Hof / Theater Hof (Juni 2024) Uraufführung von Patrick Cassidys „Dante“-Oper
Ein fast 50-seitiges Kompendium zu Dante Alighieris für die europäische Religions-, Geistes- und Kulturgeschichte zentralem Epos „Die Göttliche Komödie“ hat Dramaturg Thomas Schindler geschrieben – als Einführung zur Opernuraufführung des Theaters Hof. Diese Mühe hätte er sich sparen können. Denn die 95-Minuten-Partitur des Film- und Melos-erfahrenen Komponisten Patrick Cassidy (*1956) auf den Text von Operndirektor (und Intendant ab 2024/25) Lothar Krause ist selbst nichts anderes als die kompakte, didaktisch blendende und auf rationalen Zeitgeist getrimmte Multimedia-Einführung zum metaphysisch-spirituellen Kosmos Dantes aus dem 14. Jahrhundert.
Diese Uraufführung ist ein mustergültiges Projekt für die konsequent leistungsstarke Linie des Theaters Hof. In zwölf Spielzeiten hat der hier nochmals inszenierende Intendant Reinhardt Friese alles Machbare mit stabilem Publikumszuspruch ausgereizt: ambitionierte Musical-Produktionen, stark auf die Gegenwart ausgerichtetes Schauspiel und Krauses ambitionierten Opernspielplan von Philip Glass’ „Der Prozess“ bis zu David Carlsons „Anna Karenina“. Im für einen der heißesten Abende des Jahres gut besuchten Großen Haus zeigt sich das Publikum begeistert von dem beherzt komprimierten Gang Dantes durch Hölle, Fegefeuer und Paradies zu Beatrice, seinem Idol von irdischer und himmlischer Liebe. Dantes Gleichgewichtigkeit der Stadien im Epos von je 33 Gesängen für Hölle, Fegefeuer und Paradies wird in dem schwarzen, makabren, kannibalischen Spektakel mit vollem Chor (Leitung: Lucia Birzer) und Ballett (Choreografie: Barbara Buser) gebührlich aufgemotzt: Fast eine Stunde für die – zugegeben – thrillenden Höllensensationen, 25 Minuten Läuterungsberg, je zehn Minuten für Beginn und paradiesische Apotheose.
Annette Mahlendorf übernahm – assistiert von Kristoffer Keudels Videografie – die Ästhetik von Thriller-Bestsellern und „Da-Vinci-Code“ mit zackigen Reliefs um blutige Lettern, Sensenmann-Symbolik, Marionetten-Skeletten und einer klaren Zeichenhaftigkeit mit viel Schwarz, Rot und etwas Weiß. Die an diesem Abend von Michael Falk dirigierte Partitur Cassidys ist (erweiterte) Tonalität pur: ein wirkungsvolles und packendes Gemisch aus Puccinis fallenden Arienlinien, Philip Glass’ suggestiven Repetitionen und Begleitfiguren à la Johann Sebastian Bach, wenn es am Ende Richtung spirituelle Reinigung und Erlösung geht. Das hat einen gewissen Sog und bewegt sich durch die erkennbar kalkulierte Struktur dieser szenischen Opernkantate doch nicht zur dialektischen Reibung aus irdischer Erdenschwere und metaphysischer Entgrenzung, wie sie Dante in seinem den Papst getreuen Geisteskosmos darstellte.
Dante ist ein soldatisch gekleideter Jedermann und Beobachter, besetzt mit dem erstklassigen „Haustenor“ Minseok Kim: ein Wanderer von gleichmütiger Neugier auf der Reise zum Ich, zu seiner Geliebten im roten Kleid und zum hier nachtschwarzen Paradies. Inga Lisa Lehr glänzt mit persönlichkeitsstarkem Sopran so blendend wie vor wenigen Wochen als Anna Karenina. Den altrömischen Nationaldichter Virgil, Dantes Begleiter durch Hölle und Fegefeuer, gestaltet Stefanie Rhaue mit weißer und damit angemessen geheimnisvoller Aura. In zahlreichen Episoden-Partien machen Andrii Chakov, Thilo Andersson, Yvonne Prentki und alle anderen guten Eindruck. Nicht zuletzt ist diese aussagekräftige Intendanz-Stabübergabe von Reinhardt Friese an Lothar Krause auch ein ehrliches Bekenntnis für ein starkes Ensemble-Theater.
Roland H. Dippel
„Dante – From Inferno To Paradise“ (2024) // Oper von Patrick Cassidy