Pieter Bruegels Gemälde „Die Kreuztragung Christi“ (1564), das in seiner detailreichen Darstellung der Passionsgeschichte gleichzeitig Menschen, die ihrer gewohnten Arbeit auf dem Held nachgehen, als auch öffentliche Hinrichtungen vorführt, dient John Adams als Bezugspunkt für sein theatralisches Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“. Unzählige Geschichten lassen sich in derartigen „Wimmelbildern“ der Frührenaissance entdecken: „Das Göttliche wird mit der Ödnis des Alltags verwoben.“

Mit der „anderen Maria“ ist jene sonst nicht genannte Frau gemeint, die – nach Matthäus 28, 1 und 2 – gemeinsam mit Maria Magdalena als erste zum Grabe Jesus ging. Das Oratorium führt diese Maria von Bethanien, die Jesus die Füße wusch, und deren beide Geschwister vor: Martha und ihren kranken Bruder Lazarus, den Jesus von den Toten erweckte. Sie verkehren mit Häftlingen, Ausgestoßenen, politisch Verfolgten, aber auch schrägen „Paradiesvögeln“. Meist versammelt man sich am Küchentisch in einem Wohncontainer, der auch als vollgefülltes Kleiderlager dient. Martha betreibt hier nämlich ein Heim für Obdachlose und arbeitslose Frauen und sammelt für sie Spenden ein. Zu sehen sind im Bühnenbild von Sarah Nixon „Tableaux vivants“ in magischem Realismus. Wer von den Gästen dieses Heims der Wunder wirkende Jesus ist, bleibt offen – einer der drei mitten unter den Obdachlosen stehenden Countertenöre? Die Figuren bestreiten keine dramatischen Dialoge, sondern berichten und erzählen, vor allem immer wieder sehr eindringlich Wallis Giunta als Maria Magdalena, aber auch die Altistin Jasmin White und der Tenor Alok Kumar als Martha und Lazarus. Eine durchgehende Handlung fehlt, denn Peter Sellars hat neben der Bibel in sein Libretto unterschiedliche Texte von Hildegard von Bingen, Primo Levi, von afroamerikanischen und indigenen Autorinnen oder die Autobiografie der Sozialaktivistin Dorothy Day integriert.

Nach der Pause tritt der 70-köpfige Chor in den Vordergrund: Es kommt zu Polizeirazzien, Aufständen und gewerkschaftlichem Widerstand in den Weinbergen. „Wer zum Schwerte greift, wird mit dem Schwert umkommen.“ Ein abgeschlagenes Ohr tanzt in Lisenka Heijboer Castañóns Inszenierung surreal zwischen den Aufständischen und zitiert dabei das Riesenohr aus Hieronymus Bosch Gemälde „Der Garten der Lüste“. Dynamik bringen nun vor allem die Balletteinsätze (Choreografie: Miguel Alejandro Castillo Le Maitre).

John Adams’ Komposition, ein unermüdliches Beben und Brausen – durchsetzt mit Zitaten barocker und fernöstlicher Musik oder durchbrochen von einem Klarinettensolo – transzendiert das Geschehen, durchaus spannungsreich vom Volksopernorchester unter Nicole Paiement umgesetzt.

Mag sein, dass es dem allzu unübersichtlichen und überladenen Werk an Stringenz fehlt. In das politisch aktivistische Konzept der Wiener Festwochen unter Milo Rau, mit denen die Volksoper kooperiert, lässt es sich jedoch gut einordnen. Und für ein „Passions-Oratorium“ haben Adams und Sellers eine überraschende und durchaus konsequente Form gefunden.

Bernhard Doppler

„The Gospel According to the Other Mary“ (2012) // Ein Passions-Oratorium von John Adams (Musik) und Peter Sellars (Libretto)