Berlin / Komische Oper Berlin (April 2024) Kirill Serebrennikov setzt seinen Da-Ponte-Zyklus mit „Le nozze di Figaro“ fort
Für den Grafen Almaviva sind bei Kirill Serebrennikov vor allem teure Kunstwerke, die in feudalen Verhältnissen dem Adel vorbehalten waren, Statussymbole von Reichtum und Macht. Heute ist aus dem Stand in einer feudalen Gesellschaftspyramide ein Standing in der Konkurrenzgesellschaft geworden, in der Übergriffe inzwischen MeToo-Debatten befeuern. Als Beziehungsspezialist passte Mozart damals, wie auch hier und heute.
Serebrennikov entkleidet dazu die historischen Figuren, um sie als Menschen von heute erkennbar zu machen. Zumindest metaphorisch und bei den Männern auch gerne mal ganz real, wie jetzt Cherubino. In dieser Rolle eines Taubstummen setzt Georgy Kudrenko seine Nacktheit virtuos choreografiert als erotisches Argument ein. Als Cherubina dolmetscht Susan Zarrabi dessen Körpersprache in Gesang. Die szenischen Gags, die daraus resultieren, zünden durchweg.
Aus dem Machtgefälle im Stück macht Serebrennikov (als sein eigener Ausstatter) einen Bühnensetzkasten mit zwei Ebenen. Im zugemüllten Keller unter der hellen Ausstellungshalle sind Waschmaschinen und die Spinde fürs Personal untergebracht. Hier sollen sich Susanna und Figaro mit einer Matratze einquartieren, die auch als Projektionsfläche für die SMS- bzw. WhatsApp-Kommunikation dient.
Dem Cherubino-Splitting fällt zwar Barbarina zum Opfer, ihre Arie wird aber von der Gräfin gerettet. Auch sonst kommt alles, was oft gestrichen wird, zu Bühnenehren. Verblüffend passend ist das vom Grafenpaar und Susanna aus „Così fan tutte“ übernommene „Soave sia il vento“ als Einstieg in den zweiten Teil. Zur handfesten Körperlichkeit passen auch surreale Szenen, wie etwa die, in der ein junger Mann (Nikita Elenev) als Performance eine Vernissage-Gesellschaft meuchelt. Eine Show für sich ist Nikita Kukushkin, der als Scherge des Grafen auch dessen dunkelste Obsessionen verkörpert.
In all dem turbulenten Theater gehen aber Gesang und Musik nie unter. Im Schulterschluss mit dem so beherzten und sängersensiblen Dirigat von James Gaffigan können sich die Protagonisten allesamt darstellerisch und vokal entfalten. Imponierend ist die Präsenz, mit der Tommaso Barea seinen virilen Figaro dunkel leuchtend ausstattet, und überzeugend das Berechnende, mit dem Hubert Zapiór seinen Almaviva zum Kunstliebhaber der besonderen Art macht. Penny Sofroniadou füllt die zentrale Stellung, die Susanna in diesem Stück hat, in jeder Hinsicht überzeugend aus. Nadja Mchantaf ist eine adäquat melancholische Contessa. Gerade wenn es (vor allem in der Nacht der Galerien am Ende) turbulent wird, bewährt sich das Ensemblespiel, das dem ganzen Abend zur Ehre gereicht.
Roberto Becker
„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart