Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“
von Karlheinz Roschitz
All jene, die fordern, dass man Oper, Musik- und Sprechtheater oder Performance heute eigentlich als „Ort politischer und gesellschaftskritischer Selbstbefragung und künstlerischen Widerstandes“ verstehen sollte, bewundern Milo Rau wie einen Messias, weil er immer wieder selbstkritisch hinterfragt: Kann politische Kunst die Welt verändern? Und wie? Oder zementiert sie nicht eher die bestehenden Verhältnisse? Die New York Times nennt ihn den „kontroversesten Künstler unserer Zeit“, Amsterdams „De Standaard“ sprach vom „interessantesten Künstler“. Deutsche Kritiker feiern ihn als Künstler, dem es nicht mehr darum geht, die Welt darzustellen, sondern sie zu verändern, die Darstellung der Welt Realität werden zu lassen. Die „Zeit“ spricht vom „einflussreichsten, innovativsten Regisseur“, an dem man heute nicht „vorbei kann“. Und der Zürcher Tages-Anzeiger lobt: „Der Milometer ist inzwischen so etwas wie der Goldstandard der Postdramatik.“
Der Politisierung des Theaters ablehnend gegenüberstehende Kritiker und ein eher konservatives Publikum verdammen Raus konsequent analytische Inszenierungen allerdings als „modische Dekonstruktion“, ja als Zerstörung. So löste erst kürzlich Raus Inszenierung von Mozarts Dramma serio „La clemenza di Tito“, seine erste Opernregie, die 2021 am Grand Théâtre de Genève Premiere hatte und im Mittelpunkt der soeben zu Ende gegangenen Wiener Festwochen stand, bei Publikum und manchen Kritikern einen Sturm der Empörung aus. Blendete er doch in seiner „eingewienerten“ „Clemenza“-Version 18 Immigranten-Interviews ein: Vertriebene, die in einem Trailerpark-Ghetto ihr Dasein fristen, berichten über ihre Erfahrungen mit repressiven Systemen. Das Programm verkündete, dass hier „die wohlwollend engagierte Haltung des Herrschers Tito zu einer Strategie bloßer Selbsterhaltung, zur leeren Revolutionsfloskel verkommt“ und die umstrittene Mozart-Interpretation des Festwochen-Intendanten Rau eine „Kritik am bequemen Engagement […] der Menschen Wiens“ sei. Dass Wiens Opernfans das hören wollten, ist zu bezweifeln.
Globale Kunst
Milo Rau, 1977 geboren in Bern, ist ein prominenter, international vielgefragter Schweizer Theater-, Film- und nun auch Opernregisseur und war seit 2018 Intendant des NTGent. Ein ruheloser Erneuerer und Tausendsassa, der an mehreren Universitäten Kulturtheorie, soziale Plastik und Regie unterrichtet und 2017 die Saarbrückener Poetikdozentur für Dramatik innehatte. Er ist mit Rüdiger Safranski Star des „Literaturclubs“ des Schweizer Fernsehens. Seit 2002 veröffentlichte er etwa 50 Theaterstücke, Filme, Bücher, Aktionen, Tribunale, Schauprozesse, die beim Berliner Theatertreffen, beim Festival von Avignon, der Biennale von Venedig, bei den Wiener Festwochen und dem Brüsseler Kunstenfestivaldesarts großen Erfolg hatten. Neben Frank Castorf und Pina Bausch erhielt er den ITI-Preis des Welttheatertages, 2018 für sein Lebenswerk den Europäischen Theaterpreis, 2019 wurde er als erster Künstler Associated Artist der European Association of Theatre and Performance (EASTAP). 2023 wurde er künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen und Nachfolger des in Wien zu Unrecht nie voll akzeptierten und jetzt nach Brüssel zurückgekehrten Christophe Slagmuylder.
Milo Rau im Gespräch: ein charmanter, verheirateter Endvierziger, sprühend vor Energie, immer „am Sprung“, ein kritischer Analytiker, der zu allem humorvolle Einwürfe parat hat, ein „Agitator und linksradikaler Demokrat“, wie er selbst mit eher ironisch-süffisantem Lachen sagt; Rau: „Lenin hing an der Wand meines Jugendzimmers. Damit konnte man damals für richtig schlechte Laune sorgen. Mit 12 ließ ich eine Visitenkarte drucken, auf der Kommunist als Beruf stand.“
In seinen Ideen-Kombinationen ist er von großer Wendigkeit, ja Brillanz, egal ob er über antike Dramen und ihre Aktualisierung in seinen eigenen Übersetzungen, über gesellschaftliche Eliten und Bourgeoisie, Veränderung der Welt durch politische Kunst spricht oder sich über postkoloniale Ausbeutung alteriert. Er habe „PR-Strategien wie ein Spitzenpolitiker“, schrieb einmal ein Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über ihn und seine brillanten Krisen- und Kriegsreportagen aus Lateinamerika, Ruanda, dem Kongo, Syrien und Irak – und von der IS-Kriegsfront! Diese Reisen haben in seinen Theaterstücken ihren Niederschlag in einer „globalen Kunst“ gefunden – wie in „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda (2011/12), den „Moskauer Prozessen“ (2013/14) „Kongo Tribunal“ (2015), „Orest in Mossul“ (2019), „Antigone im Amazonas“ (2023). Oder dem 2023 in Genf uraufgeführten Musiktheaterwerk „Justice“ über einen grauenvollen Unfall in der kongolesischen Provinz Katanga, einem Requiem, das er vor kurzem beim erfolgreichen St. Pöltener Festival Tangente zeigte.
Kontroversen und Unvereinbares
Seit Herbst 2023 bastelt Rau an seinem spektakulären Fünf-Jahreskonzept für Wiens „Festival der Zukunft“ – und sorgte damit sofort für Widerstand und heftige Diskussionen bis hinauf in die Politiker-Etage. Aber nichts anderes hatte man vom Polit- und Regie-Enfant-terrible Milo Rau erwartet. Schon Monate vor dem Festivalstart kam es wegen eines Projekts zum Stellungskrieg zwischen der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und dem in Wien beliebten griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis. Rau wollte Jevhen Stankovychs ukrainisches Kaddish-Requiem „Babyn Jar“ über die Ermordung von 30.000 Juden in der Schlucht von Babyn unter Lyniv dem „War Requiem“ Benjamin Brittens unter Currentzis gegenüberstellen. Was die Ukrainerin Lyniv empörte: Sie wollte partout nicht gegen den – wie sie fand – Putin-Freund Currentzis antreten. Rau im Rückblick: „Es waren unvereinbare Positionen! Die Festwochen sollten aber ein Ort der Begegnung sein. Totalboykott halte ich für falsch, auch gegen russische Kunstschaffende. Currentzis hätte da seine Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausdrücken können.“
Danach wurde Rau wegen „israelfeindlicher Propaganda“ heftig angegriffen, wollte er doch zwei umstrittene Persönlichkeiten in seinen Festwochen-„Rat der Republik“ holen: die französische Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, die der möglicherweise antisemitischen BDS-Bewegung nahesteht, und den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der im Zank mit Deutschland wegen Antisemitismus mit Einreiseverbot belegt wurde. Und eine Woche vor der „Eröffnungsrede an Europa“ musste sogar der israelische Philosoph Omri Boehm in Interviews und im Fernsehen zu Verteidigungsreden antreten, etwa gegen den ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kulturgemeinde Österreichs, Ariel Muzicant, dem der versöhnliche Ton Boehms, der von der Utopie einer Aussöhnung zwischen Israeli und Palästinensern in einem Einheitsstaat träumt, zu provokant war. Muzicant meinte, er würde Eier gegen den Vortragenden werfen, wäre er jünger. Eine prominente Bank stieg als Sponsor aus.
Die Zweite Moderne
Milo Rau ist angetreten, um die Wiener Festwochen zu „aktualisieren“. Er attestiert dem Kulturbetrieb von heute „Diskurslähmung“ und fordert eine „Utopie des Handelns“. In einer Open-Air-Monsterveranstaltung vor dem Wiener Rathaus rief der „Wokeness-König und Moral-Apostel“ Rau die „Freie Republik der Wiener Festwochen“ aus. Er erklärte einen 100-köpfigen Rat der Republik zum Souverän und proklamierte Wien als wichtigste Experimentalstätte einer Zweiten Moderne: Musiktheater und Theater sollte „global, entgrenzt, utopisch, radikal politisch und radikal ästhetisch“ sein. In einer Wiener Erklärung stellt er Fragen zur Zukunft – so nach Erarbeitung einer Verfassung für das „Festival der Zukunft“ mit der Frage, wie viel Innovation und Tradition ein Festival heute brauche.
In den Mittelpunkt des Festivals stellte er „Wiener Prozesse“, nach den Muster-Gerichtsformaten seiner spektakulären Zürcher und Moskauer Prozesse und seinem Kongo Tribunal, vom Theater inspirierten Gerichtsprozessen, „Bühnenereignissen als Einübung in demokratische Praktiken“, wie er meint, bei denen in Veranstaltungen wie „Die korrupte Republik“, „Anschläge auf die Demokratie“ und „Die Heuchelei der Gutmeinenden“ Politiker, politisch-ökonomisch-mediale Komplexe, Klimafragen, die Freiheitliche Partei Österreichs usw. auf die Anklagebank kamen. „Ganz Österreich – vors Tribunal der Republik zitiert!“ „Wo Politik versagt, wo sie hinter lokalen Diskursgewinnen herjagt und die Worte entwertet, kann vielleicht die Kunst Abhilfe schaffen …“, findet Rau. „Wir KünstlerInnen leben, heute und vielleicht schon immer, am Hof des blinden König Ödipus. Wir müssen umso hellsichtiger sein, auch wenn die Explosionen der zahllosen globalen Konflikte blenden mögen.“
Ständige Erneuerung
Über seine künstlerische Arbeit, bei der Operninszenierungen in Zukunft mehr Platz bekommen werden, sagte Milo Rau in der Neuen Zürcher Zeitung: „Am glücklichsten bin ich, das zu tun, was ich nicht vorhatte. Ich selbst als Person bin im Zentrum des Ganzen nur panisch. Je größer die Sache, umso kleiner komme ich mir vor. Im Grunde besteht meine Kunst darin, das alles irgendwie zu überleben.“ Ein Künstler, der sich in ständiger Erneuerung befindet, der mit „dokumentarischen Theatersprengungen die Häuser füllt“. Ihm ist es gelungen, seine Kunst „aus dem Elfenbeinturm zu werfen“.
In seinem soeben erschienenen neuen, brillanten Essayband „Die Rückeroberung der Zukunft“ schreibt er sein ganz persönliches Bekenntnis, eine Liebeserklärung an die ständige Erneuerung, an das fortwährende Infragestellen von sich etablierender Kunst: „Wenn sich eine der Institutionen, die wir gründen, zu verfestigen beginnt, wenn ich spüre, dass der Moment des Aufstands in eine Ideologie der Sicherheit und Wiederholbarkeit übergeht, wenn aus Freundschaft Liebe wird, aus einer Situation ein Zustand, aus einer Besetzung Besitz – dann ist für mich der Zeitpunkt gekommen zu gehen.“ Doch er ist auch voll Optimismus, wenn er in seinen Texten über Kunst und Gesellschaft, „Grundsätzlich unvorbereitet“, ergänzt: „Dies ist was ich am Theater so liebe. Dass alle Irrtümer der Welt korrigiert werden können, wenn auch nur für einen Abend.“
Empfehlungen
Milo Rau:
„Grundsätzlich unvorbereitet.
99 Texte über Kunst und Gesellschaft“
224 Seiten, Verbrecher Verlag
Milo Rau:
„Die Rückeroberung der Zukunft:
Ein Essay“
176 Seiten, Rowohlt Buchverlag
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2024