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Rezensionen

Sterben lernen

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Mönchengladbach / Theater Krefeld und Mönchengladbach (September 2023)
Verdi-Fortschreibung im Weltkriegsbunker: „Aida – der fünfte Akt“

Am Ende von Verdis „Aida“ steht der sichere Tod. Lebendig begraben in der Felsengruft, einander unendlich nah, aber auch unweigerlich ausgeliefert: Was macht das mit zwei Liebenden? Bewahren sie sich ihre Menschlichkeit oder verlieren sie sich letztlich doch in blinder, panischer Zerstörungswut? Der Opernklassiker reißt an dieser Stelle ab. Stefan Heucke (*1959) aber treibt dieses Gedankenspiel seit seiner Jugend um. Im Auftrag des Theaters Krefeld und Mönchengladbach hat der 2006 hier mit seinem Werk „Das Frauenorchester von Auschwitz“ überregional kontrovers diskutierte Komponist diese Stoffidee jetzt als 70-minütige Kammeroper realisiert: „Aida – der fünfte Akt“.

Einen stimmigeren Uraufführungsort als den Bunker Güdderath kann man sich für das Setting nicht vorstellen. Der Weltkriegsbau im Süden Mönchengladbachs ist seit 2019 Schauplatz des privat gestemmten und in diesem Fall koproduzierenden Festivals Herbstzeitlose. „Die Bunker sind die Pyramiden des 20. Jahrhunderts“, meint Hausherr Bernhard Petz zur Begrüßung im beklemmend erdrückenden Veranstaltungsraum. Knapp 150 Jahre nach der Uraufführung der Verdi-Oper stellt sich die Frage „Pomp oder Kammerspiel?“ einmal nicht: „Die Steine werden uns fressen und verdauen.“ Die Grabeskälte ist omnipräsent.

Eine Produktion wie diese steht und fällt mit ihren Protagonisten. Mit Eva Maria Günschmann und Rafael Bruck bietet das Theater zwei Kräfte aus dem eigenen Ensemble auf, denen Heucke die Marathon-Partien auf den Leib geschneidert hat: zwei Magneten, die sich abstoßen, anziehen, abstoßen, nirgendwo anders mehr hin können. Günschmann durchlebt das mit dramatischen, hohen Ausbrüchen am laufenden Band, mit schneidender Schärfe und immer wieder auch tiefergelegten Momenten, die bis zum Bersten überlaufen mit dem Unaussprechlichen. Der Radamès gelingt Bruck ebenso plastisch, atmosphärisch, vielschichtig, exzellent textverständlich. Heuckes Entscheidung für Mezzosopran und Bariton erweist sich dabei als goldrichtig, der „fünfte Akt“ gewinnt umso mehr eigenen Boden abseits der klassischen „Liebes-Stimmfächer“ des 19. Jahrhunderts.

Doch es gibt da noch einen dritten Protagonisten: die Kammer mit ihren rohen Wänden, die den rasenden Veitstanz im Angesicht des Todes unerbittlich befeuert. Dennis Krauß, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, weiß die Kulisse mit einfachen Mitteln gekonnt zu bespielen. Konzentrierte Schauspielkunst und ein schräges Podest, später zum Gerippe dekonstruiert – mehr braucht es nicht, um dem Geschehen psychologische Statur zu geben. Der Traum von einer eigenen Familie, das aggressive Aufeinanderprallen zweier von klein auf eingeimpfter Staatsdoktrinen, die Utopie einer besseren Welt, eine letzte Liebesvereinigung, die Schuldfrage, das quälend langsame Verenden: Mit jeder Faser schreien Aida und Radamès nach Leben, und mit jeder Faser sind sie dem Tode geweiht. Ralph Köhnen hat dafür ein suggestives deutsches Libretto geschrieben, das nur manchmal etwas übers Ziel hinausschießt („Der Rest ist Grammatik“).

Die Gruft und ihre in sich eingemauerten Seelen werden ohnehin über die Musik erst so richtig nahbar. Ein siebenköpfiges Ensemble – Klarinette, Fagott, Horn, drei Streicher und Klavier – lässt Verdi-Zitate anklingen, sich weiterspinnen und melodiös verfremden, entwickelt unter der Leitung von Giovanni Conti aber auch eine ganz eigene Klangsprache, in der die Grabkammer bleiern pulsiert und Halluzinationen (Amneris’ Schreie) schmerzhaft irrlichtern.

Ganz am Ende scheint plötzlich ein Funken Licht durch die finstere Dachluke. Ein schöner Traum? Auf jeden Fall zu spät.

Florian Maier

„Aida – der fünfte Akt“ (2023) // Kammeroper von Stefan Heucke

Infos und Termine auf der Website des Theaters Krefeld und Mönchengladbach

Hochstapler und Verwechslungen

Bielefeld / Theater Bielefeld (September 2023)
Musical-Swing mit dem „Mann, der Sherlock Holmes war“

Bielefeld / Theater Bielefeld (September 2023)
Musical-Swing mit dem „Mann, der Sherlock Holmes war“

Eigentlich könnte alles so schön sein – wenn die beschäftigungslosen Privatdetektive Morris Flynn (Markus Schneider) und Mackie McMacpherson (Merlin Fargel) nur am Londoner Verbrechensboom partizipieren könnten. Während der ersten Nummer des Musicals „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ werden reihenweise Verbrechen aller Art vorgeführt, aber niemand begehrt Aufklärung oder Lösung eines Falles von den beiden. Die „rettende Idee“: Sie verkleiden sich als Sherlock Holmes und Dr. Watson und reisen hoffnungsvoll zur Weltausstellung nach Brüssel. Mit im Nachtzug: Jane (Karen Müller) und Mary Berry (Charlotte Katzer). Die Geschwister arbeiten in einer Näherei – Ausbeutung pur, das stilisierte große Zahnrad hinter ihnen verdeutlicht es. Doch dann die unverhoffte Nachricht: Ihr ihnen bis dahin nur nebulös bekannter Onkel, Professor Raymond Berry, hat ihnen ein Schloss und viel Geld vererbt. Das Erbe kann in Brüssel angetreten werden. Doch da gibt es auch noch die Ganoven Jacques (Nikolaj Alexander Brucker) und Jules (Alexander von Hugo), die, egal welchen Auftrag ihrer Chefin (Cornelie Isenbürger) sie auch ausführen sollen, diesen vermasseln …

Damit sind die Turbulenzen programmiert. Marc Schubring (Musik) und Wolfgang Adenberg (Buch und Liedtexte) halten sich ziemlich eng an die Vorlage des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1937. Was leider gelegentliche Seichtigkeiten nicht verdeckt. Während die Herrenrollen großzügig und opulent ausgestattet sind und von der Regie auch dementsprechend gut bedient werden, sind die Frauenrollen im Buch eher schwach ausgeführt. Die Tanz- wie die Step-Einlagen der Geschwister Jane und Mary versöhnen mit den dürftigen Texten (Choreografie: Yara Hassan und Alexander von Hugo). Szenenbeifall gibt es immer wieder, aber nicht nur für sie. Cornelie Isenbürger als düstere Madame Ganymare überrascht mit sadistischen Neigungen in Lack und Leder. In der grotesk überzogenen Folterszene befürchtet „Sherlock Holmes“ schon sein letztes Stündlein, „Watson“ befreit ihn heldenhaft. Die beiden Duos Holmes-Watson und Jacques-Jules nutzen also ihre Vorlagen gekonnt. Sie tanzen, singen, spielen mit großer Leichtigkeit und gutem Material.

Schubrings Musik zitiert immer wieder den Swing der 1930er Jahre. Er kann auch den Hang zum Ohrwurm nicht verleugnen: Sowie „Sherlock Holmes“ „erkannt“ wird, wird er in einem aufsteigenden, schwärmerischen Dreiklang genannt. Und wenn sein Adlatus „Watson“ ängstlich ist, singt er „Das geht schief“ im gleichen Dreiklang, der dann aber ein wenig härter rüberkommt. Und mit den gleichen Worten auch bei Mary auftaucht, wenn ihr Unheil schwant.

Die musikalische Leitung ist bei William Ward Murta, bis vor Kurzem Leiter der Musicalsparte am Bielefelder Theater, in besten Händen. Der verspätete Beginn der besuchten Vorstellung hat mit dem plötzlichen Ausfall eines Orchestermitglieds und der entsprechenden Umgruppierung im Graben zu tun. Murta arrangiert, den Ausfall überdeckend, unhörbar neu. Einziges Manko: Die Bielefelder Philharmoniker sind entschieden zu laut. Es gibt Szenen, in denen die Künstler auf der Bühne fast nicht zu hören sind.

Ein großes Lob an Ausstatterin Britta Tönne. Eine Drehung der Bühne um 180 Grad und man sieht entweder Hotel- oder Eisenbahnszenerie, Industrie- bzw. Hotel- oder Ausstellungshalle. Die Belebung der Bühnenbilder durch den Opernchor setzt Regisseurin Sandra Wissmann immer wieder gekonnt und abwechslungsreich um.

Ulrich Schmidt

„Der Mann, der Sherlock Holmes war“ (2009) // Musical von Marc Schubring (Musik) und Wolfgang Adenberg (Buch und Liedtexte)

Infos und Termine auf der Website des Theaters Bielefeld

Klangfarben allein?

Schwerin / Mecklenburgisches Staatstheater (September 2023)
Puccinis „La Bohème“ versinkt im belanglosen Nirgendwo

Schwerin / Mecklenburgisches Staatstheater (September 2023)
Puccinis „La Bohème“ versinkt im belanglosen Nirgendwo

… und leise rieselt der Schnee: Mag draußen das Thermometer auch nochmal die 30-Grad-Marke knacken und die Menschen ins kühle Nass treiben, im Schweriner Theater herrscht tiefer Winter und die Darsteller suchen Zuflucht in den heimischen vier Wänden. Schließlich eröffnet der Opernklassiker „La Bohème“ die neue Spielzeit am Mecklenburgischen Staatstheater, und da braucht es nun einmal Kälte-Bilder und Tristesse – selbst wenn Noa Naamats Inszenierung ansonsten nur noch wenig mit der ursprünglichen Szenerie zu tun hat. Zugegeben, Puccinis Geschichte des lebenshungrigen Künstlerquartetts samt frierender Mimì in Mansarden-Schwermut wohnt eine gewisse Neigung zum Kitsch inne. Doch ist es da wirklich konsequent, den Vierakter in eine von Metall und Lichtrahmen dominierte Architektur zu verlegen und aus dem Artisten-Kleeblatt vier Gestalten zwischen Haltlosigkeit und brotloser Kunst zu machen?

Kein schönes Stück, schon gar kein Rührstück oder eine weitere Liebesgeschichte will die israelische Regisseurin erzählen, stattdessen ein Plädoyer für die Kunst in dieser tristen Welt des Kapitalismus halten. Nur leider fehlt es Naamat dann doch an stringentem Konzept, um zu überzeugen. Die Bühne (Thilo Ullrich) und die düsteren Garderoben samt Sonnenbrillen (Charlotte Werkmeister) erinnern eher an Momo und die grauen Herren. Aus dem Café Momus wird eine stylish-unterkühlte Bar, auf deren Tresen eine in silberne Korsage und hüfthohe Stiefel gewandete Domina-Musetta (Augen- und Ohrenweide: Morgane Heyse) tanzt und sich nehmen lässt. Und statt des Gasthofs an der Zollschranke gibt’s im Großen Haus ein zweitklassiges Bordell samt gelangweilten Pole-Dancerinnen am Eingang. Warum Musetta und ihr Graffiti-Sprayer Marcello (kraftvoller Sympathieträger: Brian Davis) ausgerechnet hier landen müssen, scheint ebenso willkürlich wie Collines (Young Kwon) Knipserei, die so gar nichts mit Fotokunst zu tun hat.

Unbeeinträchtigt davon schwebt Cornelia Zinks Mimì gleichsam über all dieser Seelenlosigkeit, geschmeidig und voll feiner Kantabilität singt sie ohne jede Tränendrüsen-Reizung. Und das, obwohl ihr Liebhaber Rodolfo nicht gerade ein Ausbruch an Gefühlen ist. Denn Konstantin Lee fehlen einfach die darstellerischen Feinheiten für diese tragische Story, mag er stimmlich auch immer wieder mal durch Glanz und Farbigkeit berühren. Ganz anders die Mecklenburgische Staatskapelle unter Levente Török, der mit seinem Dirigat einem sehr sensiblen, ja bisweilen zärtlichen Puccini nachspürt, ohne darüber den Emotionsgehalt der Musik und die großen Höhepunkte zu vergessen. Voller Leidenschaft steuert er die emphatischen, lyrisch-dramatischen Aufschwünge der Liebesszenen an, beweist für des Komponisten metrisch und rhythmisch oft frei pulsierendes Melos ebenso Gespür wie für die raffinierten Instrumentalfarben.

Ohne Kunst sei die Welt ohne Farben und Gefühle, hatte Naamat vorab ihr Konzept skizziert. Doch anders als die Musik sorgen in ihrer Regie selbst magentafarbene Baskenmütze und Sprayer-Arbeiten am Ende für keine bleibenden Inszenierungs-Eindrücke.

Christoph Forsthoff

„La Bohème“ (1896) // Oper von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Mecklenburgischen Staatstheaters

Aussichtslos

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Bochum / Ruhrtriennale (August 2023)
Janáčeks „Totenhaus“ als immersive Bühneninstallation

Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ ist eigentlich ein Blick in den Abgrund der menschlichen Existenz, schon wegen Fjodor Dostojewskis auf eigener Verbannungserfahrung beruhender Roman-Vorlage. Ein Alterswerk der Moderne, weg von der klassischen Opernstruktur.

Es gehört zu den Vorzügen der neuen Ruhrtriennale-Produktion, dass Dmitri Tcherniakov der Versuchung widersteht, plakativ ein real existierendes sibirisches Gefangenenlager zu illustrieren. Er konzentriert sich aufs Exemplarische. Mit seiner selbst gestalteten Raumsituation reißt er vor allem die vierte Wand ein, um daraus ein Plus an Wirkung zu erzielen. Doch die mit üppigen Gerüst-Konstrukten als Gefängnis ausgestattete Jahrhunderthalle Bochum ist am Ende doch nur eine sehr große Spielfläche mit am Rand und auf drei Galerien verteilten Stehplatz-Möglichkeiten für die Zuschauer.

Die Technik in der Halle ist so ausgefeilt, dass sich das suggestive Janáček-Charisma im Raum verteilt und ausbreitet. Von ihrem kaum einzusehenden Platz an der Längsseite der Halle machen Dennis Russell Davies und die Bochumer Symphoniker ihre Sache großartig.

Die distanzlose Nähe zu den Protagonisten, dem Chor des Nationaltheaters Brno samt der darunter gemischten Stunt-Männer macht die Musik dennoch streckenweise zum Hintergrund-Sound. Diese Nähe vermittelt zwar Intensität der Darstellung. Aber man sieht nicht wirklich Elend, sondern wie man so etwas spielt. Man kann zwar beschließen, betroffen zu sein – aber es ist wohl doch mehr die Faszination einem Kunstwerk gegenüber, das im besten Falle auf Umwegen Empathie hervorruft. Wobei sich selbst die in Grenzen hält, wenn der Hauptinhalt der Oper vor allem anekdotisch servierte Verbrechen sind.

Was Tcherniakov bietet, ist ein Blick in den Spiegel von Möglichkeiten und Gefährdungen des Menschen, weniger in den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Der in 100 Minuten im wahrsten Wortsinn durchzustehende Abend bietet neben den Episoden auch dosierte szenische Aktion. Zum Auftakt eine Explosion der Bewegung der Gefangenen, die mal an die Luft dürfen und sich dabei kindisch ausgelassen benehmen. Der Neuzugang eines Gefangenen aus besseren Kreisen ist für sie ebenso eine willkommene Abwechslung wie das Theaterspiel oder die Gewaltausbrüche. Es ist eine Oper ohne Hauptdarsteller, wenn man mal vom Orchester absieht. Einige ragen dennoch mit ihrer vokalen Präsenz und Spielfreude heraus: von John Daszak (Skuratov) über Stephan Rügamer (Luka) bis zu Leigh Melrose (Šiškov) oder Neil Shicoff in der Rolle des Alten. Dem angeblich politischen Gefangenen aus besseren Kreisen, Gorjančikov (Johan Reuter), verweigert Tcherniakov die Entlassung. Sie bleibt hier eine Illusion.

Fazit: ein interessanter Versuch, aus einer direkteren Begegnung mit einem herausragenden Werk emotionalen Mehrwert zu ziehen. Zu einer wirklich neuen Dimension der Betroffenheit reicht das aber nicht.

Roberto Becker

„Z mrtvého domu“ („Aus einem Totenhaus“) (1930 posthum) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website der Ruhrtriennale

Wiederentdeckung einer Operettenkomponistin

Prag / Národní divadlo (August 2023)
Rachel Danzigers „Dorfkomtesse“ bei der Terezín Summer School

Prag / Národní divadlo (August 2023)
Rachel Danzigers „Dorfkomtesse“ bei der Terezín Summer School

Ein Dorf in Tirol. Alle sind aus dem Häuschen: Kronprinz Karl Emanuel kommt! Er ist auf Brautschau und Wirtstochter Mariandl ebenso aufgeregt wie Prinzessin Flori. Die nämlich will den Prinzen auf die Probe stellen und verkleidet sich als „Dorfkomtesse“. Jungförster Hans, der mit beiden flirtet, ist hin- und hergerissen: zwischen beiden Frauen, zwischen Untertanenpflicht und Eifersucht. Denn auch der Prinz und sein Kammerdiener interessieren sich für Mariandl. Die Liebeswirren nehmen ihren Lauf. Und am Ende? Finden sich die richtigen Paare: Hans und Mariandl, Prinz und Prinzessin!

Soweit die Handlung der „Dorfkomtesse“ von Rachel Danziger. Dass diese Operette jetzt erstmals seit 1910 wieder erklingt, hat mit „Musica non grata“ zu tun, einem Projekt der Deutschen Botschaft in Prag und der Prager Staatsoper, das sich der Wiederentdeckung vergessener jüdischer Musik widmet und alljährlich die Terezín Summer School veranstaltet. Hier wird mit internationalen Musikstudenten nicht nur innerhalb weniger Tage ein Konzertprogramm erarbeitet, sondern auch Erinnerungskultur gelebt. So gibt es Stadtführungen durch Theresienstadt, das, einst als Festung konzipiert, von den Nazis als Vorzeige-Konzentrationslager missbraucht wurde. Keiner kennt diesen noch immer gespenstischen Ort besser als Tomáš Kraus, Direktor der Theresienstädter Initiative und Sohn eines Überlebenden. Er ist einer der Initiatoren von „Musica non grata“, war doch die reiche deutsch-jüdische Kultur Prags im Kommunismus tabuisiert.

In diesem Kontext steht auch die Operette „Die Dorfkomtesse“. Sie wurde 1909 in Stockholm uraufgeführt, ein Jahr später in Berlin nachgespielt – und war der New York Times immerhin eine Meldung wert, nicht zuletzt, weil sie von einer Frau komponiert wurde. Auch heute noch ist das bemerkenswert, zumal über die Komponistin bislang nur ein Eintrag im berüchtigten „Lexikon der Juden in der Musik“ existiert. Im Vorfeld der Summer School hat deren Leiter Kai Hinrich Müller von der Kölner Musikhochschule einiges Neues über die 1870 in Amsterdam geborene Rachel van Embden herausfinden können. Nach ihrem Musikstudium in Holland und ihrer Heirat zog sie nach Berlin und hieß seitdem Danziger. Unter diesem Namen hat sie erst Lieder, dann Operetten geschrieben und für den Film komponiert. Bis vor Kurzem, bevor „Musica non grata“ zu recherchieren anfing, hatte man geglaubt, sie sei nach Theresienstadt deportiert worden, wie zwei ihrer Töchter. Inzwischen weiß man, dass Rachel Danziger, zusammen mit ihrer jüngsten Tochter, die Flucht nach England gelungen ist, wo sie allem Anschein nach 1946 starb.

Ihre Musik zur „Dorfkomtesse“ ist besonders in den Buffo-Nummern frech und spritzig, folgt ansonsten – wie das Libretto – ganz den Konventionen des Genres. Die sind den Gesangstudentinnen und -studenten heute allerdings nicht mehr vertraut, vor allem was den Umgang mit dem Text betrifft. Das lässt sich in drei Probentagen nicht nachholen – besonders bei Nichtmuttersprachlern wie hier – und sollte eigentlich an den Hochschulen stattfinden. Die etwa 40-minütige konzertante Klavierfassung kann deshalb nur eine Ahnung geben, wie das Stück im Original klingen mag. Immerhin blitzt Danzigers Humor hin und wieder auf, besonders in der besten Nummer, dem Jägerduett, in dem es um das Schießen geht. Und das in einem sehr eindeutig zweideutigen Sinn, auf den sich die junge russische Sopranistin Ekaterina Krovateva auch ohne Deutschkenntnisse bestens versteht.

Bleibt zu hoffen, das Werk einmal ganz und auf der Bühne zu erleben.

Stefan Frey

„Die Dorfkomtesse“ (1909) // Operette von Rachel Danziger van Embden in einer gekürzten Bearbeitung für Klavier von Kai Hinrich Müller

La commedia è finita!

Konstanz / RathausOper Konstanz (August 2023)
40-jähriges Jubiläum mit Leoncavallos „Pagliacci“

Konstanz / RathausOper Konstanz (August 2023)
40-jähriges Jubiläum mit Leoncavallos „Pagliacci“

Anlassgerecht kredenzt der Wettergott einen lauen Sommer-Premierenabend. So entfaltet sich im Innenhof vor der eindrucksvollen Renaissance-Kulisse des Rathauses klangvoll und übertitelfrei des Dichter-Komponisten kühne, aus dem wirklichen Leben geschöpfte, so „schaurige Wahrheit“ – wie es der Prolog verkündet. Ein Spiel, in dem Scherz und Schmerz, Theater- und Privatbeziehungen so nahtlos verzahnt und raffiniert gespiegelt sind, in dem die leidvolle Eifersucht des Komödianten Canio alias „Pagliacci“ und die Rachsucht des abgewiesenen Tonio zwei sich liebenden Menschen das Leben kosten.

Wie aber wird sich wohl Ruggero Leoncavallos spätromantisch und opulent orchestrierte „Verismo“-Oper ohne ihren bewährten Doppel-Partner („Cavalleria rusticana“) schlagen? Spiel, Satz und Sieg auch im Einzel? Und wie überzeugend wird – um in der (Tennis)-Bildsprache zu bleiben – ein Großbühnen-Champion spielerisch auf dem Kleinfeld, also in der kammermusikalischen Reduktion vorankommen?

Im Jubiläumsjahr hat sich das künstlerische Leitungsteam der RathausOper Konstanz für die bereits im Jahr 1994 entstandene Bearbeitung durch den Schweizer Komponisten Martin Derungs entschieden. Wie traurig, dass die Nachricht von dessen Tode in Folge langer Krankheit das „Pagliacci“-Team mitten in der Produktionsvorbereitung erreichte. So kann man die bereits dritte Konstanzer Inszenierung der 1892 in Mailand uraufgeführten Oper sicher auch als Hommage an den Komponisten würdigen, der u.a. bei Günter Bialas in München studierte und mit seinem Gesamtwerk Anerkennung als einer der führenden Schweizer Komponisten seine Generation erhielt.

Unter dem präzisen Dirigat von Eckart Manke fällt es den 15 Musikerinnen und Musikern hörbar leicht, die atmosphärisch aufgeladene, farbig instrumentierte und gekonnt auch mal „schräg“ mit Leoncavallos Leitmotiven arbeitende Partitur, in der das unausweichliche Unheil subtil lauernd mitschwingt, lebendig, transparent und pointiert zu gestalten. Bewusst verzichtet die Bearbeitung auf den romantischen Gesamtklang zugunsten der Fähigkeit, „den Notentext beinahe analytisch zu durchdringen“ (Derungs).

Mit weitaus weniger Originalität – wenngleich das Bügeleisen, das Nedda zur Abwehr einsetzt oder das unbeugsame Gummihuhn im Komödien-Kochtopf des zweiten Akts für Lacher im Publikum sorgen –, konventionell und meist im „Frontalmodus“ der Agierenden setzt Regisseur Andreas Merz Raykov das szenische Geschehen auf der von Mariia Krutoholova (Bühnenbild) und Joachim Steiner (Kostüme) ausgestatteten Bühne um. Im zeitlichen Irgendwo verortet, vertraut er – sicher nicht ganz zu Unrecht – stark auf die emotionale, die Figuren charakterisierende und das Geschehen tragende Kraft des Librettos und die vielen intensiven ariosen Momente im intriganten Spiel des verschmähten, seelisch so verletzten Tonio.

Dem verleiht Nicola Ziccardi dominante Züge und die dafür nötige Bariton-Wendigkeit samt Fülle. Leider (angesagt) indisponiert müht sich Antonio Signorello nach besten Kräften, seine Partie des Canio doch wirksam zu gestalten. Der noch jungen, vokal wie darstellerisch präsenten Anastasia Churakova nimmt man den belastenden Gewissenskonflikt zwischen der Loyalität gegenüber Ehemann Canio und ihrem Sehnen nach einem selbstbestimmten Leben und der Liebe zu ihrem Silvio (souverän: Hongyu Chen) gerne ab, so gekonnt, wie sie ihre Nedda verkörpert. Zurecht mit Szenenbeifall bedacht wird auch Tenor Luca Festner (Beppe), dessen glutvolles „Harlekin“-Ständchen die Herzen betört.

Somit lautet die Antwort auf die obigen Match-Fragen: Es bleibt beim Unentschieden und letztlich Geschmackssache. Das „Bajazzo“-Original würde sowohl den Raum und das im Rahmen der engagierten und erfolgreichen RathausOper Mögliche sprengen. Und so wird die Kammerfassung vom Publikum verdient mit langem Premierenbeifall bedacht.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Pagliacci“ („Der Bajazzo“) (1892) // Dramma von Ruggero Leoncavallo in der kammermusikalischen Bearbeitung von Martin Derungs

Mord hinter den Kulissen

Angermünde / UckerOper (August 2023)
„Judith“ vereint Mozart und Hebbel

Angermünde / UckerOper (August 2023)
„Judith“ vereint Mozart und Hebbel

Judith und Holofernes, die biblische Geschichte um die jüdische Witwe und den grausamen babylonischen Feldherrn, war in der Kunst immer wieder Thema. Der 15-jährige Mozart, der gerade mit dem Vater durch Italien reiste, stellt in „La Betulia liberata“ den religiösen Konflikt in den Vordergrund: Die belagerten Israeliten, die sich von Gott verlassen fühlen, werden von der tiefgläubigen Judith gerügt.

Mozarts Oratorium nach einem Drama von Metastasio lädt durchaus zur szenischen Umsetzung ein. So auch die UckerOper, die für ihre zweite Produktion „Judith“ die mittelalterliche St. Marienkirche des uckermärkischen Städtchens Angermünde bespielt. Regie in dieser deutschsprachigen Produktion führt Holger Müller-Brandes, der als Bühne eine Art Laufsteg in den Altarraum setzt. Links und rechts daneben nimmt das Publikum Platz. Das Preußische Kammerorchester Prenzlau spielt in der Empore des Seitenschiffs, die Sänger verfolgen das Dirigat von Jürgen Bruns durch einen gotischen Spitzbogen. Die akustischen Bedingungen sind halbwegs akzeptabel. 

Die Chorsänger vereinen sich zu einem ganz gegenwärtig anmutenden Flüchtlingscamp, sitzen bei Kerzenschein zwischen Kisten und Koffern. Müller-Brandes verzichtet auf drastische Bilder und setzt auf eine schlichte, ruhige Personenregie. Der Mord geschieht hinter den Kulissen. Nach der Tat hüllt sich Judith in einen Umhang und schmuggelt das abgeschlagene Haupt in einem Ballen mit ihrer Unterwäsche aus dem Lager.

Das Werk steht in der Tradition der italienischen Barockoper. Es ist durchaus eine Herausforderung, die lange Kette von Dacapo-Soloarien in Szene zu setzen. Zumal Mozart, im Sinne eines Oratoriums, das erotische Geschehen zwischen Judith und Holofernes ausspart. Um das Ganze aufzupeppen, wurden hier gesprochene Dialoge aus Friedrich Hebbels 1840 entstandenem Drama „Judith“ eingefügt. Hebbel leuchtet die Begegnung zwischen den beiden Hauptfiguren psychologisch aus. Er begründete die moderne, ambivalente, erotisch schillernde Sicht auf Judith als Femme fatale.

Vollblut-Schauspieler Hannes Lindenblatt als Holofernes erweist sich trotz der Kürze seines Auftritts als Kraftzentrum des Abends. Die Partie der Judith geht die Altistin Anna Vishnevska zu theatralisch an – mit weit in die Mittellage gezogener Bruststimme, forcierten Spitzentönen, schleppender Linienführung. Vor allem bei den Rezitativen trägt sie zu dick auf. Schön sind die Nebenrollen besetzt. Als Bethuliens Oberhaupt zeigt Kyle Fearon-Wilson brodelnde Gefühle und einen sonoren Tenor. Die Rolle der adligen Amital nimmt Irina Prodan kokett, sie überzeugt mit gestochen scharfen Koloraturen. Als Prinz Achior präsentiert Kento Uchiyama einen kraftvollen Sarastro-Bass.

Jürgen Bruns leitet seine „Preußen“ mit Elan und energischen Akzenten, sodass die Affekt-Kontraste gut zur Geltung kommen. Plastisch und farbenreich spielt die Bläserriege. Am Ende fährt der engagierte Laienchor, Judiths Tat preisend, zu voller Klangpracht auf.

Mit schmalem Budget, nichtkommerzieller Ausrichtung und viel ehrenamtlichem Engagement bringt die UckerOper anspruchsvolles Musiktheater in den ländlichen, dünn besiedelten Raum. Das Premierenpublikum ist begeistert.

Antje Rößler

„Judith“ // Oper nach Wolfgang Amadeus Mozarts Oratorium „La Betulia liberata“ (1771) und Friedrich Hebbels Tragödie „Judith“ (1840) in einer Bearbeitung von Birgitta Rydholm und Holger Müller-Brandes

Goldjungen

Innsbruck / Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (August 2023)
Ein Sängerfest mit Vivaldis „Olimpiade“

Innsbruck / Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (August 2023)
Ein Sängerfest mit Vivaldis „Olimpiade“

Wer krönt das Ende seiner Laufbahn nicht am liebsten mit Gold? Intendant Alessandro De Marchi ruft dafür im Tiroler Landestheater passenderweise gleich eine waschechte „Olimpiade“ aus – die von Antonio Vivaldi, um genau zu sein.

Zu seinem Innsbrucker Abschied gönnt er sich und dem Publikum eine Starbesetzung, wie sie im Buche steht. Allen voran zwei Countertenöre und ein Sopranist singen um die Wette, als ob sie das Wort „Referenzcharakter“ am Premierenabend für sich gepachtet hätten. Man wähnt sich im barocken Opernhimmel: wenn Bejun Mehta das Innerste seiner Partie Licida in schwebende Töne gießt und die Zeit wie hypnotisch einfriert; wenn Raffaele Pe den emotional extrovertierten Megacle mit solcher Kunstfertigkeit zeichnet, dass selbst die Rezitative zu einem Ereignis werden; und wenn Bruno de Sá perlende Koloraturen in atemberaubender Höhe wie am Fließband produziert, dazu leichtfüßig wie Michael Jackson über die Bühne tanzt, alle Schmunzler und Lacher auf seiner Seite hat, der Saal tobt – und man bedauert, dass die extrem virtuosen Kadenzen trotzdem kein Da capo nach sich ziehen.

Die dunkleren Frauenstimmen haben es da nicht leicht mitzuhalten. Während der Mezzosopran von Benedetta Mazzucato (Argene) mit ehrlicher Wehmut durchaus einzunehmen weiß, zeigt Contraltistin Margherita Maria Sala zwei Gesichter: Insbesondere in den Rezitativen fesselt sie zwar mit plastischem Furor und Temperament, aber in ihren Arien fährt sie immer wieder auch mit angezogener Handbremse. Bei so vielen hohen Partien „geerdet“ wird die Oper von Bariton Christian Senn, der einen ungewöhnlich humanen König darstellt, und dem Bass von Luigi De Donato.

Klar, der ein oder andere Strich und/oder mehr Kontraste wären nicht verkehrt an diesem Abend. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau angesichts De Marchis sehr organischem Dirigat, das den Solisten den Boden bereitet, das Innsbrucker Festwochenorchester für rasende Affektstürme vor sich hertreibt und dann wieder für liebliche Augenblicke des Innehaltens zügelt.

Der Sport ist letzten Endes nur Kulisse für einen barocken Arienreigen, der überraschend tiefenpsychologisch und kompositorisch geradlinig daherkommt. Die Verwechslungsgeschichte handelt von Königssohn Licida, der sich Hals über Kopf in Prinzessin Aristea verguckt, die just als „Siegertrophäe“ für den Gewinner der Olympischen Spiele ausgerufen wird. Der unsportliche Licida lässt seinen engen Freund Megacle unter falschem Namen für ihn antreten. Dumm nur, dass der und Aristea heimlich selbst längst ein Paar sind – und Licida eigentlich auch schon einer anderen versprochen ist …

Die Inszenierung von Stefano Vizioli leitet sich aus der Musik ab, arbeitet mit viel Situationskomik und gerät auch dann kurzweilig, wenn mal nicht so viel los ist auf der Bühne, die mit drahtig-muskulösen Statisten an Barren, Boxsack und Co. auf den Kampf um die Goldmedaille einstimmt. Verortet ist die Produktion zwar im Umfeld von Olympia 1936. Das dient aber als reiner Ankerpunkt für die Ausstattung (Bühnenbild: Emanuele Sinisi / Kostüme: Anna Maria Heinreich) – mögliche Bezüge zur Vivaldi-Renaissance, die im italienischen Faschismus u.a. mit der „Olimpiade“ Fahrt aufnahm, bleiben außen vor. Geschickter arrangiert Vizioli das zentrale Ideal der bedingungslosen „Männerfreundschaft“ von Licida und Megacle: Zwischen den originalen Libretto-Zeilen liegt da etwas damals noch Unaussprechliches, die stumme Trauer in Licidas Blick spricht für sich. Das wahre Traumpaar dieser Oper – es soll nicht sein.

Florian Maier

„L’olimpiade“ (1734) // Oper von Antonio Vivaldi in der kritischen Edition von Alessandro Borin und Antonia Moccia

Im siebten Untergeschoss

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2023)
Mozarts „Le nozze di Figaro“ geht runter wie Öl – mit bitterem Beigeschmack

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2023)
Mozarts „Le nozze di Figaro“ geht runter wie Öl – mit bitterem Beigeschmack

Dass das Festspielpublikum nicht so gut auf Regisseur Martin Kušej zu sprechen ist, war schon vor der Premiere klar. Trotzdem geht es hin, denn Gesprächsstoff liefert er allemal. Und Kušej tischt auf: Es wird ungemütlich im Haus für Mozart.

An diesem Abend werden die Mächtigen und Reichen verhöhnt, die Schwachen, die Zweifelnden – und die Frauen – liebkost. Mozart lässt uns glauben, dass alles nur ein Märchen ist – ein Märchen, das gut ausgeht und in dem Eros die treibende gute Kraft ist. Dass Eros auch zerstören kann, möchte die Musik uns ersparen. Und auch wenn man es dem bezaubernd samtigen Bariton von Andrè Schuen als Graf Almaviva gerne abnehmen würde, wenn er seine Gattin (Adriana González’ inniglicher Sopran zerreißt vor Schmerz das Herz) um Verzeihung anfleht: Kušej zieht einen Strich durch diese Rechnung. Denn der ganze letzte Akt, in dem sich alle lieb haben, alle vertragen, spielt in einer Utopie. In hügeliger Landschaft, in hohem Gras, fern der Zivilisation. Dort waltet die Liebe, so klingt es in Da Pontes genialem Libretto immer wieder an.

Ganz anders sieht es im Anwesen von Graf und Gräfin Almaviva aus. Die Regie verlagert den Handlungsort von Spanien nach … Stuttgart? Düsseldorf? München? London? Ganz egal – es sind Orte, die dem Publikum bekannt sein dürften. Kušej nimmt ihnen jeglichen Charme: eine Bar ohne Seele, zu große Räume, die zu leer, zu karg sind. Figaros Hochzeit (Krzysztof Bączyk mit vollem Bass) findet im siebten Untergeschoss eines Parkhauses statt. Hier können Liebe und Anstand nur verkümmern.

Der Verfall der Gesellschaft am Hof Almaviva wird besonders durch den skrupellosen Priester (im Libretto Musiklehrer) Basilio verdeutlicht, der provokant und an mancher Stelle etwas billig überspitzt als Oberschurke inszeniert und von Manuel Günther mit kräftigem Tenor versehen wird. Dem entgegengesetzt ist die Freundschaft zwischen der Gräfin und ihrer Zofe Susanna (Sopranistin Sabine Devieilhe singt wie ein Engel). Eine Freundschaft zweier Frauen, so zärtlich und voller Fürsorge, dass aus ihr eine Kraft entspringt, die das Schurkentum der Männer – wenigstens zeitweise – überstrahlt. Diese Kraft rührt aus dem, der der Welt enthoben ist: Cherubino (Lea Desandre mit glasklarem Mezzosopran), im ewigen Fluss der Jugend, verwirrt und verliebt, unschuldig wie ein junges Reh, doch in seiner Leidenschaft nicht zu zähmen. Eine hinreißende Figur – der Eros, den der Graf unermüdlich sucht und aus Verzweiflung verbannen, gar umbringen will. Er kann ihn nicht fassen. Denn Eros lässt sich nicht fassen, er erscheint im stetigen Wandel.

Sein Wesen kann nur in der Musik begriffen werden, in Mozarts Musik. Für deren klangliche Umsetzung sind die Wiener Philharmoniker, sehr präsent und ungewohnt spritzig, unter dem jungen Stardirigenten Raphaël Pichon maßgeblich verantwortlich. Diese Musik, so leicht und spielerisch, trägt durch einen düsteren Abend, sie leuchtet heller als alles Gold und Geld der Welt. Doch Kušejs zynische Handschrift hallt nach: Cherubino als Utopie.

Pia von Wersebe

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

Hamelner Totentanz

Pforzheim / Theater Pforzheim (Juli 2023)
Eine Klarinette spielt die Hauptrolle in Wilfried Hillers „Rattenfänger“

Pforzheim / Theater Pforzheim (Juli 2023)
Eine Klarinette spielt die Hauptrolle in Wilfried Hillers „Rattenfänger“

Die Bühne ist in eine graue Stadtkulisse verwandelt. Auf die Wände sind Häuser und Dächer gemalt, expressionistisch mit verzerrten Winkeln und überzogenen Linien. Im „Hamelner Totentanz in 11 Bildern“ herrscht eine Rattenplage. Der Kinderchor – alle in grauen Kleidern – tanzt einen Reigen und singt: Die Geschichte wurde „schon oft erzählt“, aber „die Wahrheit hat man verfehlt“. Denn tatsächlich gibt die Sage vom Rattenfänger der Forschung bis heute Rätsel auf: Man weiß nicht endgültig, warum 130 Kinder am 26. Juni 1284 die Stadt Hameln verlassen haben und wohin sie verschwanden.

Der 1941 geborene Komponist Wilfried Hiller hat aus dem Stoff packendes Musiktheater gemacht. Das Libretto stammt von Michael Ende. Die Oper wurde 1993 uraufgeführt und geriet dann etwas in Vergessenheit, bis sich jetzt das Theater Pforzheim dem Werk wieder annahm. Das Premierenpublikum ist begeistert.

Hillers Oper wartet mit tollen musikdramaturgischen Ideen auf. Die Hauptrolle des Spielmanns etwa singt nicht und spricht nicht. Sie spielt „nur“ Klarinette und Florian Schüle, Orchestermitglied der Badischen Philharmonie Pforzheim, meistert diesen Part fabelhaft. Mit seinem Auftritt kommt Buntes in die von Intendant Markus Hertel besorgte Inszenierung. Mal mit flinken Gute-Laune-Tönen, mal mit schwermütigen langen Melodien fügt sich die Klarinette passend in die Dialoge. Vom Bürgermeister – gesungen mit schwerem Bass von Lukas Schmid-Wedekind – nimmt der Spielmann den Auftrag an, die Ratten zu verjagen. Zuversichtlich trillert die Klarinette also dem Chor der reichen und armen Bürger entgegen. Die Ratten tragen in der Pforzheimer Inszenierung Kopfmasken und bekommen mehrere ruckartige, wuselige Tanzeinlagen. Vertrieben werden sie durch die Klarinette schließlich mit einem dreigestrichen g, einem extrem hohen Ton, lange gehalten und – nicht wirklich schön. Hier aber soll die Partitur an hohe Ultraschalltöne erinnern, mit denen Ratten kommunizieren. Spannende Klangfarben und eine reiche Orchestrierung sind das große Plus dieser Produktion. Zusätzlich zu den Streichern und Bläsern im Graben sind sichtbar im hinteren Bühnenbereich auf zwei Etagen mannigfaltiges Schlagwerk, Pauken, Harfe und Klavier postiert. Ein Klangapparat, den Dirigent Robin Davis zuverlässig leitet.

Dass die Bürger ihren Rattenfänger um den Lohn prellen und er dann die Kinder entführt, ist in die Handlung rund um die Bürgermeistertochter Magdalena eingebettet. Jina Choi singt diese Rolle mit hellem – mal forderndem, mal ausgleichendem – Mezzosopran: Die Eltern mögen Wahrheit walten lassen. Die Reichen in Hameln nämlich frönen insgeheim einem Rattenkönig, der ihnen Geld gibt und den Armen dafür den Tod bringt. Gesanglich noch größere Gefühlspaletten mit extremen Sprüngen in höchste Töne liefert Dorothee Böhnisch als Mutter, die den Spielmann erotisch verführen will, seiner Musik dann aber selbst erliegt und aus Verwirrung die eigene Tochter tötet … Also, richtig Oper eben!

Dr. Sven Scherz-Schade

„Der Rattenfänger“ (1993) // Ein Hamelner Totentanz von Wilfried Hiller

Infos und Termine auf der Website des Theaters Pforzheim