Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Juni 2024) Mussorgskis „Chowanschtschina“ als collagehafte Bilderfolge
Mit pandemiebedingter Verspätung bringt die Staatsoper Unter den Linden Modest Mussorgskis „Chowanschtschina“ in der Inszenierung von Claus Guth heraus. Simone Young dirigiert mit der Staatskapelle Berlin die Bearbeitung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky flüssig und nie überbordend und entfaltet dennoch Klangpracht. Dazu kommt der von Dani Juris einstudierte fabelhafte Staatsopernchor und ein handverlesenes Ensemble. Von Mika Kares als vokal und darstellerisch wuchtigem Iwan Chowanski und Najmiddin Mavlyanov als dessen Sohn Andrei über Taras Shtonda als Dossifei und Georg Gagnidze als Bojar Schaklowity bis zu der wunderbar mezzosatt strömenden und berührend gestaltenden Marina Prudenskaya als Marfa sind alle Rollen exzellent besetzt.
Guth, Christian Schmidt (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme) überschreiben das Heterogene der Vorlage nicht, sondern machen das Collagehafte zum Prinzip. Die Bilderfolge beginnt und endet im Kreml von heute an Putins Schreibtisch vor einem überlebensgroßen Standbild vor Zar Peter I. Bei einer Beschwörung des schweren Schicksals von Mütterchen Russland tauchen im Video (Roland Horvath) zwischen historischen Russland-Bildern auch Sequenzen der knüppelnden Polizei von heute auf. Ansonsten tritt das Personal der Oper in historischen Kostümen an, die mit ihrem puren Schauwert punkten. Für die einzelnen Szenen werden auf der leeren, schwarzen Bühne zudem angedeutete historische Schauplätze auf- bzw. hochgefahren.
So wie man Mussorgskis Version eines unruhigen Kapitels der russischen Geschichte aus dem 17. Jahrhundert als Ausgangssituation (und Legitimation) für die Machtübernahme durch Zar Peter den Großen betrachten kann, macht das eine hinzuerfundene Gruppe von Forschern in Laboranzügen innerhalb bzw. neben der Handlung. Vielleicht eher im Dienste der Legitimierung einer starken zentralen Herrschaft, als im Interesse der Suche nach historischer Wahrheit? Meistens funktioniert diese distanzierende Relativierung der historischen Bilder – wenn sie durchbrochen wird und einer von den Forschern plötzlich mal „mitspielt“ eher weniger. Wenn Guth dem Zuschauer durch eingeblendete Erläuterungen zu den Figuren entgegenkommt, umweht ein Hauch von „History“ im Opernformat den Abend.
Eine zentrale Figur dieser Inszenierung ist der in der Vorlage gar nicht vorgesehene Zar Peter I. Sein Heranwachsen wird – wie ein Leitmotiv – sogar ganz wortwörtlich immer wieder mit einem Kreidestrich über dem Kopf des jungen Peter an der Wand markiert. Er wird für alle in ihre Machtkämpfen Verstrickten zu einer wachsenden Bedrohung. Am Ende hat er das Sagen und alle anderen gehen unter – die Altgläubigen (inklusive Marfa und Chowanski jun.) sogar mit einer als Feuertaufe zelebrierten Selbstverbrennung. Musikalisch ziemlich oratorisch. Danach holt der Bedienstete ein unterschriebenes Dokument von Putins Schreibtisch. Fall erledigt?
Dr. Joachim Lange
„Chowanschtschina“ (1886/1960 posthum) // Volksdrama von Modest Mussorgski in der Fassung von Dmitri D. Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky