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Rezensionen 2024/04

Kompaktkurs in Jenseitskunde

Hof / Theater Hof (Juni 2024)
Uraufführung von Patrick Cassidys „Dante“-Oper

Hof / Theater Hof (Juni 2024)
Uraufführung von Patrick Cassidys „Dante“-Oper

Ein fast 50-seitiges Kompendium zu Dante Alighieris für die europäische Religions-, Geistes- und Kulturgeschichte zentralem Epos „Die Göttliche Komödie“ hat Dramaturg Thomas Schindler geschrieben – als Einführung zur Opernuraufführung des Theaters Hof. Diese Mühe hätte er sich sparen können. Denn die 95-Minuten-Partitur des Film- und Melos-erfahrenen Komponisten Patrick Cassidy (*1956) auf den Text von Operndirektor (und Intendant ab 2024/25) Lothar Krause ist selbst nichts anderes als die kompakte, didaktisch blendende und auf rationalen Zeitgeist getrimmte Multimedia-Einführung zum metaphysisch-spirituellen Kosmos Dantes aus dem 14. Jahrhundert.

Diese Uraufführung ist ein mustergültiges Projekt für die konsequent leistungsstarke Linie des Theaters Hof. In zwölf Spielzeiten hat der hier nochmals inszenierende Intendant Reinhardt Friese alles Machbare mit stabilem Publikumszuspruch ausgereizt: ambitionierte Musical-Produktionen, stark auf die Gegenwart ausgerichtetes Schauspiel und Krauses ambitionierten Opernspielplan von Philip Glass’ „Der Prozess“ bis zu David Carlsons „Anna Karenina“. Im für einen der heißesten Abende des Jahres gut besuchten Großen Haus zeigt sich das Publikum begeistert von dem beherzt komprimierten Gang Dantes durch Hölle, Fegefeuer und Paradies zu Beatrice, seinem Idol von irdischer und himmlischer Liebe. Dantes Gleichgewichtigkeit der Stadien im Epos von je 33 Gesängen für Hölle, Fegefeuer und Paradies wird in dem schwarzen, makabren, kannibalischen Spektakel mit vollem Chor (Leitung: Lucia Birzer) und Ballett (Choreografie: Barbara Buser) gebührlich aufgemotzt: Fast eine Stunde für die – zugegeben – thrillenden Höllensensationen, 25 Minuten Läuterungsberg, je zehn Minuten für Beginn und paradiesische Apotheose.

Annette Mahlendorf übernahm – assistiert von Kristoffer Keudels Videografie – die Ästhetik von Thriller-Bestsellern und „Da-Vinci-Code“ mit zackigen Reliefs um blutige Lettern, Sensenmann-Symbolik, Marionetten-Skeletten und einer klaren Zeichenhaftigkeit mit viel Schwarz, Rot und etwas Weiß. Die an diesem Abend von Michael Falk dirigierte Partitur Cassidys ist (erweiterte) Tonalität pur: ein wirkungsvolles und packendes Gemisch aus Puccinis fallenden Arienlinien, Philip Glass’ suggestiven Repetitionen und Begleitfiguren à la Johann Sebastian Bach, wenn es am Ende Richtung spirituelle Reinigung und Erlösung geht. Das hat einen gewissen Sog und bewegt sich durch die erkennbar kalkulierte Struktur dieser szenischen Opernkantate doch nicht zur dialektischen Reibung aus irdischer Erdenschwere und metaphysischer Entgrenzung, wie sie Dante in seinem den Papst getreuen Geisteskosmos darstellte.

Dante ist ein soldatisch gekleideter Jedermann und Beobachter, besetzt mit dem erstklassigen „Haustenor“ Minseok Kim: ein Wanderer von gleichmütiger Neugier auf der Reise zum Ich, zu seiner Geliebten im roten Kleid und zum hier nachtschwarzen Paradies. Inga Lisa Lehr glänzt mit persönlichkeitsstarkem Sopran so blendend wie vor wenigen Wochen als Anna Karenina. Den altrömischen Nationaldichter Virgil, Dantes Begleiter durch Hölle und Fegefeuer, gestaltet Stefanie Rhaue mit weißer und damit angemessen geheimnisvoller Aura. In zahlreichen Episoden-Partien machen Andrii Chakov, Thilo Andersson, Yvonne Prentki und alle anderen guten Eindruck. Nicht zuletzt ist diese aussagekräftige Intendanz-Stabübergabe von Reinhardt Friese an Lothar Krause auch ein ehrliches Bekenntnis für ein starkes Ensemble-Theater.

Roland H. Dippel

„Dante – From Inferno To Paradise“ (2024) // Oper von Patrick Cassidy

Infos und Termine auf der Website des Theaters Hof

Aufforderung zum Tanz

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2024)
„Adriano in Siria“ und „„Le Mariage forcé“ im Schlosstheater

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2024)
„Adriano in Siria“ und „„Le Mariage forcé“ im Schlosstheater

Tango in der Friedenskirche, Tarantella auf den Orangerie-Terrassen, Klavierwalzer im Palmensaal und eine Folk-Barock-Party auf dem alten Markt: Die Potsdamer Musikfestspiele 2024 fordern an allen Ecken und Enden zum „Tanz“ auf. Natürlich dürfen auch Bühnenwerke nicht fehlen.

Im Schlosstheater Neues Palais Sanssouci steht die Opera Seria „Adriano in Siria“ von Carl Heinrich Graun, Hofkapellmeister unter Friedrich dem Großen, als Eröffnungspremiere auf dem Programm. Gewählt wurde das Stück, weil bei der Uraufführung 1746 die Mitwirkung der Starballerina „La Barberina“ eine Ballettomanie auslöste. Als Reminiszenz an die Historie tritt in der aktuellen Inszenierung – der ersten seit dem 18. Jahrhundert – Valerie Lauer in die Fußstapfen der Tanzlegende. Ihre Darbietung zwischen den Akten und im Finale, für die Massimiliano Toni eigens eine folkloristisch anmutende „Barberina-Suite“ komponierte, ist orientalisch inspiriert, passend zum Handlungsort, dem heutigen Syrien. Der dort siegreiche römische Kaiser Hadrian (Adriano) verliebt sich in Emirena, Tochter des unterlegenen Partherkönigs, obwohl er bereits mit Sabina liiert ist und die Begehrte mit dem Fürsten Farnaspe. Nach innerem Ringen entscheidet sich der Regent doch für Sabina und wird für seinen Großmut gefeiert.

Syrien liegt in Domenico Franchis Ausstattung hinter einer Doppelreihe von Jalousien. Auf Prospekten sind wechselnd Landschaften, Paläste und im Finale Gebäudetrümmer zu sehen. Sie stellen den Bezug zum gegenwärtigen Bürgerkrieg her, analog zu vorne stehenden Koffern und Rucksäcken. Die Rollläden sind das beherrschende Element in Deda Cristina Colonnas Inszenierung: Das Solo-Ensemble, malerisch in antike Gewänder gehüllt, muss sie ständig hoch- und runterziehen. Mehr an Aktion ist der Regisseurin und Choreografin zu den Beziehungskonflikten nicht eingefallen und so erklingen Grauns ausgedehnte Da-capo-Arien vorwiegend statuarisch.

Dadurch konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Gesang und der ist vom Feinsten. Countertenor Valer Sabadus als Adriano spinnt edle Melodiebögen, Sopranist Bruno de Sá zelebriert erlesene Liebesbekundungen und Federico Fiorio, sein Kollege im gleichen Stimmfach, profiliert sich als intriganter, auch in Sabina verliebter Adjudant durch mimische wie vokale Wendigkeit. Im Kampf um ihre Männer reizen die Sopranistinnen Roberta Mameli und Keri Fuge alle stimmlichen Affekte aus, der Bassist David Tricou steuert tiefe Farben und sonore Virtuosität bei. Den Geist der Aufführung aber trägt vom Orchestergraben aus Dorothee Oberlinger. Sie kitzelt aus ihrer famosen Instrumentaltruppe 1700 alles an spielerischer Flexibilität und Vitalität heraus und greift in der „Barberina-Suite“ auch selbst zur Blockflöte – im köstlichen Dialog mit dem Nay-Spieler Mohamad Fityan und der Cembalistin Olga Watts.

Auf Grauns erhabene Oper folgt das Comédie-ballet „Le Mariage forcé“ von Molière und Jean-Baptiste Lully. Drei französische Spezialensembles – „Le Concert Spirituel“, „Les malins Plasisirs“ und „La Compagnie de Danse l’Éventail“ – haben sich für die genretypische Mixtur aus Schauspiel, Ballett und Gesang zusammengetan und servieren sie in einem naiven Bühnenbild als freches Spektakel mit barocken, zirzensischen und modernen Elementen. Es ist ein fröhlicher Rausschmiss, bevor das Schlosstheater Neues Palais Sanssouci 2025 erneut für Sanierungsarbeiten schließen muss.

Karin Coper

„Adriano in Siria“ (1746) // Dramma per musica von Carl Heinrich Graun
„Le Mariage forcé“ (1664) // Comédie-ballet von Molière und Jean-Baptiste Lully

Das Göttliche im Irdischen

Wien / Volksoper Wien (Juni 2024)
John Adams’ Passions-Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“

Wien / Volksoper Wien (Juni 2024)
John Adams’ Passions-Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“

Pieter Bruegels Gemälde „Die Kreuztragung Christi“ (1564), das in seiner detailreichen Darstellung der Passionsgeschichte gleichzeitig Menschen, die ihrer gewohnten Arbeit auf dem Held nachgehen, als auch öffentliche Hinrichtungen vorführt, dient John Adams als Bezugspunkt für sein theatralisches Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“. Unzählige Geschichten lassen sich in derartigen „Wimmelbildern“ der Frührenaissance entdecken: „Das Göttliche wird mit der Ödnis des Alltags verwoben.“

Mit der „anderen Maria“ ist jene sonst nicht genannte Frau gemeint, die – nach Matthäus 28, 1 und 2 – gemeinsam mit Maria Magdalena als erste zum Grabe Jesus ging. Das Oratorium führt diese Maria von Bethanien, die Jesus die Füße wusch, und deren beide Geschwister vor: Martha und ihren kranken Bruder Lazarus, den Jesus von den Toten erweckte. Sie verkehren mit Häftlingen, Ausgestoßenen, politisch Verfolgten, aber auch schrägen „Paradiesvögeln“. Meist versammelt man sich am Küchentisch in einem Wohncontainer, der auch als vollgefülltes Kleiderlager dient. Martha betreibt hier nämlich ein Heim für Obdachlose und arbeitslose Frauen und sammelt für sie Spenden ein. Zu sehen sind im Bühnenbild von Sarah Nixon „Tableaux vivants“ in magischem Realismus. Wer von den Gästen dieses Heims der Wunder wirkende Jesus ist, bleibt offen – einer der drei mitten unter den Obdachlosen stehenden Countertenöre? Die Figuren bestreiten keine dramatischen Dialoge, sondern berichten und erzählen, vor allem immer wieder sehr eindringlich Wallis Giunta als Maria Magdalena, aber auch die Altistin Jasmin White und der Tenor Alok Kumar als Martha und Lazarus. Eine durchgehende Handlung fehlt, denn Peter Sellars hat neben der Bibel in sein Libretto unterschiedliche Texte von Hildegard von Bingen, Primo Levi, von afroamerikanischen und indigenen Autorinnen oder die Autobiografie der Sozialaktivistin Dorothy Day integriert.

Nach der Pause tritt der 70-köpfige Chor in den Vordergrund: Es kommt zu Polizeirazzien, Aufständen und gewerkschaftlichem Widerstand in den Weinbergen. „Wer zum Schwerte greift, wird mit dem Schwert umkommen.“ Ein abgeschlagenes Ohr tanzt in Lisenka Heijboer Castañóns Inszenierung surreal zwischen den Aufständischen und zitiert dabei das Riesenohr aus Hieronymus Bosch Gemälde „Der Garten der Lüste“. Dynamik bringen nun vor allem die Balletteinsätze (Choreografie: Miguel Alejandro Castillo Le Maitre).

John Adams’ Komposition, ein unermüdliches Beben und Brausen – durchsetzt mit Zitaten barocker und fernöstlicher Musik oder durchbrochen von einem Klarinettensolo – transzendiert das Geschehen, durchaus spannungsreich vom Volksopernorchester unter Nicole Paiement umgesetzt.

Mag sein, dass es dem allzu unübersichtlichen und überladenen Werk an Stringenz fehlt. In das politisch aktivistische Konzept der Wiener Festwochen unter Milo Rau, mit denen die Volksoper kooperiert, lässt es sich jedoch gut einordnen. Und für ein „Passions-Oratorium“ haben Adams und Sellers eine überraschende und durchaus konsequente Form gefunden.

Bernhard Doppler

„The Gospel According to the Other Mary“ (2012) // Ein Passions-Oratorium von John Adams (Musik) und Peter Sellars (Libretto)

Durchs Chaos an die Macht

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Juni 2024)
Mussorgskis „Chowanschtschina“ als collagehafte Bilderfolge

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Juni 2024)
Mussorgskis „Chowanschtschina“ als collagehafte Bilderfolge

Mit pandemiebedingter Verspätung bringt die Staatsoper Unter den Linden Modest Mussorgskis „Chowanschtschina“ in der Inszenierung von Claus Guth heraus. Simone Young dirigiert mit der Staatskapelle Berlin die Bearbeitung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky flüssig und nie überbordend und entfaltet dennoch Klangpracht. Dazu kommt der von Dani Juris einstudierte fabelhafte Staatsopernchor und ein handverlesenes Ensemble. Von Mika Kares als vokal und darstellerisch wuchtigem Iwan Chowanski und Najmiddin Mavlyanov als dessen Sohn Andrei über Taras Shtonda als Dossifei und Georg Gagnidze als Bojar Schaklowity bis zu der wunderbar mezzosatt strömenden und berührend gestaltenden Marina Prudenskaya als Marfa sind alle Rollen exzellent besetzt.

Guth, Christian Schmidt (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme) überschreiben das Heterogene der Vorlage nicht, sondern machen das Collagehafte zum Prinzip. Die Bilderfolge beginnt und endet im Kreml von heute an Putins Schreibtisch vor einem überlebensgroßen Standbild vor Zar Peter I. Bei einer Beschwörung des schweren Schicksals von Mütterchen Russland tauchen im Video (Roland Horvath) zwischen historischen Russland-Bildern auch Sequenzen der knüppelnden Polizei von heute auf. Ansonsten tritt das Personal der Oper in historischen Kostümen an, die mit ihrem puren Schauwert punkten. Für die einzelnen Szenen werden auf der leeren, schwarzen Bühne zudem angedeutete historische Schauplätze auf- bzw. hochgefahren.

So wie man Mussorgskis Version eines unruhigen Kapitels der russischen Geschichte aus dem 17. Jahrhundert als Ausgangssituation (und Legitimation) für die Machtübernahme durch Zar Peter den Großen betrachten kann, macht das eine hinzuerfundene Gruppe von Forschern in Laboranzügen innerhalb bzw. neben der Handlung. Vielleicht eher im Dienste der Legitimierung einer starken zentralen Herrschaft, als im Interesse der Suche nach historischer Wahrheit? Meistens funktioniert diese distanzierende Relativierung der historischen Bilder – wenn sie durchbrochen wird und einer von den Forschern plötzlich mal „mitspielt“ eher weniger. Wenn Guth dem Zuschauer durch eingeblendete Erläuterungen zu den Figuren entgegenkommt, umweht ein Hauch von „History“ im Opernformat den Abend.

Eine zentrale Figur dieser Inszenierung ist der in der Vorlage gar nicht vorgesehene Zar Peter I. Sein Heranwachsen wird – wie ein Leitmotiv – sogar ganz wortwörtlich immer wieder mit einem Kreidestrich über dem Kopf des jungen Peter an der Wand markiert. Er wird für alle in ihre Machtkämpfen Verstrickten zu einer wachsenden Bedrohung. Am Ende hat er das Sagen und alle anderen gehen unter – die Altgläubigen (inklusive Marfa und Chowanski jun.) sogar mit einer als Feuertaufe zelebrierten Selbstverbrennung. Musikalisch ziemlich oratorisch. Danach holt der Bedienstete ein unterschriebenes Dokument von Putins Schreibtisch. Fall erledigt?

Dr. Joachim Lange

„Chowanschtschina“ (1886/1960 posthum) // Volksdrama von Modest Mussorgski in der Fassung von Dmitri D. Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky

Lüpertz in Arkadien

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Mai 2024)
Vicente Martín y Solers prachtvoller Komödien-Triumph „Una cosa rara“

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Mai 2024)
Vicente Martín y Solers prachtvoller Komödien-Triumph „Una cosa rara“

„Ein absurder Dreh“ könnte man „Una cosa rara“ übersetzen. Und man muss nicht erst die 30 Jahre alte Einspielung von Jordi Savall mit dem legendären Ernesto Palacio zur Legitimation einer Wiederaufführung jenes heiteren Dramas heranziehen, mit dem Vicente Martín y Soler am Alten Burgtheater Wien 1786 die Uraufführungsserie von Mozarts „Le nozze di Figaro“ ablöste. Lorenzo da Ponte legte in „Una cosa rara“ eine erotische Zündschnur wie in seinen Libretti für Mozart. Die von diesem beim Bankett in „Don Giovanni“ zitierte Melodie beschließt den ersten Akt von „Una cosa rara“ als Solo der Königin Isabella mit Ensemble.

Die von Intendant Jens Neundorff von Enzberg nach einer ersten Serie in Regensburg (2018) nach Meiningen geholte Produktion strotzt von großartigem, knallbuntem, urkomischem und musikantisch prächtigem Spiel- wie Gedankenmaterial. Dennoch tut es der ausstattenden und kostümlichen Auseinandersetzung des Malers Markus Lüpertz gut, einen versierten und sensiblen Regisseur neben sich zu haben. „Una cosa rara“ ist weitaus besser geraten als Lüpertz’ Meininger Regie-und-Bild-Alleingang mit Puccinis „La Bohème“. Denn Regisseur Andreas Baesler hat auch den Takt, das Gespür und Können zur Aneignung und theatralen Steigerung des sehr Guten zum Außerordentlichen. So gerät diese Produktion im Meininger Theater fast zum Zwilling des legendären Stuttgarter „Freischütz“ von Achim Freyer, der in Meiningen im September Verdis französischen „Don Carlo“ inszenieren wird.

Hier allerdings mit einem feudalen Jagd-Ambiente, in dem die spanische Königin auf Klappbrett-Wildschweine schießt und zwei alles andere als unerfahrene Landmädchen den Klappbrett-Kerlen ins Ohr flüstern. Das ist alles andere als knallchargig. Wenn der Haushofmeister Corrado malt, setzt sich Lüpertz vor dem in allen Farbschattierungen gut anzusehenden Laubbaumsaum des Hintergrunds selbst ein poetisches und gar nicht ironisches Denkmal. Man verwendet auch in Meiningen die Regensburger Strichfassung und verzichtet damit auf ein Viertel der Partitur. Dadurch werden die Formen vieler Nummern sprunghafter und wirken generell etwas hybrid. Chin-Chao Lin befeuert die Meininger Hofkapelle, treibt mit feurigem Eifer alle Instrumente und Stimmen in eine heftige, aber nie grobe Brillanz. Das vorsätzlich leicht übersteuerte Singen passt zu Lüpertz’ Farbklecksen auf den Hosen, den akkuraten und deshalb witzigen Frisuren, den tiefen Dekolletés und der sportiv-sinnlichen Komödiantik von Werk und Inszenierung. Mozart-typisch singen Emma McNairy (eine wunderbar blasierte Königin Isabella), Monika Reinhard (Lilla mit Höhenglanz) und Sara-Maria Saalmann (Ghita, der vokal-dramatische Wirbelwind) mit ähnlichen Stimmen und unterschiedlichen Temperamenten. Y Soler hat die Männerstimmen mit einer Tessitur analog zum hohen Adel und niedrigeren Ständen besetzt. Mykhailo Kushlyk gibt den Womanizer Giovanni und Tobias Glagau den Corrado mit unverbrauchten Stimmen und spielerischer Leichtigkeit. Tomasz Wija macht als versöhnlicher Landkerl in feiner Aufmachung gute Figur, Jonas Böhm ergänzt das arkadische und trotzdem recht heftig miteinander umspringende Quartett verliebter Paare. Als Lisargo bereichert Selcuk Hakan Tiraşoğlu ein Ensemble, in dem alle ein bisschen die Sau herauslassen und damit in kongenialer Stimmung zu Lüpertz’ burlesker Landpartie antreten.

Roland H. Dippel

„Una cosa rara o sia Bellezza ed onestà“ (1786) // Dramma giocoso von Vicente Martín y Soler

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Meiningen

KI ist auch keine Lösung

Halle (Saale) / Händel-Festspiele und Oper Halle (Mai 2024)
Digitale Traumwelten für „Amadigi di Gaula“

Halle (Saale) / Händel-Festspiele und Oper Halle (Mai 2024)
Digitale Traumwelten für „Amadigi di Gaula“

Für die Händel-Festspiele in Halle ist ein Spezialorchester längst Standard. Der zur Staatskapelle gehörende Klangkörper wird für „Amadigi di Gaula“, den aktuellen Beitrag der heimischen Oper, von Dani Espasa geleitet. Regie führt zum zweiten Mal in Folge Hausregisseurin Louisa Proske. Sie konfrontiert eine barocke Zauberinnengeschichte mit einer von Fake News dominierten digitalen Parallelwelt und der Vision einer außer Kontrolle geratenden Künstlichen Intelligenz. Auf der Bühne sieht dieser Clash der Epochen streckenweise so aus, als wäre er selbst das Resultat eines KI-Programms für Barockopern.

Zusammen mit der Regisseurin haben Ausstatter Kaspar Glarner, Videodesigner Jorge Cousineau und Choreograf Michal Sedláček diese fiktive Arbeit der KI mit dem Einsatz ihrer herkömmlichen Mittel übernommen. Effektvoll sind dabei vor allem die opulenten Kostüme, allen voran die großen ausladenden Roben für die Zauberin Melissa. Franziska Krötenheerdt trägt alle Varianten mit großem Effekt, was den vokalen Furor ihrer Auftritte unterstreicht, mit denen sie sich erneut als für Halle passgenau Händel-affines Ensemblemitglied bewährt. Das gilt auch für ihre Mezzokollegin Yulia Sokolik, bei der die Hosenrolle des Dardano in bester, weil perfekt geführter Kehle liegt.

Dieser Dardano begleitet den Titelhelden Amadigi in das Reich von Melissa. Dabei stellt sich heraus, dass beide in Oriana verliebt sind, die von der gerade 24-jährigen Serafina Starke mit jugendlicher Leichtigkeit und ausdrucksstark verkörpert wird. Für den Titelhelden Amadigi kann der polnische Counter Rafał Tomkiewicz nicht nur eine wohltimbrierte kraftvolle Stimme, sondern auch Rollenerfahrung einbringen. Chorsolistin Deulrim Jo komplettiert als Deus ex machina (hier ist es Händel in Gestalt seines Denkmals auf dem Marktplatz persönlich) das Ensemble, zu dem ein halbes Dutzend illustrierend eingesetzte Tänzer gehören. Alle spielen sich die Bälle zu und lassen jedes Duett glänzen, getragen von einem Händelfestspielorchester in Hochform.

Der von einer Zauberin beherrschte Ort ist ins dunkle Zentrum der digitalen Welt projiziert. Ein gigantischer Server mit unendlich vielen Schränken voller blinkender Gerätschaften befindet sich auf der Bühne. Die Videofahrten imaginieren riesige Werkhallen. Wenn dann aber menschliche Porträts und ganze Traumwelten generiert werden, überfluten hochästhetische Farben den Raum. Er wird zu einer Art Holodeck für ein opulentes mittsommernachtskompatibles Paradies auf Erden. Wenn sich am Ende Melissa selbst aus dem Spiel nimmt und in einem der Schränke verschwindet, stellt sich die Frage, ob die Zauberin die imaginierte KI sein sollte. Dass ihr Reich dann aber zusammenbricht und alle auf dem Marktplatz zu Füßen des Händel-Denkmals ausgelassen tanzen, ist lediglich dem Lieto fine geschuldet. Wirklich hergeleitet ist das alles nicht – es bleibt letztlich doch nur eine ins Digitale übersetzte barocke Kulisse.

Roberto Becker

„Amadigi di Gaula“ (1715) // Opera seria von Georg Friedrich Händel

Infos und Termine auf der Website der Oper Halle

Schinkel meets Graffiti

Rostock / Volkstheater Rostock (Mai 2024)
„Zauberflöte Reloaded“ beweist, dass Oper mit Netflix und Gaming mithalten kann

Rostock / Volkstheater Rostock (Mai 2024)
„Zauberflöte Reloaded“ beweist, dass Oper mit Netflix und Gaming mithalten kann

Graffiti, Rap, Breakdance und Mode – das sind die Zutaten, die es laut Christoph Hagel für eine HipHop-Version von Mozarts altehrwürdiger „Zauberflöte“ braucht. Und er muss es wissen: Der Berliner Dirigent, Regisseur und Konzertdesigner Hagel hat bereits so manch einen Klassiker ins Hier und Heute übersetzt. Ob „Breakin’ Mozart“, „Flying Bach“ oder „Beethoven! The next level“ – bei all seinen „Modernisierungs“-Projekten bewahrt Hagel den Kern eines jeden Werkes und verzichtet auf die blasphemische Verplumpung zugunsten eindimensionaler Unterhaltung. Das gelingt ihm besonders gut in seinem „Zauberflöten“-Projekt, das man jetzt am Volkstheater Rostock erleben kann und bei dem er die Regie und musikalische Leitung übernimmt.

Seinen Anfang nahm „Zauberflöte Reloaded“ 2018 beim Mozartfest Würzburg, das den Auftrag hierzu vergab. Was vor sechs Jahren bereits modern war, das ist es heute immer noch, wie man an den begeisterten Reaktionen des Rostocker Publikums erkennen kann. Die Absicht einer solchen Produktion ist klar: Hier soll keine exklusive Klassik für Eliten gemacht werden. Kulturelle Erfahrungen – und dazu zählen Opernbesuche – sind für alle und müssen (auch) ganz ohne Kenntnis von Konventionen und Musikgeschichte möglich sein. Dieses Credo nur zu wiederholen, bringt wenig – Taten müssen her. Und schon die Ouvertüre verrät, wie das bei Hagel funktioniert: Nach den „klassischen“ eröffnenden Akkorden folgt eine wilde Mischung aus Jazz-Improvisationen. Papagino (so heißt hier der rappende Vogelhändler) sitzt derweil im Publikum, wird laut, benimmt sich rüpelig und stolpert sich seinen Weg zur Bühne. 

Frederic Böhle brilliert in dieser Rolle, mit überbordender Spielfreude beherrscht er die Bühne wie auch den Publikumsraum. Fließend geht er von Rap-Passagen zum klassischen Bariton-Gesang über. Vor allem in den beiden Quintetten sind diese Übergänge ein großer Spaß. Ähnlich souverän überzeugt Matthew Peña als Monostatos, der durch sein Spielgeschick nicht nur auf die Opernbühne, sondern auch in den nächsten R’n’B-Clip passt. Darlene Dobisch ist wohl die einzige Königin der Nacht, die Koloraturen und Rap-Passagen zugleich meistert.

Ein Highlight sind die ausgiebigen Tanzeinlagen: Die (hier) zwei Knaben werden von Breakdancern (hochvirtuos: Julian Albrecht und Hakim Ben Slimen) dargestellt, denen die drei Damen mit ihrem Freestyle die Stirn bieten. Unterstützt werden sie dabei von der Hip-Hop-Crew aus Rostock, einer jungen Laien-Tanzgruppe, womit dem Volkstheater eine schöne Einbindung der Stadtgesellschaft in die Produktion gelingt (stimmige Choreografie: Daniele Varallo mit Contemporary und Brit Bauermeister mit HipHop). Die Kostüme (Nele Sternberg und Jana Maaser) bewegen sich unangestrengt zwischen HipHop und Camp und evozieren in Kombination mit den Video-Projektionen eine Welt zwischen Streetstyle und Gaming.

Für viele Schülerinnen und Schüler mag die Rostocker „Zauberflöte Reloaded“ der erste Opernbesuch gewesen sein. Doch die ehrlich interessierten Gesichter und euphorischen Reaktionen geben Hoffnung, dass es nicht ihr letzter war.

Dr. Dimitra Will

„Zauberflöte Reloaded“ (1791/2018) // Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart in einer Crossover-Fassung von Christoph Hagel

Infos und Termine auf der Website des Volkstheaters Rostock

Vorsicht: Kunst!

Berlin / Komische Oper Berlin (April 2024)
Kirill Serebrennikov setzt seinen Da-Ponte-Zyklus mit „Le nozze di Figaro“ fort

Berlin / Komische Oper Berlin (April 2024)
Kirill Serebrennikov setzt seinen Da-Ponte-Zyklus mit „Le nozze di Figaro“ fort

Für den Grafen Almaviva sind bei Kirill Serebrennikov vor allem teure Kunstwerke, die in feudalen Verhältnissen dem Adel vorbehalten waren, Statussymbole von Reichtum und Macht. Heute ist aus dem Stand in einer feudalen Gesellschaftspyramide ein Standing in der Konkurrenzgesellschaft geworden, in der Übergriffe inzwischen MeToo-Debatten befeuern. Als Beziehungsspezialist passte Mozart damals, wie auch hier und heute.

Serebrennikov entkleidet dazu die historischen Figuren, um sie als Menschen von heute erkennbar zu machen. Zumindest metaphorisch und bei den Männern auch gerne mal ganz real, wie jetzt Cherubino. In dieser Rolle eines Taubstummen setzt Georgy Kudrenko seine Nacktheit virtuos choreografiert als erotisches Argument ein. Als Cherubina dolmetscht Susan Zarrabi dessen Körpersprache in Gesang. Die szenischen Gags, die daraus resultieren, zünden durchweg.

Aus dem Machtgefälle im Stück macht Serebrennikov (als sein eigener Ausstatter) einen Bühnensetzkasten mit zwei Ebenen. Im zugemüllten Keller unter der hellen Ausstellungshalle sind Waschmaschinen und die Spinde fürs Personal untergebracht. Hier sollen sich Susanna und Figaro mit einer Matratze einquartieren, die auch als Projektionsfläche für die SMS- bzw. WhatsApp-Kommunikation dient.

Dem Cherubino-Splitting fällt zwar Barbarina zum Opfer, ihre Arie wird aber von der Gräfin gerettet. Auch sonst kommt alles, was oft gestrichen wird, zu Bühnenehren. Verblüffend passend ist das vom Grafenpaar und Susanna aus „Così fan tutte“ übernommene „Soave sia il vento“ als Einstieg in den zweiten Teil. Zur handfesten Körperlichkeit passen auch surreale Szenen, wie etwa die, in der ein junger Mann (Nikita Elenev) als Performance eine Vernissage-Gesellschaft meuchelt. Eine Show für sich ist Nikita Kukushkin, der als Scherge des Grafen auch dessen dunkelste Obsessionen verkörpert.

In all dem turbulenten Theater gehen aber Gesang und Musik nie unter. Im Schulterschluss mit dem so beherzten und sängersensiblen Dirigat von James Gaffigan können sich die Protagonisten allesamt darstellerisch und vokal entfalten. Imponierend ist die Präsenz, mit der Tommaso Barea seinen virilen Figaro dunkel leuchtend ausstattet, und überzeugend das Berechnende, mit dem Hubert Zapiór seinen Almaviva zum Kunstliebhaber der besonderen Art macht. Penny Sofroniadou füllt die zentrale Stellung, die Susanna in diesem Stück hat, in jeder Hinsicht überzeugend aus. Nadja Mchantaf ist eine adäquat melancholische Contessa. Gerade wenn es (vor allem in der Nacht der Galerien am Ende) turbulent wird, bewährt sich das Ensemblespiel, das dem ganzen Abend zur Ehre gereicht.

Roberto Becker

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Infos und Termine auf der Website der Komischen Oper Berlin

Unentschlossener Abgang

Passau / Landestheater Niederbayern (April 2024)
WesenAuers Vertonung von „April. Die Geschichte einer Liebe“ huldigt Joseph Roth

Passau / Landestheater Niederbayern (April 2024)
WesenAuers Vertonung von „April. Die Geschichte einer Liebe“ huldigt Joseph Roth

Niederbayerische Wagner-Erstaufführungen, Belcanto und ambitionierte Schauspielmusik: Auf dieser konsequenten Linie hat Stefan Tilch im 22. Jahr seiner Intendanz am Landestheater Niederbayern ein Libretto nach der Erzählung „April. Die Geschichte einer Liebe“ (1925) des aus Galizien stammenden Joseph Roth geschrieben. Nach dem gemeinsamen Erfolg einer Bühnenadaption von Roths „Hiob“ (2014) setzt Tilch für die Vertonung auch diesmal auf den oberösterreichischen Komponisten Peter WesenAuer. Die resultierende Oper kommt jetzt im Fürstbischöflichen Opernhaus Passau zur Uraufführung. Das Resultat ist ein üppiges Melodram mit nur wenigen Zwischentönen.

Der namenlose „Ich“-Protagonist ist weiß an Charakter, Anzug und Stimme. Die eine fassbare Geliebte, Anna, flieht „Ich“ wegen einer anderen fernen, dem Mädchen am Fenster. Letztere könnte alsbald an Schwindsucht und Lähmung sterben, behauptet Anna aus nur zu verständlicher Eifersucht. Die Pläne und Emotionen im launischen Monat sind also wechselhaft, aber „am 28. Mai weiß man bereits, was man will“. So redet es sich „Ich“ ein, gibt Anna den Laufpass und bekommt von seiner neuen Flamme kurz vor der Abreise nach Amerika ein Lächeln. Reinhild Buchmayer singt diese Partie strahlend.

In den Filmen von Florian Rödl kommt neben dem Aufführungsort mit nostalgischen Einstellungen auch New York ins Bild. Der Postdirektor (Edward Leach) und der Kellner Ignatz (Daniel-Erik Biel) erweisen sich dank ihrer Darsteller als außerordentlich wendig, gleichermaßen der Briefträger (Albin Ahl), der Reisende (Matthias Bein) und das gesamte Ensemble. Die Kostüme und das andeutende Bühnenbild halten Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels in Farbtönen von Erdbraun bis Cognac. Tilch organisiert Abläufe ohne tiefere Beweggründe. WesenAuers Partitur dazu ist durch und durch tonal. Zumeist jauchzt erst ein melodischer Streicherchor, über dem die Stimmen in wohlklangsatten Parallelen ausufern dürfen. Es folgen dann eine synkopische Tangofläche oder ein keck darein fahrendes Trompetensolo.

Apart wirkt zunächst der aus Joachim Vollraths Sprechstimme und Martin Mairingers Tenor zusammengesetzte „Ich“. Mairingers Tongebung ist vorbildlich betreffend gesanglicher Zielstrebigkeit, deutlicher Deklamation und gestischer Gestaltung. Henrike Henoch gibt eine herzensgute Anna mit inniger Lyrik ohne Proletarierinnen-Appeal, später mit hysterisch wirkenden Wortwiederholungen.

WesenAuer kennt die musikalischen Gesetzmäßigkeiten von Film und Theater genau und setzt diese Kenntnis für die Niederbayerische Philharmonie mit eloquentem Können ein. Keine Szene ist zu lang, keine Episodenfigur zu weitschweifig und alle – mit Ausnahme des abreisenden „Ich“ – scheinen sich in der Gemächlichkeit des Milieus bestens zu fühlen. Das Flirrende der Getriebenheit im April bleibt gemütlich. Dem Chor des Landestheaters Niederbayern unter Leitung von R. Florian Daniel und der Statisterie mit der Choreografie von Sunny Prasch gelingt eine sehr synergetische Zusammenarbeit. Das Publikum spendet am Ende großzügigen Applaus.

Roland H. Dippel

„April. Die Geschichte einer Liebe“ (2024) // Oper von Peter WesenAuer

Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Niederbayern