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Rezensionen

Umjubelter Corona-Verdi

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2020)
Fiebernder Geniestreich „L’ultimo sogno“

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2020)
Fiebernder Geniestreich „L’ultimo sogno“

Es ist die bekannte „Traviata“-Geschichte. Und doch ist alles anders. Zwar agieren die vertrauten Verdi-Personen auf der Bühne und singen auch einige ihrer berühmten wunderbaren Arien, Duette und Ensembles. Zwar erklingen aus dem Orchestergraben Verdis aufregende Opernklänge. Und Violetta stirbt zum Schluss auch wie gewohnt mit so schrecklichen Hustenanfällen, dass man um die Stimme der Sängerin fürchten muss. Und doch erlebt man eine neue Oper. Was ist mit Verdis „La traviata“ in Kassel geschehen? Beharrlich hatte die Intendanz des Staatstheaters nach einer Wiederbelebung des Hauses gesucht. Und das unter Berücksichtigung der geltenden Corona-Regeln: Im Graben maximal 20 Instrumente, auf der Bühne Abstandsregeln einhalten und keine Pause. Kuriose Bedingungen für eine Oper, bei der leidenschaftliche Liebesszenen zur Essenz gehören und sich das Drama normalerweise über zweieinhalb Stunden erstrecken kann. In Kassel hatte man die unkonventionelle Idee, den in der Schweiz lebenden italienischen Komponisten Carlo Ciceri um eine Version der Oper zu bitten, die den aktuellen Bedingungen gerecht wird. Und diesem renommierten Musiker gelingt innerhalb von wenigen Wochen ein Geniestreich. Er verbindet Verdis Musik und eigene Klänge zu einer Collage mit dem Titel „L’ultimo sogno – Der letzte Traum/Annäherung an ›La traviata‹“. Das Bühnengeschehen fokussiert er auf Violetta. Die verbringt fiebernd die gesamte Zeit auf ihrem bodengleichen Matratzenlager. Immer wieder nähern sich in ihren rückschauenden Phantasien Personen des vergangenen Lebens dem Lager der hoch ansteckenden Tuberkulose-Kranken. Beklemmend aktuell schützen sie dabei Nase und Mund mit Taschentüchern. Und zugleich räumen im Hintergrund des kahlen Raumes (Bühnenbild Hermann Feuchter) in einer nicht enden wollenden Karawane Bedienstete alle luxuriösen Möbel aus dem Haus. Selbst vor dem Laken der Sterbenden machen sie nicht halt. Zuletzt ist Violetta nur noch ein Häufchen Elend, das auf der kahlen Matratze verreckt.

Bei aller hohen Qualität des gesamten Solistenensembles und des auf dem Rang positionierten Chores, gehört der Abend der überragenden Vlada Borovko. Die russische Sopranistin gehört zu den Shootingstars der internationalen Opernszene. Wer sie in Kassel erlebt, weiß, warum das so ist. Ohne Unterbrechung ist sie auf der Bühne präsent und fasziniert mit makelloser Stimmführung und einer vokalen Ausdrucksstärke, die berückend ist. Dabei zieht sie auch mit schauspielerischer Intensität in den Bann und gestaltet ihr inneres Verbrennen zu einem erschütternden Bild für das Scheitern ihrer Liebe zu Alfredo (mit bewegendem canto dramatico Giordano Lucà). Trotz der reduzierten Besetzung gelingt dem Orchester überzeugende Verdi-Musik. Die verwandelt sich aber immer wieder unmerklich in sphärische oder harte expressive Klänge, bei denen auch das rechts und links am Bühnenrand stehende umfangreiche Schlagzeug zum Einsatz kommt. Ein zurecht umjubelter Corona-Verdi, der auch nach der Pandemie Bestand haben wird.

Claus-Ulrich Heinke

„L’ultimo sogno – Der letzte Traum“ (Annäherung an „La traviata“) (2020) // Carlo Ciceri auf Basis der Oper von Giuseppe Verdi

Eingewickelt – ausgewickelt

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit der Collage „molto agitato“

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit der Collage „molto agitato“

Einkalkuliert war ein großer Frank-Castorf-Aufreger für Hamburg. Den haben die Anti-Corona-Regeln verhindert. Also kein „Boris Godunow“-Massenauflauf in der Staatsoper, sondern einige Nummern kleiner: eine musikalisch-szenische Collage unter dem Titel „molto agitato“ mit Musik von Georg Friedrich Händel, György Ligeti, Johannes Brahms und Kurt Weill.

Castorfs Regieausflüge in die Welt der Oper profitierten bislang von den kongenialen Drehbühnen-Konstrukten, die sein Ausstatter Aleksander Denic als assoziationsoffene Spiel- und Denkräume dafür erfand. In Hamburg ist nichts davon zu sehen. Hier versieht er die erdrückende Tiefe des Bühnenraumes nur sehr sparsam mit ein paar Versatzstücken. Eine Filmset-Ecke ganz hinten. Ein Spruchband mit den aufgesprühten Worten „Sex and Lies“. Eine US-Fahne, die Valery Tscheplanowa schwenkt und in die sie sich vielsagend ein- und aus der sie sich wieder auswickelt. Schließlich wird dieses nationale Symbol in Gestalt einer gewaltigen Lichtinstallation bis vor an die Rampe gefahren. In Flammen geht aber nicht das Sternenbanner, sondern „nur“ eine weiße Fahne auf.

Die Musik zur Auftakt-Choreographie mit Fahne liefert Händels „Ankunft der Königin von Saba“. Katharina Konradi, Jana Kurucová und Georg Nigl präsentieren dann neben einem hereingeschobenen Bühnenorchester effektvoll die Vokalisen-Emphase mit Ligetis „Nouvelles Aventures“ (1965). Nach den von Rupert Burleigh am Klavier begleiteten „Vier ernsten Gesängen“ von Brahms wechselt Tenor Matthias Klink gekonnt zu nachgespielten Folterszenen aus Quentin Tarantinos Gangsterfilm „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“, in denen auch Bariton Georg Nigl echt wienernd glänzt. Gemeinsam mit Konradi und Kurucová begleitet Nigl zu Ausschnitten aus Händels „Aci, Galatea e Polifemo“ einen über ihren Köpfen eingespielten sowjetischen Animationsfilm zum Thema. Mehr szenisch musikalisches Eigengewicht entfalten schließlich „Die sieben Todsünden“ in einer Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel. Hier brilliert Tscheplanowa mit beiden Persönlichkeiten der Anna auf ihrer Tour durch etliche US-Metropolen. Beim Dauerthema USA geht es natürlich auch um Gewalt und Sexismus, der Name Harvey Weinstein fällt. Die Requisite steuert auch noch einen Militär-Jeep bei…

Natürlich gibt es die bei Castorf unvermeidlichen, mit Bühnenkameras produzierten Livebilder auf der großen Leinwand im Zentrum der Bühne. Diesmal allenfalls routiniert, ohne wirklich eine neue Dimension zu erschließen. Für Kent Nagano am Pult seiner Musikerauswahl war es eher eine Eröffnung mit angezogener Handbremse. Wie sagte Intendant Georges Delnon vor der Vorstellung? „Die Hauptbotschaft ist: Wir spielen wieder!“

Roberto Becker

„molto agitato“ (2020) // Collage mit Musik von Georg Friedrich Händel, Johannes Brahms, Kurt Weill und György Ligeti

Seelensprache

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (September 2020)
Intelligent konzipierter Abend rund um Menottis „The Medium“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (September 2020)
Intelligent konzipierter Abend rund um Menottis „The Medium“

Eines haben die Kompositionen, die zur Spielzeiteröffnung nach langer, Corona-bedingter Pause an der Oper Frankfurt im Zusammenspiel mit Gian Carlo Menottis Oper „The Medium“ zu erleben sind, gemeinsam: Sie strahlen Hoffen, Trauer und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz aus. Zu Beginn betreten rund dreißig Männer die Bühne. Der „Gesang der Geister über den Wassern“ für acht Männerstimmen und tiefe Streicher von Franz Schubert ertönt, gefolgt von Johannes Brahms „Vier Gesängen“ für Frauenchor, zwei Hörner und Harfe. Beide Werke sind reizvolle, Naturromantik atmende Stücke, die besondere Klangfinessen der begleitenden Musiker einfordern. Dies gelingt vorzüglich unter dem achtsamen Dirigat von Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Brahms „Vier Gesänge“ erinnern an Wagners Spinnerlied aus dem „Fliegenden Holländer“. Frisch, jung, beherzt und fast knabenhaft tönt der in lange, schwarze Samtkleider gehüllte Frauenchor. Chorleiter Tilman Michael kann aus dem musikalisch Vollen schöpfen. Gute Deklamation, Textverständlichkeit und wohl geformte Konsonanten zeichnen diesen Opernchor aus, trotz der Masken, die sie tragen müssen. Der Zuhörer begreift, dass Musik Seelensprache sein kann, ja ist! Intelligentes dramaturgisches Kombinieren von Einaktern mit Kompositionen des abendländischen Chorgesangs geben dem manchmal zu sehr aufs Schauen fokussierten Publikum die Chance zu einem neuen, achtvollen Hinhören. Befreite Klänge folgen bei Witold Lutosławskis „Musique funèbre“ für Streichorchester, entstanden 1958 im Gedenken an den großen ungarischen Komponisten Béla Bartók. Das Solocello erhebt die Stimme. Schluchzende Sekunden, aufbegehrende Quinten bestimmen das Beklemmung hervorrufende Stück.

Dies ist eine gelungene Überleitung zu Gian Carlo Menottis Einakter „The Medium“. Regisseur Hans Walter Richter zeigt in psychologisch ausgefeilter, tiefgründiger Personenzeichnung die voneinander abhängigen Personengeflechte auf. Im gespenstisch dunklen Souterrain (Bühne: Kaspar Glarner) hält Spiritistin Madame Flora Séancen ab und wird durch zu viel Alkoholgenuss und Wahnvorstellungen verrückt. Claire Barnett-Jones singt und agiert exzellent – eine meisterhafte Fallstudie. Beeindruckend und die Entdeckung des Abends ist Gloria Rehm (Monica), die als liebessehnsüchtiges Wesen mit glasklarem, hellem, schwärmerischem Sopran aufwartet. Gut gesanglich aufeinander eingespielt und wohlig hysterisch ist das Séancen-süchtige Ehepaar Gobineau, Barbara Zechmeister und Simon Neal. Überzeugend mit mezzostattem Ton gestaltet Kelsey Lauritano ihre Partie der Mrs. Nolan. Marek Löcker brilliert in der stummen Rolle des angstbeladenen Toby. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Sebastian Weigle zaubert aus dem Graben energiegeladenes, hochdramatisches Feuerwerk. „Stets Gewohntes nur magst du verstehn: doch was noch nie sich traf, danach trachtet mein Sinn.“ Wotans Wunsch aus dem „Ring“ ging an diesem Abend in Erfüllung. Ein nachdenkliches, musikalisch stimmungsvolles Erleben.

Barbara Röder

„The Medium“ (1946) // Gian Carlo Menotti; kombiniert mit Kompositionen für Chor und Orchester von Franz Schubert, Johannes Brahms und Witold Lutosławski

Nur daheim ist auch keine Lösung 

Erfurt / Theater Erfurt (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit einem faszinierenden „Drunter und Drüber“

Erfurt / Theater Erfurt (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit einem faszinierenden „Drunter und Drüber“

Es ist keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Titel: „Drunter und Drüber“ – „ein musikalischer Abend in 10 Zimmern“, mit dem in Erfurt der Spielbetrieb im Haus wieder losgeht (die Saison beginnt dort immer schon im Sommer mit einem Domstufen-Spektakel). Was sich Sopranistin und langjähriges Ensemblemitglied Daniela Gerstenmeyer für ihr Haus ausgedacht hat, ist Musiktheater im besten Sinne. Unterschiedliche Musiknummern mit Szenen oder Absurditäten des Lebensalltages zu konfrontieren, hat Christoph Marthaler berühmt gemacht. 

Peter Leipold dirigiert unsichtbar im Bühnenhintergrund einen Ritt durch die Musikgeschichte, den er arrangiert hat. Die musikalischen Steilvorlagen für das Erfurter Protagonisten-Team finden sich bei Bach und Beethoven ebenso wie bei Mahler, Tschaikowski oder Johann Strauss (Sohn) und natürlich bei Rossini, Donizetti, Paganini und Verdi. Auf der Bühne (Ausstattung Mila van Daag) haben alle ihr eigenes Zimmer. In einem dreistöckigen Haus, dem die Fassade fehlt und von dem immer zwei Etagen zu sehen sind, können wir einem willkürlich ausgewählten Bevölkerungsquerschnitt beim Umgang mit der Selbstisolierung zusehen. Und zuhören.

Regisseur Markus Weckesser bietet dort lauter kleine Mikrodramolette mit Musik. Jeder der Bewohner hat einen Rollennamen, nebst Beruf und Geschichte. Sie sind traurig, verzweifelt, wütend, müssen mit Fress- oder Backattacken umgehen oder ihren 30. Geburtstag ohne Gäste feiern. Der Postbote bringt Pizza, die Sozialarbeiterin (Katja Bildt) schleppt immer wieder gehamstertes Toilettenpapier ran. Aber: Die Geigerin (Juliane Billeb) übt Paganini. Der Opernsänger (Brett Spraque) prüft, ob die Verführungskraft seines Verdi-Schmelzes noch funktioniert. Und der brave Architekturstudent (Caleb Yoo) wirbt mit Blumen und der Liebeserklärung des Fürsten Gremin an Tatjana um die Ballett-Tänzerin (Daniela Backhaus) in der Nachbarwohnung. 

Die geschickt gebaute Nummernfolge hat dramatische Steigerungen, aber auch ruhige Momente. Sie endet besinnlich mit „Der Mond ist aufgegangen“ von Johann Abraham Peter Schulz. Immerhin stimmt dieses besinnliche Stück das alte Rentner-Ehepaar in der Parterrewohnung an, das sich in der Krise trotz seiner vorher auf dem Esstisch montierten Plexiglaswand wieder näher gekommen war.

Dass die Musik zum Zeichen der Hoffnung auf Gemeinsamkeit werden kann, war schon klar, als der musikalische Funke von Beethovens „Mir ist so wunderbar“ (aus dem „Fidelio“), von „So muss allein ich bleiben“ aus der „Fledermaus“ oder von „Bella figlia dell’amore“ („Rigoletto“) übersprang und sich zu Ensembleszenen erweiterte. Man hätte dieser mit Jubel quittierten Bühnenquarantäne gerne noch länger zugesehen und -gehört.

Roberto Becker

„Drunter und Drüber“ (2020) // Collage mit Musik verschiedener Komponisten; Konzeption und Idee von Daniela Gerstenmeyer, Arrangements von Peter Leipold

Einsamkeitstheater einer Virtuosin

Berlin / Komische Oper Berlin (September 2020)
Dagmar Manzel in symbolistischer Parforce-Tour „Pierrot Lunaire“

Berlin / Komische Oper Berlin (September 2020)
Dagmar Manzel in symbolistischer Parforce-Tour „Pierrot Lunaire“

Zur Eröffnung der neuen Saison präsentiert die Komische Oper Berlin den dreiteiligen Abend „Pierrot Lunaire“ mit Dagmar Manzel als alleiniger Protagonistin. Man könnte meinen, dass diese Produktion als Antwort auf Corona in den Spielplan aufgenommen wurde, doch Hausherr und Regisseur Barrie Kosky betont in seiner Premierenansprache, dass sie bereits vor vier Jahren konzipiert wurde, als an das Virus noch nicht zu denken war. Nun passt das Programm in seiner Reduziertheit und Konzentration auf eine Person haargenau in ein Theater der Abstände und hygienebedingten Einschränkungen. Die Solo-Performance, die 75 pausenlose Minuten dauert, kombiniert die beiden Monodramen „Nicht Ich“ und „Rockaby“ von Samuel Beckett mit Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“. Minimalistisch beschränkt sich die Ausstattung von Valentin Mattka auf ein paar Möbelstücke, sparsam sind Koskys Regieanweisungen. Denn es braucht kein Beiwerk angesichts der raumfüllenden Präsenz und Ausdruckskraft von Dagmar Manzel.

Den Auftakt bildet „Nicht Ich“. Aus dem schwarzen Vorhang sticht allein ihr grell angeleuchteter Mund hervor. Satzfetzen und scheinbar zusammenhanglose Worte quellen aus ihm hervor. Was sie bedeuten, ist nur zu erahnen, doch spricht Verzweiflung und Panik aus ihnen. Es ist meisterhaft, wie die Schauspielerin den Redefluss kristallklar artikuliert, strukturiert und Kontraste zwischen Schrei und Stille schafft. Es folgt „Rockaby“, der Monolog einer sterbenden Frau. Jetzt sitzt Dagmar Manzel, gekleidet in ein langes schwarzes Gewand, in einem Schaukelstuhl und wippt fast ununterbrochen, während aus dem Off ihre Stimme eingespielt wird. Ruhig, fast monoton trägt sie die letzten Gedanken vor, die sich in ihrem steten eintönigen Fluss radikal vom nervösen Gestammel von „Nicht Ich“ abheben.

In dem von Arnold Schönberg vertonten Gedichtszyklus „Pierrot Lunaire“, der um rätselhafte Erlebnisse und schwebende Gemütszustände des traurigen Clowns kreist, lässt Kosky die alte Dame zum Kind werden. Im Matrosenanzug, einen Teddybären im Arm, schiebt Dagmar Manzel ein Bett auf die Vorderbühne, das mal als Hort der Sicherheit, mal als Ort des Schreckens dient. Die Stimmvirtuosin reizt alle Schattierungen des Sprechgesangs für diese symbolistische Gefühlswelt aus, findet für jede Strophe eigene Facetten und kann sich dabei auf die behutsame Begleitung durch die fünf Instrumentalisten unter der Leitung von Christoph Breidler stützen.

Am Ende, wenn das Licht allmählich erlischt, wird der Mund aus „Nicht Ich“ noch einmal sichtbar. Doch diesmal bleibt er stumm, man sieht nur noch Lippenbewegungen. Ein Kreislauf hat sich geschlossen. Dann brandet ehrfürchtiger Applaus für eine anbetungswürdige Singdarstellerin auf, deren Parforce-Tour man gebannt und fasziniert verfolgt hat. Leichtgewichtiger soll es weitergehen, so Barrie Kosky anschließend, und er kündigt zur Aufmunterung Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ an.

Karin Coper

„Pierrot Lunaire – Drei Monodramen“ // Melodram op. 21 (1912) von Arnold Schönberg sowie „Nicht Ich“ (1972) und „Rockaby“ (1981) von Samuel Beckett

Auf dem Nebengleis

Berlin / Deutsche Oper Berlin (September 2020)
Stefan Herheim kapriziert sich in der „Walküre“ auf Sekundäres

Berlin / Deutsche Oper Berlin (September 2020)
Stefan Herheim kapriziert sich in der „Walküre“ auf Sekundäres

Der Komponist hat seine Fluchtgeschichten. Sei es als politisch Verfolgter 1848er, sei es vor den Gläubigern aus Riga. Auf der Flucht befindet sich auch Siegmund. Zunächst allein, später mit Sieglinde. Brünnhilde betätigt sich als des Liebespaars Fluchthelferin vor Wotan. Der seinerseits der eigenen Verantwortung zu entkommen sucht. Stefan Herheim möchte aus alldem den Funken für die Geschichte migrierender Massen schlagen, die sich – auf der Bühne als Solisten und Statisterie gegenwärtig – durch den „Ring“-Mythos ihrer Identität versichern. Einige der Heimatlosen schlüpfen daher in die Rollen von Göttern, Wotanstöchtern und irdischem Personal, derer sie sich wiederholt aus dem auf dem allgegenwärtigen Konzertflügel bereitliegenden Klavierauszug vergewissern. Die Flüchtlingstragödie gebiert sich aus dem Geist der Musik, um final dorthin zurück zu sinken. So, wie Brünnhilde dem Instrument entstiegen war, in das sie von Wotan am Ende als ihrem Sarg gebettet wird. Freilich lenkt Herheim von der bedenkenswerten Grundkonzeption durch Aufstockung des „Walküre“-Personals ebenso wie durch Überbetonung zahlreicher Nebenaspekte ab. Zuallererst gilt das für die Hinzuerfindung eines „Hundinglings“, dem Sohn Hundings und der Sieglinde, der – von der Mutter gemeuchelt – in Walhall als Kumpan der auf dem Schlachtfeld hingerafften Helden den Wotanstöchtern in der Absicht der Vergewaltigung an die Wäsche geht. Freilich befremdet heftiger noch als derlei Zuviel an Redundanz, wenn Herheim das Gestische der Wagner’schen Musik in die Bewegung der Figuren zu übertragen sucht und dabei über antiquierte Zeigegebärden nicht hinausgelangt. Im Bild bleibt das Flüchtlingsgeschehen omnipräsent. Um den zentral positionierten Konzertflügel schichten Herheim und Silke Bauer eine Bühne aus zahllosen Koffern, Baustoff für die finster dräuende Behausung Hundings, ansonsten wie eine pittoreske Geröllhalde anzusehen. Mit ironischem Augenzwinkern erübrigen Uta Heisekes Kostüme für Siegmund Holzfällerhemd, für Brünnhilde Flügelhelm und Brustharnisch.

Musikalisch lässt sich der Abend cum grano salis ansprechend vernehmen. Donald Runnicles und das in der vollen von Wagner verlangten Stärke den Graben bevölkernde, ebenso wie die Solisten täglich Covid-19-getestete Orchester der Deutschen Oper Berlin spüren – des Monumentalformats seit Monaten entwöhnt – den großen Zusammenhängen der Partitur noch nach. Vokal beherrschen die Damen das Feld. Nina Stemme singt ihre Brünnhilde immer frisch auf schlanker, in leuchtende Höhen und schimmernde Tiefen mündender Bahn. Lise Davidsen stattet Sieglinde mit enormer Durchschlagskraft, reichen Farben und emphatischem Strahlen aus. Annika Schlicht verleiht Fricka ungewohnt glühende Leidenschaft. Die Herren erreichen nicht ganz diesen Standard. Baritonal grundiert, vermittelt Brandon Jovanovichs Siegmund nur wenig zwischen liedhafter Innigkeit und emotionalen Ausbrüchen. Der für Wotan allzu helle Bariton von John Lundgren gebietet kaum über die Ressourcen für einen intensiven Schlussakt. Andrew Harris setzt für Hunding besitzergreifende
Akzente.

Michael Kaminski

„Die Walküre“ (1870) // Richard Wagner

Neuer Stern am Barockhimmel

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2020)
Fulminanter Einstand mit Porpora-Rarität „Carlo il Calvo“

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2020)
Fulminanter Einstand mit Porpora-Rarität „Carlo il Calvo“

Eine fünfstündige Barockoper in Corona-Zeiten: Der Countertenor und Regisseur Max Emanuel Cencic hat auf seinem ersten neuen „Baroque“-Festival in Bayreuth ein Wunder vollbracht. Seine Entschlossenheit, Nicola Antonio Porporas unbekannte Oper „Carlo il Calvo“ ohne Kürzungen, Abstandsregeln und szenische Einschränkungen als Herzstück im prächtigen Markgräflichen Opernhaus zu präsentieren, damit das Publikum einmal fünf Stunden lang die Pandemie vergessen kann, zahlte sich aus. Und das noch dazu im restriktiven Söder-Bayern.

So einen langen Opernabend mit üppiger Ausstattung hat man seit dem Lockdown nicht mehr erlebt. Porpora – um zumindest ein paar Worte über den Komponisten zu verlieren – muss mindestens ebenso produktiv gewesen sein wie Händel, mit dem er 1733 um das Londoner Opernpublikum rivalisierte. Jedenfalls soll er an die 60 Opern geschrieben haben! „Carlo il Calvo“ handelt von einem verfeindeten Familienclan. Das Stück spielt zur Zeit der Karolinger und setzt nach dem Tod des Kaisers Ludwig dem Frommen ein. Aber der Konflikt, ein Erbstreit, der allerhand Grausamkeiten nach sich zieht, mutet so zeitlos aktuell an, dass das kaum wichtig ist. Der Transfer ins Kuba der 1920er Jahre gelingt jedenfalls allemal überzeugend. Im Zentrum steht Lottario, das korrupte Familienoberhaupt, fulminant von Cencic mit Weißhaarperücke als fieser Alter gemeistert. Er entführt seinen Halbbruder, den Titelhelden, und ist sogar bereit, den sechsjährigen Jungen – dem im Stück nur eine stumme Rolle zukommt – brutal ermorden zu lassen, damit sein Sohn Adalgiso (Virtuose mit ungewöhnlich langem Atem: Franco Fagioli) an die Macht kommt. Am Ende geht aber alles gut aus, weil Adalgiso, der Carlos Schwester Gildippe (mit lyrischer Schönheit in einer ihrer besten Rollen: Julia Lezhneva) liebt, sich gegen den Vater stellt und den in dieser Produktion nicht kahlen, dafür aber behinderten, kindergelähmten Carlo rettet.  

Die von Porpora an die Sängerinnen und Sänger gestellten Ansprüche sind immens: Seine Melodien und Arien schrauben sich nahezu ins Endlose fort, erfordern mithin große Ausdauer und langen Atem. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass Cencic seinem rundum vorzüglichen Ensemble, zu dem neben den Genannten auch Suzanne Jerosme als Carlos Mutter Giuditta zählt, im Szenischen nicht zu viel abverlangt. Dass die Produktion gleichwohl mitnichten statisch wirkt, verdankt sich einem raffinierten Kunstgriff: 18 Statisten als zusätzliche, weitverzweigte Mitglieder des Familienclans illustrieren das Geschehen auf der opulent, mit mehreren Räumen und herrlichen Blickfängen von Pflanzen und Ölgemälden ausgestatteten Hacienda (Bühne: Giorgina Germanou) mit Aktionen im Hintergrund. Darunter eine Oma im Rollstuhl, die sich über das Verscheiden der Bosse schieflacht. Und so wie bisweilen nicht nur in solchen Momenten schwarzer Humor mitschwingt, wird der Abend nie lang. Das griechische Barockorchester Armonia Atenea erwies sich bei alledem einmal mehr als eines der besten für solche Produktionen. Vom Cembalo aus musizierte George Petrou mit ihm schwungvoll, klanglich differenziert und elegant. 

Kirsten Liese

„Carlo il Calvo“ (1738) // Nicola Antonio Porpora

Gut gestylt

Chemnitz / Theater Chemnitz (August 2020)
Love and Rock im unverwüstlichen Musical-Klassiker „Hair“

Chemnitz / Theater Chemnitz (August 2020)
Love and Rock im unverwüstlichen Musical-Klassiker „Hair“

Eigentlich war für das Große Haus „Evita“ geplant. Corona-bedingt und Freiluftbühnen-kompatibel hat Chemnitz dann aber mit dem Broadway-Klassiker „Hair“ auf der Küchwaldbühne die Spielzeit eröffnet. Weil man bei der ursprünglich für „Evita“ gecasteten Musicalcrew farbige Darsteller „vergessen“ hatte, gab es einen Entrüstungssturm im Social-Media-Wasserglas. Es folgte eine Korrektur im Nachhinein und alles in allem ein respektabler Publikumserfolg zum Auftakt. „Hair“ ist längst ein Kassen-treffsicherer Klassiker. Es ist das rebellische „Make love, not war“ der 68er-Revolte in eine Folge von unverwüstlichen Hits übersetzt. Den Zeitgeist so auf den Punkt zu bringen wie hier bei Gerome Ragni, James Rado und Galt MacDermot, gelingt nicht oft. Heute hat das natürlich etwas Nostalgisches. Den ästhetisch und politisch revoluzzernden Hippielook von einst hat Sebastian Ellrich stilisiert nachempfunden. Elegantes Weiß zum knackigen Sixpack, viel Klunkern und Klimbim auch für die Männer. Bühnenbildner Sam Madwar hat für jeden Darsteller eine eigene Box auf der Bühne platziert – ein Setzkasten, den jeder von hinten kapern und der sich in der Mitte teilen kann. Das funktioniert fabelhaft für die Nummernrevue, die Regisseur Thomas Winter und sein Choreograph Jerome Knols mit leichter Hand pragmatisch auf die Bedingungen dieser Waldbühne zugeschnitten haben. Das Team modernisiert dezent stilisiert, verlässt sich aber vor allem auf die Überzeugungskraft der Songs und das Charisma der 14-köpfigen Crew.

Die im Hintergrund platzierte, vom Chemnitzer Kapellmeister Jakob Brenner geleitete sechsköpfige Band (Keyboard, Reed, Gitarren und Drums) liefert den Sound für die Songs, die es bei den wegen Corona auf 300 begrenzten Zuschauern natürlich nicht schwer haben. Und so schnurrt das Ganze in kurzweiligen 90 Minuten reibungslos ab. Ohne aufgesetzte Aktualisierung, aber doch mit dem Kriegstrauma im Zentrum. Einberufungsbefehle verbrennen war schon damals keine Lösung. So wenig wie blinde Wut gegen Polizeigewalt, Rassismus oder Trump.

Die Sehnsucht nach einer besseren Welt freilich ist noch heute ungebrochen. Und sei es im Zeichen des „aquarius“, des Wassermanns … „Hair“ erzählt von Menschen einer Generation, die gegen die Verhältnisse aufbegehren, die sie zu ersticken drohen. Die vom Militär in die Realität zurückgeholt werden, aber bei ihrer Botschaft von Liebe und Toleranz bleiben. Dieses Musical ist ihr Denkmal. In Chemnitz hat man bei allem Ernst vor allem seine Freude dran. An Tempo und Maß von Musik und Tanz. Und daran, wie jeder seine Chance bekommt, sich zu produzieren. Umständehalber ohne den ganz großen Ausstattungspomp. Dafür voll auf den Sound, die Hippies und ihr Sexappeal konzentriert. Im Moment ist das allerhand.

Joachim Lange

„Hair“ (1967) // Galt MacDermot

Mehr als ein Lebenszeichen

Bregenz / Bregenzer Festspiele (August 2020)
Impressionen von den „Festtagen im Festspielhaus“

Bregenz / Bregenzer Festspiele (August 2020)
Impressionen von den „Festtagen im Festspielhaus“

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Ideen – vor diesem Hintergrund muss man Elisabeth Sobotka und ihrem Team für diese Mehr-als-Notversion eines Corona-bedingt eingeschränkten Sommerspektakels gratulieren. Grund genug, dem auch eine außergewöhnliche Rezension folgen zu lassen – ausnahmsweise nicht beschränkt auf die zeitgenössische Oper „Impresario Dotcom“, der die höchste Aufmerksamkeit in dieser auf eine Woche reduzierten Festtage zuteilwurde. Das Auftragswerk von Ľubica Čekovská nach einer Komödienvorlage von Goldoni handelt von der prekären Situation arbeitsloser Sängerinnen und Sängern und leistet somit unwillkürlich einen Beitrag zur aktuellen Corona-Zeit. Die Handlung ist kurz wie eindrucksvoll: Ein ausbeuterischer Impresario verlangt, dass man unter Wasser singen müsse. Anfangs sträuben sich einige Künstler noch dagegen, aber in der Not unterwerfen sie sich beim Vorsingen den zerstörerischen Anforderungen. Regisseurin Elisabeth Stöppler hat das Stück minimalistisch eindrucksvoll umgesetzt, mit unheimlichen Videoprojektionen von Menschen, die im Aquarium ihre Münder bewegen und sich Corona-konform auf Abstand halten. Die Musik wirkte in ihrem experimentellen Charakter streckenweise zwar etwas monoton, aber dann und wann lässt sie aufhorchen, wenn die Komponistin Zitate aus Opern von Mozart, Gluck, Offenbach, Bizet und Verdi einbringt und diese einfallsreich verfremdet. Gesungen und musiziert wurde unter der Leitung von Christopher Ward am Pult der Vorarlberger Symphonieorchesters aufs Trefflichste.

Sehr kreativ reagierte auch ein Konzert unter dem Titel „Vocal Distancing“ mit dem Ensemble „The Present“ und dem Gitarristen und Lautenisten Lee Santana auf die Corona-Abstandsregeln. Das Ensemble ließ Alte und Neue Musik aufeinanderprallen und stellte sich dafür in variierenden Besetzungen räumlich unterschiedlich auf. Für die Sopranistin Hanna Herfurtner, die kurzfristig ihre Reise absagen musste, sprang Johanna Zimmer ein, die sich stupend mit einem vergleichbar schönen, luziden Sopran ins Ensemble einfügte und das schwierige Solo „Gebet“ von Sidney Corbett, das die Stimme stark strapaziert, souverän meisterte.

Den Höhepunkt markierte ein Liederabend mit den beiden Nachwuchssängern Anna El-Kashem (Sopran) und Johannes Kammler (Bariton), die Lieder von Hugo Wolf und Richard Strauss so nuanciert, ausdrucksreich und textverständlich darboten, dass man hätte meinen können, sie hätten bei Dietrich Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf studiert.

Für einen grandiosen Abschluss sorgten schließlich die Wiener Symphoniker unter Philippe Jordan mit einem Richard-Strauss-Programm. Der Abend offenbarte vielfach geprobte klangliche Finessen und eine sorgsam gepflegte Wiener Klangkultur. Dazu waren die Symphonischen Dichtungen „Don Juan“  und „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ angesichts rasanter Stimmungswechsel, einer gewissen Rauschhaftigkeit, durchsetzt mit anspruchsvollen Bläsersoli, die alle Solisten makellos darbrachten, ideal gewählt.

Kirsten Liese