Haben Sie „Ihren“ „Faust“ noch parat? In der aktuellen Augsburger Fassung der 1859 uraufgeführten Oper von Charles Gounod kein unbedingtes Muss – ganz unaufdringlich lädt das erstaunlich schlüssige Regiekonzept von Jochen Biganzoli in kühner Umdeutung dazu ein, längst fadenscheinige Rollenbilder wie das vom skrupellosen Verführer=Faust und der naiv-unschuldigen Schönheit=Margarethe zu überprüfen. Ein souveränes Solisten-Sextett, ein glänzend einstudierter und präsenter Opernchor und nicht zuletzt die von GMD Domonkos Héja mit Emphase und Prägnanz geleiteten Augsburger Philharmoniker machen die Hingabe an orchestrale wie vokale Opulenz zum großen Vergnügen.

Als kleine Sensation des Abends darf man ohne Übertreibung die koreanische Sopranistin Jihyun Cecilia Lee feiern, die ihre Rolle der Marguerite fulminant gestaltet. Strahlend bewegt sie sich in den dramatischen Höhen, berührend und intensiv kleidete sie Neugier, Leid, Scham und Enttäuschung aus, lässt ihre Arien virtuos funkeln. In Jacques le Roux als Faust hat sie einen ebenbürtigen, wandlungsfähigen Tenorpartner an ihrer Seite, der bebend-innige Emphase mit nötigem Volumen unterfüttert.

Und wie man es dreht und wendet, wo „Faust“ draufsteht, steckt tonangebend immer auch „Margarethe“ mit drin. Deutlich nimmt Biganzoli mehr Partei für das Schicksal der verführten, am Ende himmlisch bzw. selbst „geretteten“ Marguerite. Bis zur Pause stehen zwar die FAUST-Versalien im Fokus des Bühnengeschehens, das sich quasi aus dem Orchestergraben heraus szenisch formiert. Die männlichen Akteure tragen allesamt Frack, hängen lustlos und alkoholisiert umher, bis der Teufel Abhilfe anbietet und damit den Faust-Egotrip in Gang setzt, in dessen Verlauf natürlich auch Valentin (Wiard Witholt), Siebel (großartig gesungen von Natalya Boeva) und Marthe (Kate Allen) die Pläne und Wege durchkreuzen.

Die vom Pakt verheißene junge Schönheit findet sich als Harfenistin ebenfalls im Orchestergraben und wird zum erotischen Amüsement der Herren ins grelle Rampenlicht gestellt. Gounods Musik selbst wird zur Quelle, aus der sich die verhängnisvolle Liebesaffäre zum mitreißenden Strom entwickelt, in den Goethes einschlägig bekannte Figuren als definitiv hinterfragbare „Modellcharaktere“ eintauchen. Erst im zweiten Teil öffnet MARGARETHE ihren Raum, um entschiedenen Protest zu formulieren; zunächst im feministischen Kollektiv schwangerer Frauen, dann mit dem starken Bild des brennenden Kinderwagens und zuletzt mit einem sehr individuellen „Nein!“, mit dem sie sich endgültig und selbstbewusst den Fesseln männlich bestimmter Abhängigkeit verweigert. Der behutsam gedrehte Videofilm (Jana Schatz) führt parallel zum Live-Geschehen das Leben einer unauffälligen, einsamen jungen Frau und die Begegnung mit einem sympathischen jungen Mann auf den nächtlichen Augsburger Straßen vor und hält ergänzend zur theatralen eine realistische Sichtweise parat, die auch die Entwicklung von Marguerite auf der Bühne plausibel macht.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Faust“ (1859) // Oper von Charles Gounod

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