gut so. Der Beifall ist einhellig.

Roberto Becker

„Il Teorema di Pasolini“ (1992/2023) // Musiktheater von Giorgio Battistelli

Infos und Termine auf der Website der Deutschen Oper Berlin

Lohnendes Wagnis

Regensburg / Theater Regensburg (Juni 2023)
Maazels „1984“ als spannende Literaturoper

Regensburg / Theater Regensburg (Juni 2023)
Maazels „1984“ als spannende Literaturoper

Lorin Maazels Literaturoper „1984“, basierend auf dem Jahrhundertroman von George Orwell, auf den Spielplan zu setzen ist ein Wagnis. Nicht nur, weil das Werk bei seiner Uraufführung denkbar negativ rezensiert wurde, sondern auch, weil die Partitur so ausladend ist, so reich instrumentiert, dass ohnehin nur die größten Häuser sich daran versuchen können. London hat sich getraut, Mailand, Valencia. Und nun, nach über einem Jahrzehnt ohne eine Aufführung, Regensburg.

Inszeniert hat „1984“ Intendant Sebastian Ritschel selbst, der im Vorgespräch zur Inszenierung sagt, das Werk müsse heute neu gedacht werden. Das passiert in seiner Inszenierung allerdings nicht. Zwischen Gerüsten und Bildschirmen spielt sich eine konventionelle Operninszenierung ab. Stellenweise wird das Bühnengeschehen sogar langweilig, etwa in den langen Duetten mit Winston und Julia, in denen fast nichts passiert – ob das nun an Ritschels Inszenierung oder an der nicht optimalen Dramaturgie der Oper liegt, lässt sich schwer sagen. Überwiegend aber gelingt es der Regie, eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Besonders die Massenszenen mit uniform gekleidetem Chor wirken. Die Aufführung ist nur eben kein brennend aktuelles, aufrüttelndes „1984“, sondern eine solide Literaturoper.

Natürlich wird in Regensburg nicht die Originalfassung der Oper gegeben – so groß ist der Orchestergraben des werdenden Staatstheaters nicht – sondern eine reduzierte Fassung von Norbert Biermann. Das Ergebnis begeistert sogar Dietlinde Turban Maazel, die Witwe des Komponisten. Sowieso vollbringt das Philharmonische Orchester Regensburg unter der Leitung von Tom Woods an diesem Abend Höchstleistungen. Von der Hymne Ozeaniens über jazzige Kaffeehausmusik bis hin zur intensiven Folterszene gelingen die verschiedenen Facetten des Werks höchst eindrucksvoll.

Auch das Sängerensemble ist äußerst souverän. Jan Żądło glänzt mit donnernder, aber doch immer verletzlicher Baritonstimme als Protagonist Winston Smith, an seiner Seite gibt Theodora Varga eine ausdrucksstarke Julia. Den O’Brien singt Anthony Webb. Seine lyrische, fast süße Tenorstimme klingt erst einmal gar nicht nach Bösewicht, passt aber deswegen umso besser zum schmeichlerischen Staatsdiener. Kirsten Labonte begeistert gleichermaßen als Gym Instructress und Drunken Woman, Jonas Atwood imponiert als Parsons, Carlos Moreno Pelizari singt souverän den Syme. Der Opernchor, einstudiert von Alistair Lilley, hat mit dem englischsprachigen Text zu kämpfen (ein paar Worte werden vernuschelt), ist aber im Großen und Ganzen überzeugend. Besonders bejubelt werden die jungen Sängerinnen und Sänger des Cantemus Chors, einstudiert von Matthias Schlier.

Beim Publikum kommt der Abend gut an. Die Premiere ist gut besucht, besonders junge Zuschauer unter 30 Jahren sind erfreulich zahlreich vertreten. Am Ende werden die Künstlerinnen und Künstler mit kräftigem Applaus belohnt. Das gewagte Experiment, „1984“ auf den Spielplan zu setzen, gelingt.

Adele Bernhard

„1984“ (2005) // Oper von Lorin Maazel in einer Fassung für mittelgroßes Orchester bearbeitet von Norbert Biermann

Infos und Termine auf der Website des Theaters Regensburg

Kehraus mit Händel

Berlin / Komische Oper Berlin (Mai 2023)
Abschied von der Behrenstraße mit dem Oratorium „Saul“

Berlin / Komische Oper Berlin (Mai 2023)
Abschied von der Behrenstraße mit dem Oratorium „Saul“

Die Opern und Oratorien von Georg Friedrich Händel gehören seit Jahrzehnten zum Kernrepertoire der Komischen Oper Berlin. So gesehen ist es nur recht und billig, als letzte Premiere der Spielzeit und vorerst letzte im neobarocken Theatersaal vor seiner umfassenden Renovierung ein Händel-Oratorium zu wählen.

„Saul“ komponierte Händel 1739, den Charakter des Konzertstückes kann es nicht verleugnen. Es als dramatisches Werk auf die Bühne zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Axel Ranisch, der mit ein paar Filmen eine gewisse Popularität erreicht hat, unternimmt diesen Versuch, ohne aber zu einer überzeugenden Dramaturgie zu finden. Auffällig ist, dass er nie die Tiefe der Bühne nutzt, die teilweise auch mit Kulissen vollgestellt ist, und die handelnden Personen an die Rampe zwingt. Was im zweiten Teil eine silberne Discokugel und riesige Lautsprecher auf der Bühne zu suchen haben, bleibt unklar. Die für ihre Spielfreude und Virtuosität berühmten Chorsolisten des Hauses verdammt Ranisch zu beständigem Fahnenschwenken, dessen optische Wirkung sich durch Wiederholung schnell erschöpft. In der letzten Szene wird viel Theaterblut eingesetzt, auf dem beim Schlussapplaus ein Solist nach dem anderen ausrutscht. In der Summe also eine wenig überzeugende szenische Umsetzung.

Musikalisch fällt die Aufführung deutlich ansprechender aus. Dirigent David Bates, am Haus bereits mit Gluck erfolgreich, verfügt über die straffe Hand, derer es bedarf, um Chor, Solisten und das zum Teil auf Instrumenten der Zeit spielende Orchester zu koordinieren. Das gelingt ihm vortrefflich, schon nach der Pause wird er dafür mit starkem Applaus gefeiert. Bei den Solisten dominieren diesmal eindeutig die Herren. Luca Tittotos schlanker Bariton ist ein überragender Saul, Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen erobert das Publikum als David mit betörend schönen Kantilenen, einen guten Kontrast dazu bietet Tenor Rupert Charlesworth als Jonathan. Tansel Akzeybek verleiht dem Hohepriester Würde und Statur. Dagegen fallen Nadja Mchantaf als Michal mit ein wenig spröder Höhe und Penny Sofroniadou mit etwas hartem Sopran doch deutlich ab.

Am Ende wird das ganze Ensemble einschließlich des hervorragend aufspielenden Orchesters frenetisch gefeiert. Regisseur Ranisch übersteht den Abend ebenfalls ohne Missfallenskundgebung, dafür ist seine Inszenierung zu beliebig. Auch Buhs wollen schließlich verdient werden. In den lang anhaltenden Schlussapplaus mischt sich Wehmut. Mindestens acht Jahre sind für die Sanierung und Erweiterung des Hauses veranschlagt, bei der Verlässlichkeit solcher Angaben dauert es wohl deutlich bis in die 2030er Jahre, ehe man wieder auf den roten Plüschsitzen Platz nehmen kann. Bis dahin wird auf alternative Spielstätten ausgewichen.

Peter Sommeregger

„Saul“ (1739) // Oratorium von Georg Friedrich Händel

Goldkind trifft auf Enfant terrible

Eggenfelden / Theater an der Rott (Mai 2023)
Überzeugende deutschsprachige Erstaufführung der Kinderoper „Schattenkind“

Eggenfelden / Theater an der Rott (Mai 2023)
Überzeugende deutschsprachige Erstaufführung der Kinderoper „Schattenkind“

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“: Goethes „Faust“-Thematik besagt, dass in jedes Menschen Seele helle und dunkle Seiten wirken. Sich ihrer bewusst zu werden und sie im besten Fall miteinander auszusöhnen, gilt als wichtiger Faktor psychischer Gesundheit. „Eltern haben, selbst bei einem Einzelkind, immer zwei Kinder“, heißt es eingangs in Cecilie Ekens preisgekröntem Gedichtband „Mørkebarnet“ („Schattenkind“). In der Komposition von Peter Bruun und dem Libretto von Jesper B. Karlsen verdient es sich unter der Regie von Andreas Weirich einen Stern am Kinderopernhimmel.

Die deutschsprachige Erstaufführung von „Schattenkind“ punktet in gleich mehrfacher Hinsicht als dankbares Sujet. In rund 50 Minuten Spieldauer kommen innerhalb der Opernhandlung auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen unbequeme Eltern-Kind-Konflikte aufs Tapet. Dabei werden die Kinder in einer modernen Inszenierung an das Operngenre herangeführt. So wird das Publikum von morgen in kurz gehaltenen Gesangspartien und gesprochenen Textpassagen dafür sensibilisiert, wie stark Musik und Lichteffekte Stimmung erzeugen und dass ausdrucksstarkes Spiel mehr zu sagen vermag als Worte. Über aufgeworfene Fragen, Emotionen oder Erkenntnisse ließe sich nach- (oder bestenfalls auch) vorbereitend diskutieren – ob im Unterricht oder Elternhaus.

Eva Maria Amann sitzt als Lichtkind bei Vorstellungsbeginn im Zuschauerraum und schreibt traumversunken in ihr Tagebuch. Dann taucht sie in ihre Fantasiewelt ein, betritt die Bühne ihres Kinderlebens – liebmädchenhaft lächelnd, ein Goldkind. Zwei Stellwände (Ausstattung: Florian Angerer) versinnbildlichen ihr aufgeschlagenes Tagebuch, bieten aber auch eine Projektionsfläche für Schattenspiele: Danae Mareen erscheint als Schattenkind – wild und ungezähmt, ein wenig bedrohlich. Kaum treffen die beiden unterschiedlichen Mädchen aufeinander, wird ihr Dilemma offenbar. Die eine lockt verführerisch mit der Freiheit zu verbotenen Abenteuern, die andere pocht, brav und fein, auf uralte Regeln. Handfeste Auseinandersetzungen, Beschimpfungen und ein grausamer Goldfischmord: Während die eine, als „Gottesgabe“ im Garten Eden des liebenden Elternhauses erwünscht, auf einer Schaukel die Sonnenseite des Lebens feiert, fristet die andere in Ablehnung und Einsamkeit als Enfant terrible ein trauriges (Schatten-)Dasein.

Engelchen oder Bengelchen? Kein Kind ist immer nur brav oder böse. Gerade diese Ambivalenzen bieten ein Sprungbrett für die klangfarbenreiche musikalische Bearbeitung, die, von Jovan Tomic in solistischem Akkordeonspiel kultiviert, ein ganzes Orchester ersetzt – genial. Ob Forte, Adagio, laut oder leise, tief seufzend oder über die Tasten polternd: Musik, Gesang (musikalische Leitung: Dean Wilmington) und das erfreulich authentische Spiel der beiden Darstellerinnen werden eins. Das geht, wie auch die hoch sensiblen und stimmlich bravourösen Leistungen in den Gesangspartien, den Kindern als variationsreicher Emotionscocktail direkt unter die Haut.

Kirsten Benekam

„Mørkebarnet“ („Schattenkind“) (2012) // Kinderoper von Peter Bruun in einer Übersetzung von Peter Urban-Halle