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Rezensionen

Bekehrung eines Grantlers

Füssen / Festspielhaus Neuschwanstein (Dezember 2023)
Ein Weihnachtsmusical nach Charles Dickens feiert die Kraft der Liebe

Füssen / Festspielhaus Neuschwanstein (Dezember 2023)
Ein Weihnachtsmusical nach Charles Dickens feiert die Kraft der Liebe

1843 entstand Charles Dickens’ Erzählung „A Christmas Carol“. Aus dieser vielfach verfilmten Weihnachtsgeschichte machten Komponist Dirk Michael Steffan und Autor Michael Tasche vor 22 Jahren das Musical „Vom Geist der Weihnacht“. Es lockte seither 700.000 Besucher in deutsche Theater.

Nun hat das Stück am Festspielhaus Neuschwanstein Premiere. Andächtige Feststimmung verbreitet hier vor allem der sensationell gelegene Theaterbau am Forggensee – am anderen Ufer leuchtet das Schloss Neuschwanstein unterm Sternenhimmel. Festspielhausdirektor Benjamin Sahler hingegen hält sich in seiner neuen Inszenierung zurück, was weihnachtlichen Prunk angeht – ganz im Einklang mit Dickens’ Geschichte, die unter der armen Bevölkerung Londons spielt.

Schikaniert werden die kleinen Händler und Handwerker von dem gierigen Pfandleiher Ebenezer Scrooge. Doch an Heiligabend bekommt Scrooge Besuch vom Geist seines untoten Freundes Marley. Der will ihn davon überzeugen, dass Liebe und Freude mehr wert sind als materielle Reichtümer.

Kristian Vetter ist als Scrooge eine echte Wuchtbrumme. „Weihnachten ist Rattendreck, schmeißt den ganzen Plunder weg“ schimpft er, um sich dann ausdrucksstark vom knausrigen Grantler in einen Wohltäter zu verwandeln. Jörg Hilger saust als durch und durch sympathischer Geist auf einer Art Lastenfahrrad mit Windmühlenantrieb umher. Misha Kovar als Bilderbuch-Engel, mit Goldlocken und weißglitzerndem Kleid, kommt ebenfalls mittels Windkraft angeschwebt. Darstellerisch hat so ein Engel ohnehin nicht viele Facetten. Doch auch stimmlich schwächelt Kovar, mit gekünstelter Tongebung und übermäßigem Vibrato. Liebevoll sind die Nebenfiguren gestaltet. Buchhalter Cratchit (Lutz Thase) friert sich am erkalteten Kamin die Finger ab und schiebt seinen hinkenden Sohn Timmy (Noah von Rom) auf der Sackkarre umher. Großen Applaus gibt es für Mrs. Fezziwig (Anja Wessel) und ihren virtuosen Kochrezepte-Rap. Sahlers detailfreudige Personenregie kommt jedoch nicht gegen das allzu rührselige Libretto an.

In sauber arrangierten Tableaus teilt die Londoner Bevölkerung Grüße und Geschenke aus. Stefanie Grönings Choreografien wirken ein wenig zahm. Nur als Geister dürfen die 17 Tänzer so richtig zeigen, was sie draufhaben. Als Kulissen kommen die Fassaden eines Londoner Marktplatzes schön zur Wirkung. Die Szenen in den Innenräumen, das weihnachtliche Familienfest oder Scrooges Schlafzimmer, wirken auf der riesigen Drehbühne aber etwas verloren.

Scrooge reist zusammen mit Marleys Geist und dem Engel durch seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bis er schließlich den Wert der Liebe erkennt. Die Geschichte seiner Bekehrung dauert etwa drei Stunden. Viel Zeit nehmen die gesprochenen, ziemlich kitschigen Dialoge ein. „Jeder hat das Recht auf Glück“ heißt es, oder „Deine Zukunft ist jetzt“. Da wird fest auf die Tränendrüse gedrückt.

Komponist Dirk Michael Steffan hat eine Partitur mit Synthesizer-lastiger Begleitung geschrieben, die aus der Konserve eingespielt wird. So können die durchaus ohrwurmtauglichen Lieder ihre volle Wirkung kaum entfalten, zumal der Gesang zu laut aus den Boxen wummert und die Instrumente überdeckt. Stilistisch gibt es ein Allerlei, das vom Militärmarsch und mittelalterlich anmutenden Tänzen über Anklänge an Mozart oder Weill bis hin zum Schlager reicht.

Anfangs will der Funke nicht recht überspringen. Doch nach der Pause kommt Stimmung im Saal auf. Am Ende feiert das Premierenpublikum die Beteiligten mit stürmischem Applaus.

Antje Rößler

„Der Geist der Weihnacht“ (Originaltitel: „Vom Geist der Weihnacht“) (2001) // Musical von Dirk Michael Steffan

Infos und Termine auf der Website des Festspielhauses Neuschwanstein

„La Fest“ in „The Länd“

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Dezember 2023)
Starchoreograf Eric Gauthier inszeniert ein Barock-Pasticcio aus 31 wunderbaren Musiknummern

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Dezember 2023)
Starchoreograf Eric Gauthier inszeniert ein Barock-Pasticcio aus 31 wunderbaren Musiknummern

Als der Stuttgarter Intendant Viktor Schoner den Regisseur und Choreografen Eric Gauthier eingeladen hatte, eine Oper zu inszenieren, wollte dieser keines der bekannten Werke auf die Bühne bringen. Stattdessen besann er sich auf ein Verfahren, das bis ins späte 18. Jahrhundert durchaus gängige Praxis im Musiktheater war: das Pasticcio, bei dem ein neues Theaterstück zu bereits bestehender Musik von verschiedenen Komponisten aufgeführt wird.

In Stuttgart lässt Gauthier zwei Handlungslinien parallel laufen. Zum einen bereitet sich eine Festgesellschaft – Gastgeberin gleichermaßen wie Gäste – auf ein Fest vor und kommt auf diese Weise in einem eleganten Rahmen zusammen, für den sich Kostümbildnerin Gudrun Schretzmeier eine wunderbare Gewandung hat einfallen lassen. Zugleich wird die Geschichte der Gastgeberin erzählt, eine 90 Jahre alt gewordene Dame, welche aus Anlass ihres runden Geburtstags „La Fest“ ausrichtet und dabei zugleich, den nahenden Tod vor Augen, all jene Feste Revue passieren lässt, die in ihrem Leben bedeutsam gewesen sind – die späte Hochzeit in ihren Fünfzigern, eine Studentenparty, ein Zusammenkommen in früher Kindheit.

Diesem Geschehen im klugen Bühnenbild von Susanne Gschwender stellt Gauthier einen Prolog voran, bei dem er in der Art eines Showmasters sein Team vorstellt und das Publikum gekonnt einbezieht, u.a. zum gemeinsamen Singen mit dem Staatsopernchor animiert. Das kommt gut an, macht sicher vielen, die bislang noch gar nicht oder nur wenige Male aus unbegründeten Schwellenängsten heraus in der Oper gewesen sind, Lust auf mehr und erfreut die „Freaks“ genauso.

Im eigentlichen Teil der Aufführung geht Gauthier mit erkennbarer Spiellust in die Vollen, verbindet Schauspiel, Tanz, Musik, Licht und Farbe zu fantastischer Einheit, hat spürbar Freude an barocker Opulenz, inszeniert aber auch im Schlussgesang der alten Dame das in Barockstücken nicht minder bedeutsame „Memento mori“ mit großer Ernsthaftigkeit. Einmal abgesehen von der langatmigen Flaschendreherei-Szene bei der Studentenparty vergehen die pausenlosen zwei Stunden wie im Flug.

Natürlich gibt es in dieser Zeit, vom überflüssigen Rap-Remix von Bachs Air aus der dritten Orchestersuite einmal abgesehen, durchweg wunderbare Musik zu hören, die sonst kaum zu erleben ist. Gemeinsam mit dem wieder einmal vorzüglichen Solisten-Ensemble bis hin zu Lia Grizelj vom Kinderchor der Staatsoper Stuttgart hat Benjamin Bayl Kostbarkeiten aus rund 150 Jahren Musikgeschichte ausgewählt. Gleichwohl: So richtig überzeugend ist er als Dirigent nur in jenen Musikteilen, die mit einer kleinen Orchester-Besetzung musiziert und von ihm vom Cembalo aus geleitet werden; bei den groß besetzten Stücken, gar noch mit Chor, verliert er immer wieder den Kontakt zu den einzelnen Stimmgruppen. Glücklicherweise lässt sich der von Manuel Pujol hervorragend einstudierte Staatsopernchor wie auch das großartig sich diesen Repertoire-Raritäten annehmenden, von einem tollen Konzertmeister angeführte Staatsorchester Stuttgart von den mitunter wenig plausiblen Dirigier-Bewegungen nicht irritieren. Auch an stilistischer Differenzierung wäre angesichts des reichen Angebots von Chor und Orchester noch mehr herauszuholen.

Bei den Sängerinnen und Sängern zentriert sich das Geschehen um die hinreißende Diana Haller, die nicht nur schauspielerisch die Figur der alten Dame mit ihrer Rückverwandlung in die junge Frau und die abschließende Sterbeszene glaubhaft über die Bühne bringt, sondern schon im Prolog mit ihrem herrlichen mezza di voce auf der ersten Textsilbe „Alto Giove“ aus Porporas Oper „Polifemo“ aufhorchen lässt.

Die Sopranistin Claudia Muschio differenziert glasklar und höhensicher ihre Wut- und Eifersuchtsarien, ihre Kollegin Natasha Te Rupe Wilson steigt fulminant in ihr Duett aus Reinhard Keisers „Fredegunda“ ein, Countertenor Yuriy Mynenko bringt Vivaldis Giustino zum Leuchten, Tenor Alberto Robert überzeugt im italienischen Fach mehr als im deutschen, und Bariton Yannis François gefällt mit eleganter Stimmführung. Bewundernswert auch die Vielgestaltigkeit der Tänzerinnen und Tänzer mit einem stilistischen Spektrum bis hin zu Breakdance und Gebärdensprache. Ein besonderer Abend!

Dr. Jörg Riedlbauer

„La Fest“ (2023) // Oper als barocke Feier des Lebens von und mit Eric Gauthier – Musiktheaterkreation mit Arien, Ensembles, Chören und Tänzen von Johann Sebastian Bach, Riccardo Broschi, Antonio Caldara, Francesco Cavalli, John Dowland, Carl Heinrich Graun, Georg Friedrich Händel, Reinhard Keiser, Marin Marais, Tarquino Merula, Nicola Porpora, Henry Purcell, Jean-Philippe Rameau, Agostino Steffani, Georg Philipp Telemann, Leonardo Vinci und Antonio Vivaldi

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Stuttgart

Fehlende Worte, verweigerte Bilder

Bonn / Theater Bonn (Dezember 2023)
Schönbergs „Moses und Aron“ im körperlichen Extrem

Bonn / Theater Bonn (Dezember 2023)
Schönbergs „Moses und Aron“ im körperlichen Extrem

Arnold Schönbergs Opernfragment „Moses und Aron“ ist zwar erst 1957 szenisch uraufgeführt worden, passt aber dennoch zum ambitionierten „Fokus ’33“-Programmschwerpunkt des Theaters Bonn – so wie der Jude und musikalische Avantgardist (1874-1951) ins Feindbild der Nazis.

Im selbstverfassten Libretto sucht Moses nach den passenden Worten, um Gott seinem Volk ohne Bilder verständlich zu machen. Um das zu zeigen, gehen Lorenzo Fioroni (Regie), Paul Zoller (Bühne) und Sabine Blickenstorfer (Kostüme) im Verlauf ihrer Inszenierung selbst den Weg einer Abstraktion. Alles beginnt in einer überdimensionierten Puppentheater-Ästhetik mit dem Blick aus einer Höhle in den Himmel. Die Brüder sind zunächst unter Puppenköpfen verborgen. Moses hütet Schafe. Der Dornbursch brennt. Und eine schlichte Es-werde-Licht-Glühbirne könnte ein Platzhalter für die Stimme des Gottes sein, mit dem allein Moses auf vertrautem Fuße steht. Die Revolte, die ihn in die Wüste treibt, findet dann in einem Bilderrahmen als Szenerie aus dem 19. Jahrhundert statt und ähnelt eher einem Tumult an der Börse.

Der Kern aber ist der Verzicht auf den szenischen Bilderzauber, der meist beim Tanz um das Goldene Kalb entfesselt wird. Hier sind es nicht die von Moses allein Gelassenen, die außer Rand und Band geraten – hier ist es Moses, der allein auf sich gestellt mit sich und seinem Gott ringt. Äußerlich sieht das nach einer Melange aus Zerstörungswut und kreativem Schub eines Künstlers aus. Der Sänger Dietrich Henschel geht in dieser Sprechrolle ins körperliche Extrem. Bis die Zehn Gebote beisammen sind, fallen in einer einsamen Kammer immer wieder Gegenstände auf ihn herab. Er zerstört sie, verletzt sich, legt alle Sachen ab, beschmiert sich mit Farbe und malt mit seinem ganzen Körper die Wände voll. Damit wird der Tanz um das Goldene Kalb quasi auf die andere Seite des Konfliktes zwischen den beiden Brüdern gespiegelt. Der lebendige Körper von Moses „ersetzt“ die Gesetzestafeln aus Stein.

Bleibt die Frage, ob die Gottesgewissheit von Moses so unerschütterlich ist, wie er glauben will. Aber auch bei Aron (den Martin Koch überzeugend singt) bleiben Zweifel an der Überlegenheit seiner pragmatischen Argumente. Wenn Moses zurückkehrt, empfängt ihn sein Bruder nämlich inmitten lauter toter, blutbefleckter Dummys. Moses’ finales „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ wird so zum Ausdruck purer Verzweiflung. Er legt sich wie ein Kind zusammengerollt auf die Seite.

„Moses und Aron“ bleibt als Oper auch in Bonn eine offene Frage, die nur ans Publikum weitergereicht werden kann. Für den durch das Vocalconsort Berlin verstärkten Chor, das Beethoven Orchester Bonn und seinen Chef Dirk Kaftan und natürlich für alle Protagonisten ist die Antwort des Publikums für ihren Kraftakt aber ganz zurecht geschlossener Beifall.

Dr. Joachim Lange

„Moses und Aron“ (entstanden 1930-32; szenische Uraufführung 1957 posthum) // Opernfragment von Arnold Schönberg

Infos und Termine auf der Website des Theaters Bonn

Wiedersehen mit einem Hundertjährigen

Annaberg-Buchholz / Eduard-von-Winterstein-Theater (Dezember 2023)
Audienz bei Hugo Hirschs „Fürst von Pappenheim“

Annaberg-Buchholz / Eduard-von-Winterstein-Theater (Dezember 2023)
Audienz bei Hugo Hirschs „Fürst von Pappenheim“

Das Eduard-von-Winterstein-Theater ist längst zu einem Hort für Operetten-Ausgrabungen avanciert. Der von den Nazis wegen seiner jüdischen Herkunft nach 1933 verfemte und vertriebene Operetten- und Schlagerkomponist Hugo Hirsch (1884-1961) hatte 1923 mit seinem Dreiakter „Der Fürst von Pappenheim“ einen durchschlagenden Erfolg. Bei der aktuellen Wiederentdeckung gehen Regisseur und Ausstatter Christian von Götz und Jens Georg Bachmann am Pult der Erzgebirgischen Philharmonie mit leichter Hand und hörbarem Vergnügen zu Werke. Alle Nummern dieser Schlager-Operette gehen sofort ins Ohr, von der „Reise mit der Mitropa durch Europa“ bis hin zum Running Gag „Und zum Schluss, ganz zum Schluss, schuf der liebe Gott den Kuss“. Man kann sich streiten, ob jede der Worteinlagen unentbehrlich ist – beim Gesungenen möchte man wirklich auf keine Nummer verzichten. Der Titelheld ist kein Fürst, sondern heißt nur so, ist Vertreter im kriselnden Modehaus Pappenheim und ein Verkaufs- und Marketinggenie.

Der Werbeslogan „Der neue Mann ist jetzt bereit, kauft sich bei Pappenheim ein Kleid“ wird zur Vorgabe für eine genderfluide Kostümierung der Protagonisten und des Chores, was vor allem bei den Herren im Damenfummel ein Hingucker ist. Besonders Richard Glöckner als Titelheld gelingt mit seinem unwiderstehlichen Operettencharme ein Gesamtkunstwerk. Dabei spielt das Ganze mitten im deutschen Hyperinflations- (und Uraufführungs-)Jahr 1923, ist also per se auch ein Musterbeispiel von Zeitgenossenschaft. Wo mit Waschkörben voll Papiergeld bezahlt wird, kommt es für die kurz vor der Pleite stehende Kaufhauschefin Camilla (Stephanie Ritter) auf jede verkaufsfördernde Idee und auf jeden Kunden an.

Und da kommt der Adel dann doch noch ins Spiel. Die echte Prinzessin Stephanie (Sophia Keiler) wird auf der Flucht vor familiären Heiratsplänen zum Star-Mannequin und macht bei effektvollen Auftritten an der Riviera die Mode aus Berlin zum „Geheimtipp“. Der leicht vertrottelte Baron (László Varga) hält seine flotte Gattin (Maria Rüssel) für die Unschuld vom Lande, während die sich mit dessen ins Prinzen-Klischee überzeichneten Chef einlässt (Christian Wincierz). Jakob Hofmann macht sich als Schuhfetischist Hektor erst zum Deppen, kriegt dann aber die Prinzessin, die er zunächst nicht für echt hält. Schließlich darf auch noch Leander de Marel der verrückten Personage einen wunderbaren (echten) Fürsten im langen Glitzernden hinzufügen.

Gegen Ende lässt die Regie in einem kurzen Auftritt den Egon-Fürst-Interpreten aus den Zwanzigern, Curt Bois, einen Bogen vom Jahr 1923 ins Jahr 2023 schlagen, bei dem einem kurz der Atem stockt. Letztlich passt auch das in diese temporeiche, witzige und mitreißende Audienz beim „Fürsten von Pappenheim“.

Dr. Joachim Lange

„Der Fürst von Pappenheim“ (1923) // Operette von Hugo Hirsch

Infos und Termine auf der Website des Eduard-von-Winterstein-Theaters

Von Vögeln und Liebeskummer

Darmstadt / Staatstheater Darmstadt (Dezember 2023)
Donizettis „L’elisir d’amore“ als federleichte Petitesse

Darmstadt / Staatstheater Darmstadt (Dezember 2023)
Donizettis „L’elisir d’amore“ als federleichte Petitesse

Fast könnte man meinen, man sei in der „Zauberflöte“ gelandet oder Papageno habe sich in eine Donizetti-Komödie verirrt. Die Ouvertüre wird mit dem bunten Treiben von Zeichentrick-Vögeln unterlegt. Der junge Mann, der dann das gesamte Stück über von der skurrilen Vogelpuppe eines Wiedehopfs („Upupa“) als Alter Ego begleitet wird, heißt hier aber Nemorino, obwohl er mit seinen türkisfarbenen Strähnen in der buschig-zerzausten Haarmähne sowie dem weiten Rüschenhemd zur in Pastellfarben bunt gestreiften Hose glatt als Mozarts Vogelfänger durchgehen würde.

Nicht nur bei seiner Kleidung, auch sonst ist in dieser Produktion alles in Pastell gehalten, von den in die Tiefe gestaffelten rosafarbenen Rundbögen des Bühnenbilds (Philip Rubner) bis zu den Kostümen von Sarah Antonia Rung, die eine Mischung aus Flower-Power und „Alice im Wunderland“ bieten. Der Quacksalber Dulcamara etwa sieht mit Zylinder, buntem Gehrock und Gesichtsschminke aus wie ein Vetter von Jonny Depp als „verrückter Hutmacher“ in Tim Burtons Lewis-Caroll-Verfilmung. Die Inszenierung von Geertje Boeden macht aus dem „Liebestrank“ aber kein schräges Fantasy-Stück, was reizvoll wäre, sondern inszeniert mit leichter Hand und ohne Zuspitzung am Libretto entlang – auch die Regie ist gleichsam in Pastell gehalten. Vogel- und Handpuppen werden mit dezentem Humor als stumme Kommentatoren und vorgebliche Einflüsterer so dosiert eingesetzt, dass sie das Geschehen nicht dominieren. Als einzige Extravaganz sticht ein Oktopus-Kostüm für Adina im zweiten Aufzug heraus, welches prompt mit spontanem Beifall belohnt wird.

Das Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung von Johannes Zahn präsentiert einen blitzsauberen Klang mit schönen Bläsersoli, der den Sängern gleichsam den Teppich für ihre Belcanto-Kunststücke ausrollt. Der spielfreudige Chor fügt sich adäquat hinzu.

Glück im Unglück hatte das Staatstheater Darmstadt damit, dass der vorgesehene Sänger des Nemorino erkrankte, dies aber rechtzeitig genug, um einen Einspringer mit ausreichend Vorlauf mit den szenischen Anforderungen vertraut zu machen. Matteo Roma fügt sich daher so souverän in die Inszenierung ein, als sei er immer schon für diese Rolle vorgesehen gewesen. Stimmlich präsentiert er sich in guter Form mit einem schlanken und höhensicheren Tenor, der nach der Wunschkonzert-Arie „Una furtiva lagrima“ mit starkem Zwischenapplaus gefeiert wird. In der Publikumsgunst steht ihm dabei Juliana Zara als Adina in nichts nach, die mit klarem Sopran mühelos ihre Koloraturketten serviert, deren Stimme jedoch eher klein ist und bei aller jugendlichen Frische ein wenig an Individualität vermissen lässt. Fast zu edel singt Johannes Seokhoon Moon mit seinem runden Bariton den Dulcamara. Julian Orlishausen dagegen legt den Belcore handfester an, den das Produktionsteam mit einem roten Torero-Kostüm farblich deutlich absetzt und dazu eigentümlicherweise mit einer Perücke ausstaffiert, die einen antiken griechischen Helm nachbildet.

Die Federleichtigkeit dieser Produktion könnte man als zu harmlos empfinden. Das Premierenpublikum jedenfalls ist davon begeistert.

Dr. Michael Demel

„L’elisir d’amore“ („Der Liebestrank“) (1832) // Melodramma giocoso von Gaetano Donizetti

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Darmstadt

Der Teufel als Clown

Rom / Teatro dell’Opera di Roma (November 2023)
Boitos „Mefistofele“ überwältigt musikalisch – und kapituliert szenisch

Rom / Teatro dell’Opera di Roma (November 2023)
Boitos „Mefistofele“ überwältigt musikalisch – und kapituliert szenisch

Simon Stone für die Eröffnungsproduktion der Opernsaison in Rom, Arrigo Boitos „Mefistofele“, zu engagieren, ist durchaus ambitioniert. Ein inszenatorischer Selbstläufer für die mit Madrid koproduzierte Oper ist das gleichwohl nicht.

Der vor allem als Librettist Verdis bekannt gebliebene vielseitige Boito (1842-1918) hat eine der großformatigen „Faust“-Versionen für die Opernbühne hinterlassen, bei der er seine Affinität zu Wagner nicht zurückhielt. Das betrifft die massiven Chöre, die Bläser und das ganze schwergewichtige Pathos. Selbst in der heute gängigen Fassung von 1875 lässt sich erahnen, warum die mehr als doppelt so lange siebenstündige Erstfassung 1868 in Mailand durchfiel.

Auf die ganz große Operngeste setzt jetzt auch Michele Mariotti am Pult des Orchestra del Teatro dell’Opera di Roma. Dabei hat er die Klangmassen und deren Überwältigungspotenzial gut im Griff. Und ihm steht ein Ensemble zur Verfügung, das dabei nicht untergeht, sondern stets profiliert wahrnehmbar bleibt. Vor allem Bassbartion John Relyea mit seinem profunden und wohlklingenden Timbre als Mefistofele und Joshua Guerrero als prägnanter tenoraler Widerpart Faust überzeugen mit vokaler Präsenz. Aber auch Maria Agresta macht mit leuchtendem Sopran die beiden Faust-Frauen Margherita und Elena zu vokalen Glanzstücken. Sofia Koberidze ist eine adäquate mezzosatte Ergänzung als Marta und Pantalis. Musikalisch ist dieser „Mefistofele“ vor allem auf Überwältigung aus und das gelingt auch auf hohem Niveau.

Vielleicht hat ja Simon Stone für Rom andere Maßstäbe angelegt als für seine Arbeiten für die Schauspiel- und Opernbühnen in Basel, Wien, München oder Salzburg. Die szenische Abstraktion, mit der er und seine Ausstatterin Mel Page an die Collage aus Goethes „Faust“ herangehen, schafft es nicht über eine oberflächliche Bebilderung hinaus (die vor allem bei den Frauen sogar an die italienische TV-Ästhetik erinnert). In der Personenregie des von Ciro Visco präzise einstudierten Chors streckt Stone sogar gleich die Waffen und beschränkt sich aufs brave Aufmarschieren des (wolken)weiß gekleideten Personals. Mefistofele pirscht sich zunächst als Clown verkleidet an Faust heran, begibt sich wie Faust und Margherita mit Marta nicht in den Garten, sondern in ein albernes Möbelhaus-Bällebad, zelebriert in der Walpurgisnacht das Schlachten eines Schweins und imitiert auch andeutungsweise das berühmte cineastische Spiel des Großen Diktators mit der Weltkugel. In der Kerkerszene doppelt er gar hinter einer Spiegelwand die tragischen Todesfälle, die Margherita verursacht hat, in kurzen pantomimischen Szenen. Dass im vierten Akt Bewaffnete von heute in der Antike auftauchen und schließlich alles in einem himmlisch weißen Pflegeheim-Ambiente endet, passt zwar irgendwie, kann die Inszenierung als Ganzes aber auch nicht retten.

Roberto Becker

„Mefistofele“ (1868/75) // Oper von Arrigo Boito

Gesellschaftskritisches Grusical

Dresden / Staatsoperette Dresden (Oktober 2023)
Sondheims „Sweeney Todd“ in die Jetztzeit gebeamt

Dresden / Staatsoperette Dresden (Oktober 2023)
Sondheims „Sweeney Todd“ in die Jetztzeit gebeamt

Das Regieteam rund um den bekennenden Sondheim-Fan Martin G. Berger transportiert die an sich im London des Jahres 1846 angesiedelte Handlung von „Sweeney Todd“ gekonnt ins Heute und macht aus dem gruseligen Stoff des mordenden Barbiers eine scharfe Kapitalismuskritik. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, dieses Brecht-Zitat wird gleich zu Beginn der Vorstellung auf den Gittervorhang der Staatsoperette Dresden projiziert. Der trennt die Welt des Normalbürgers in moderner Alltagskleidung sowie das Prekariat dieser und vergangener Zeiten in schmutziger Arbeitskluft von den in Gold gewandeten „Reichen“, der Oberschicht.

Die zu Beginn auf Deutsch angestimmte „Ballade von Sweeney Todd“ erzählt zügig die Vorgeschichte der Handlung: Ein reicher Richter voller Macht findet Gefallen an der schönen Frau des aufrechten Barbiers Benjamin Barker und nutzt seine Position aus, um diesen ins Exil zu schicken und sich ihrer zu bemächtigen. Musikalische Versatzstücke dieser Ballade geleiten den Zuhörer durch das Stück. Das nimmt mit der Begegnung zwischen der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett und dem ehemaligen Barbier, der nach 15 Jahren nach London zurückkehrt, so richtig Fahrt auf.

Lovett, wunderbar verkörpert von Silke Richter, ist ein Unikum und hat den richtigen Riecher, um die Rachsucht des Barbiers mit ihrem Geschäftsmodell zu verknüpfen. Sie hat sein Rasiermesser aufbewahrt – und so nimmt das in Dresden unblutige Morden aus Rache seinen Lauf und füllt zugleich die Pasteten und Kassen der Bäckerin, die schon bald von Wohlstand träumt. Hinrich Horn als Sweeney Todd ist ihr ein gleichwertiger Partner. Das Orchester unter der Leitung von Peter Christian Feigel durchschreitet sicher Sondheims komplizierte Partitur. In den Nebenrollen überzeugen Dimitra Kalaitzi als Bettlerin, Elmar Andree als gieriger Richter Turpin und Julie Sekinger als Begierde-Objekt des Richters. Am Ende findet auch dieser endlich den Tod durch Sweeneys Messer – aber erst, als es bereits zu spät ist, merkt Sweeney, dass seine Rachsucht auch Menschen trifft, die er liebte …

Mareile Flatt-Baier

„Sweeney Todd, the Demon Barber of Fleet Street“ (1979) // Musical Thriller von Stephen Sondheim

Infos und Termine auf der Website der Staatsoperette Dresden

Schatten zu werfen, beide erwählt!

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2023)
Richard Strauss’ „Frau ohne Schatten“ in sängerischer Traumbesetzung und orchestraler Meisterleistung

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2023)
Richard Strauss’ „Frau ohne Schatten“ in sängerischer Traumbesetzung und orchestraler Meisterleistung

Überschattet ist die nach vier spannungsreichen Stunden laut umjubelte Premiere am 17. Oktober 2023 von der geopolitischen Krise zwischen der Hamas und Israel: höchste Terrorwarnstufe in Frankreich, Polizeipräsenz direkt vor der Oper, die Premierengäste und deren Taschen werden beim Einlass gründlich gefilzt. Diese beklemmende Atmosphäre setzt sich in Form einer nebulös-mysteriös-leidvollen Düsternis auch „drinnen“ auf der Bühne fort – erhellt am Ende allerdings durch die himmlische „Übermacht“ einer unter dem Dirigat von Daniele Rustioni musikalisch überwältigenden, glaubwürdigen Inszenierung. Kein Wunder, setzt bekanntlich der im Titel beschworene „Schatten“ (Symbol für das Mutter werden können) bzw. dessen Fehlen und Stehlen das vielschichtige, symbolisch aufgeladene und märchenhafte Geschehen im 1919 uraufgeführten Gemeinschafts-Kunstwerk von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal in Gang: bis heute eine enorme Herausforderung selbst für große Häuser.

Als filmversierter Musiktheater-Regisseur sucht und findet Mariusz Treliński in der überwältigend farbigen, explosiv aufgeladenen Partitur die gekonnt zwischen Schwarz und Weiß platzierten Nuancen, die er benötigt, um ein schlüssiges Psychogramm der zur emphatischen Kaiserin gewandelten Tochter des Geisterkönigs Keikobad zu modellieren. Kongenial führt Fabien Lédé die beiden Lebensräume von vornehm kühler Geister- und prekärer Menschenwelt auf seiner materialreich gestalteten Drehbühne zusammen, in der ein sich allmählich auflösender Palmenwald das symbolische Versprechen von Gerechtigkeit und Freiheit stemmt. Das Badezimmer wird zum geheimnishütenden Rückzugsort der Frauen und damit zur raffinierten Verbindungsbrücke beider Sphären samt magischer, die Suizid-Gedanken offenlegender Spiegelbild-Projektionen.

Die Sopranistin Sara Jakubiak besitzt genau das dramatische Potenzial, um sich auf das Risiko eines Ausbruchs aus der existentiellen Versehrtheit und seelischen Verzweiflung der Kaiserin einzulassen. Höchst souverän stellt sie sich in allen Lagen dem Abenteuer, das es bedeutet, die Isolation im eisig-sterilen Ehegemach zu beenden, den jagdfreudigen Gatten (Vincent Wolfsteiner) vor der drohenden Versteinerung zu bewahren und sich damit auf die Mensch-Werdung und den Verzicht der geisterweltlichen Privilegien einzulassen – und sich en passant der dominanten Amme zu entledigen. Für diese Rolle ist in Lindsay Ammann eine Idealbesetzung gefunden: ein Kontrollfreak in Gouvernanten-Gestalt, deren Unerbittlichkeit die Mezzolage in nahezu markerschütternde Abgründe vertieft. Die Schwester im Geiste der unerfüllten erotischen Wünsche und Mutterschafts-Nöte trifft die Kaiserin in einem recht vermüllten Milieu, in dem alle Hoffnung auf bessere Zeiten endgültig begraben scheint. Der Daseinsfrust der Frau des Barak ist offensichtlich – intensiv und detailverliebt gestaltet Ambur Braid diese anspruchsvolle Rolle, für die ihr ein Opern-Oscar sicher wäre. In diesem herausragenden Trio stimmlicher Frauenpower behauptet sich Bassbariton Josef Wagner als betörender, ja sensationeller Barak. Er gibt alles, um seine Frau zurückzuerobern, bezirzt sie mit Konfekt und das Publikum mit seinem ausgefeilt-selbstbewusst beherzten Timbre. Ein Charme, der am Ende auch die ungeborenen Kinder an die Festtafel lockt, zu der versöhnlich das in Würde und Frieden gealterte Kaiserpaar geladen hat. Konsequent, dass es hier für die Kaiserin allerdings nur ein Quasi-Happy-End gibt: Sie bleibt allein nur mit einer trostspendenden Puppe auf ihrem Ehebett zurück.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Die Frau ohne Schatten“ (1919) // Oper von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website der Opéra de Lyon

Lachen gegen den Geist der Zeit(en)

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2023)
Mel Brooks’ „The Producers“ als scharfsinniges Fest der politischen Inkorrektheit

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2023)
Mel Brooks’ „The Producers“ als scharfsinniges Fest der politischen Inkorrektheit

2001 hat Mel Brooks aus seinem Film „Frühling für Hitler“ (1968) das Musical „The Producers“ gemacht. Dominik Wilgenbus inszeniert es jetzt in der Musikalischen Komödie und landet damit einen Volltreffer. Es geht um den Versuch, bewusst einen Broadway-Flop zu produzieren und dafür die mieseste Story dem schlechtesten Regisseur anzuvertrauen. Dank der Verluste sollen keine Sponsorengelder an die alten Damen zurückgezahlt werden müssen, denen der einst erfolgreiche Broadway-Produzent Max Bialystock (Patrick Rohbeck) viele Dollars abgeluchst hat. Gemeinsam mit seinem Buchhalter Leo Bloom (Nick Körber) entscheidet er sich für „Frühling für Hitler“ von Franz Liebkind (Michael Raschle). Ein Alt-Nazi, der seine Brieftauben Hermann, Josef, Heinrich, Eva, Björn (sic!) und Adolf nennt und seinen „Führer“ natürlich selbst spielen will. Weil er sich aber die Knochen bricht, kommt der oberschwule Regisseur Roger deBris (hinreißend: Andreas Rainer) dazu, in dieser Rolle die Revue-Treppe herab zu „schwuchteln“. Und der Plan der beiden geht natürlich gründlich schief: Das Hitler-Stück wird ein voller Erfolg …  

So wie diese Inszenierung, die dank Michael Nündel und dem MuKo-Orchester, dem von Mirko Mahr choreografierten Ballett und dem von Mathias Drechsler einstudierten Chor und Extrachor in jeder Hinsicht fabelhaft verpackt auf die Bühne kommt. Wilgenbus und seine Kostümbildnerin Uschi Haug bleiben den cineastischen und Broadway-Vorbildern branchenüblich dicht auf den Fersen. Peter Engel nimmt sich bei der Bühne einige Überzeichnungsfreiheiten mit angedeuteten offenen Räumen. Ein paar Pointen jubelt die Regie dem originalen Jahr des Geschehens 1959 aber doch unter. Wenn da ein „Vogelschiss“ mit einer Hakenkreuz-Armbinde verdeckt wird oder beim Casting für die Hauptrolle ein Bewerber im „Höckepack“ zu zweit auftritt, hat das Publikum keine Mühe damit, die Zielscheibe des Spottes zu erkennen.

„The Producers“ wird so zu einem Feuerwerk des Slapsticks und der perfekten Tanznummern, vor allem aber der Pointen und Anspielungen: von der Weltkugel des „Großen Diktators“ bis zu einem „Heil mir selbst“. Der Auftritt von Nora Lentner als schwedische Ulla ist genauso perfekt wie die der alten Ladys, denen Bialystock die Schecks aus den Unterhöschen fingert. Dass einem beim Swastika-Ballett oder dem Auftritt von Ivo Kovrigar als blondem Sturmtruppenmann auch mal der Atem stockt, erinnert direkt an die erste Silbe im Wort Totlachen, das auch über diesem Stoff schwebt. Es funktioniert aber, weil dieses Stück ein Publikum voraussetzt und antrifft (!), das immer noch klug genug ist, historische Bezüge herzustellen und keines woken Übereifers bedarf, um vor dem Anblick eines Hakenkreuzes beschützt zu werden. „The Producers“ ist ein Stück gegen jeden Frühling für Hitler. Aber auch eins gegen jedes Gebot einer eifernden politischen Korrektheit, die doch nur eine Form von Selbstzensur ist. Der selbstbewussten jüdischen Gewitztheit eines Mel Brooks sei Dank.

Dr. Joachim Lange

„The Producers“ (2001) // Musical von Mel Brooks

Infos und Termine auf der Website der Oper Leipzig

Familienreise zum Mond

Wien / Volksoper Wien (Oktober 2023)
Offenbachs Märchenoper wird zum vielseitig gelungenen Ereignis für Jung und Alt

Wien / Volksoper Wien (Oktober 2023)
Offenbachs Märchenoper wird zum vielseitig gelungenen Ereignis für Jung und Alt

Spielerisch leicht werden an der Volksoper Wien die ganz großen Themen verhandelt: Generationenkonflikte, Verantwortung füreinander, Respekt vor der Obrigkeit, Liebe, Umweltschutz und letztlich die Frage, wie lebenswert unser Planet ist und ob es eine Alternative gibt. All das steckt in Jacques Offenbachs Märchenoper „Die Reise zum Mond“ – oder zumindest hat der französische Regisseur Laurent Pelly all das daraus gemacht. Seine Inszenierung, die bereits Anfang des Jahres an der Pariser Opéra Comique zur gefeierten Premiere kam, ist jetzt auch in Wien zu sehen: als deutsche Erstaufführung mit einem gelungenen deutschen Libretto (Übersetzung: Stephan Troßbach).

Pelly macht – wie bereits in Paris – den künstlerischen Nachwuchs zu den Stars der Produktion, indem er den Kinder- und Jugendchor sowie das Opernstudio der Volksoper einsetzt. Die Handlung basiert lose auf Erzählungen von Jules Vernes: Prinz Caprice soll von seinem Vater König Zack (im Original Roi Vlan) die Krone übernehmen, hat aber so gar keinen Bock. Stattdessen will er – wohin auch sonst – zum Mond. Einmal in den Kopf gesetzt, kann ihm das niemand mehr ausreden und der Hofgelehrte Mikroskop und sein Vater müssen per Kanone mitkommen – herrlich ironisch frohlockt das Volk: „Schießt den König auf den Mond.“ Dort verliebt Caprice sich in Prinzessin Fantasia, was ihrem Vater, König Kosmos, gar nicht gefällt, da die Liebe auf dem Mond eine Krankheit ist. Das ändert sich, als Fantasia einen von Caprice mitgebrachten Apfel probiert, durch den sie plötzlich Liebe spüren und verstehen kann. Danach explodiert noch ein Vulkan, was aber niemanden verletzt, und schließlich bestaunen alle ehrfürchtig die aufgehende Erde und fragen sich, ob dieser blaue „Stern“ nicht eine neue (alte) Heimat sein könnte.

Neben der Regie sorgt Laurent Pelly auch für fantasievolle Kostüme: zum Beispiel bei den Mondlingen mit individuellen planetaren Hüten und Reifröcken – König Kosmos herrlich witzig kugelrund. Apropos Optik: Das Bühnenbild (Barbara de Limburg) fasziniert ab der ersten Szene, in der eine amorphe Masse in dunkelgrauen Anzügen mit einheitlichen Designerbrillen und Smartphones sich ihren Weg durchs Plastikmüll-Gebirge bahnt. Die Welt scheint eindrucksvoll verloren.

Musikalisch kommen Offenbach-Fans voll auf ihre Kosten: Operetten-Flair mit Strauss’schen Walzer-Anklängen. Schauspiel und Sprechtext werden qualitativ sehr unterschiedlich dargeboten – von etwas zu aufgesetzt und teilweise unverständlich (Aaron Casey Gould) bis großartig komisch und überzeugend (Christoph Stocker). Gesanglich werden hingegen durchweg solide Leistungen abgeliefert. Der hervorragende Chor trägt die vielen schwungvollen Operettennummern, solistisch ist Alexandra Flood (Prinzessin Fantasia) mit ihrem klaren Gesang bis in die Höhen hervorzuheben, die auch beim Apfel-Duett gemeinsam mit Aaron Casey Gould (Prince Caprice) traumhaft schöne Harmonien entstehen lässt. Dirigent Alfred Eschwé hat hörbar Freude daran, Offenbach gemeinsam mit dem Orchester fein auszudifferenzieren und schon bei der Ouvertüre äußerst passende Akzente bei Tempo und Lautstärke zu setzen.

Der Zusatz „Oper für die ganze Familie“ sollte niemanden abschrecken, denn sowohl Musik als auch Inszenierung sind kindgerecht, aber auf keinen Fall kindisch. Sogar der frivole Offenbach scheint immer wieder durch. Politisch und dennoch leicht, beschwingt und nicht belehrend beschert uns Pelly einen unterhaltsamen Abend, der zum Nachdenken anregt.

Christoph Oscar Hofbauer

 „Die Reise zum Mond“ (im Original „Le voyage dans la lune“, Opéra-féerie, 1875) // Oper für die ganze Familie von Jacques Offenbach in einer Fassung von Laurent Pelly, Agathe Mélinand und Alexandra Cravero

Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien