Wer will schon sagen, ob das nun wirklich eine Oper ist? Ein Drittel davon kommt ohne Worte aus, ist geradezu sinfonisch. Der Text beschränkt sich auf religiös inspirierte Sentenzen. Kein Wunder, dass dieser 1930 fertiggestellte „Antikrist“ nicht in der dänischen Heimat des Komponisten (und Texters) Rued Langgaard (1893-1952), sondern erst 1999 in Innsbruck uraufgeführt wurde.

Wenn Oper aber ein Gesamtkunstwerk ist, das Visualisierung von Musik in szenischer Form und die Erschaffung einer ganz eigenen Kunst-Welt einschließt, dann hat Regisseur und Ausstatter Ersan Mondtag ein beeindruckendes Exemplar der Gattung daraus gemacht. Mit sicherem Instinkt visualisiert er das Musikalische, was die expressionistische Bühne ebenso einschließt wie die Figuren, die organisch daraus hervorzugehen scheinen, oder die eingebauten Ballettsequenzen. Mit dem Choreografen Rob Fordeyn füllt er damit die Orchesterpassagen, die der Sinfoniker Langgaard in sein Bühnenwerk integriert hat.

Das umfasst anderthalb Stunden der Heimsuchung einer kaputten Welt in sechs Bildern nebst Prolog. Für das wütende Strafgericht, das über eine vom Glauben abgefallene Moderne hereinbricht, lässt Gott dem Antikristen eine Weile freie Hand für das Treiben von personifizierten Allegorien. Der Raum dafür ist ein expressiv gemalter, großstädtischer Straßenzug, den Monster aus den Höllen-Albträumen braver Christenmenschen bevölkern. Auch die Nachbildung eines gehängten übergroßen, nackten Menschensohnes mit weiblichem Geschlechtsteil hat man so noch nicht gesehen. Dessen Gesicht trägt die Züge des hier auf der Bühne als Stimme Gottes agierenden Schauspielers Jonas Grundner-Culemann, ein personifiziertes Gegenüber des Antikristen. Am Anfang nackt und blutverschmiert in diese Welt hineingeboren, macht er am Ende wieder als unschuldsnackter, jetzt aufrecht gehender Menschensohn dem Spuk ein Ende. Dazwischen treiben sie alle ihr Unwesen, in furchterregenden Kostümen und mit atemberaubender Stimmkraft. Von Thomas Lehman als Luzifer über Flurina Stucki als große Hure bis zu AJ Glueckert, der unter der Maske des Tiers in Scharlach ebenso wenig zu erkennen ist wie Andrew Dickinson als Lüge und Jordan Shanahan als Hass.

Auch wenn sich der Text – so wie er nun mal ist – nur ansatzweise erschließt, erlebt man dennoch einen großen Opernabend. Das liegt an Ersan Mondtag und dem Ensemble, aber auch am fabelhaften und mit Lust schwelgenden Orchester der Deutschen Oper, dessen Dirigent Stephan Zilias bei aller Überwältigungseuphorie auch auf Transparenz bedacht ist. Dass man neben musikalischer Beglückung auch eine Menge offener Fragen mitnimmt, ist nicht das Schlechteste.

Roberto Becker

„Antikrist“ // Kirchenoper von Rued Langgaard (revidierte Fassung von 1930, szenisch uraufgeführt 1999)

Infos und Termine auf der Website des Theaters