Karlsruhe / Badisches Staatstheater Karlsruhe (September 2024) Leben und Überleben in Ethel Smyths „The Wreckers“
Die Meere sind leergefischt, die Luft verpestet, der Tod allgegenwärtig. Fressen oder gefressen werden? Eine isolierte Dorfgemeinschaft an der rauen Küste Cornwalls erklärt sich zu „Gottes auserwähltem Volk“ – und macht den Hunger- zum Blutrausch. Mit manipulierten Leuchtfeuern bringt sie vorbeifahrende Schiffe zum Kentern, tötet die Überlebenden, zehrt von der Beute. Doch dann erwachen vereinzelt Zweifel und Reue – und ein fanatischer Mob ruft zum „Jüngsten Gericht“ auf …
Die längst überfällige Würdigung weiblicher Komponistinnen hat in den letzten Jahren spürbar an Fahrt aufgenommen. An der Britin Ethel Smyth (1858-1944) kommt man dabei kaum vorbei – mit gutem Grund, wie die Karlsruher Premiere von „The Wreckers“ mit einem großen Ausrufezeichen unterstreicht. Ihr lange als Geheimtipp gehandeltes „Lyrical Drama“ gilt vielen als „Missing Link“ in der britischen Operngeschichte zwischen Purcell und Britten, uraufgeführt knapp 40 Jahre vor „Peter Grimes“. Das Badische Staatstheater hat sich für die englischsprachige Fassung von 1909 entschieden: ein atmosphärischer Pluspunkt dieser originär britischen Küstenoper gegenüber den französischen und deutschen Libretto-Varianten.
Nicht minder originär ist die Klangsprache, in der große Chöre in hitzigen Attacken aufbranden, aber immer auch Raum für Inseln der Intimität bleibt. Smyth war eine Instrumentierkünstlerin, und die lautmalerisch auftrumpfende Badische Staatskapelle unter GMD Georg Fritzsch bleibt dem weder in der Geschichte selbst noch im sinfonischen Zwischenspiel „On the Cliffs of Cornwall“ einen Beweis schuldig. Entfesselte Natur, sich aufbäumende Seele – so manche Oper wirkt heute wie ein staubiges Relikt aus längst vergangenen Tagen, diese aber definitiv nicht.
Das spielt Regisseur Keith Warner in die Karten. Er verlegt die Handlung in eine vage angedeutete Zukunft. Gleich einer ausgehungerten, sektenhaften Raubtier-Meute lauert der energiegeladene Badische Staatsopernchor (Einstudierung: Ulrich Wagner) in einem rostigen U-Boot auf seine nächsten Opfer, von oben drücken stürmische Wellen herein. Atmosphäre steht im assoziationsreichen Bühnenbild von Tilo Steffens an erster Stelle, Gasmasken und religiöse Versatzstücke (Kostüme: Julia Müller und Verena Polkowski) lassen die Zeiten verschwimmen. Suggestives, konzentriertes, aber nie aufgesetztes Theater ist das. Nicht zufällig steht gerade diese Smyth-Oper 118 Jahre nach ihrer Uraufführung allein in dieser Saison auf gleich drei deutschen Spielplänen, zeigt sie doch, welche Abgründe sich bei der Paarung von selbst gerichtetem Überlebensinstinkt, religiösem Fanatismus und „Herdentrieb“ auftun – Musiktheater am Puls der Zeit.
Abgerundet wird der Gesamteindruck von einer starken Premierenbesetzung. Sopranistin Ralitsa Ralinova liegt das Jugendlich-Lyrische mit einem Schuss dramatischer (Messer-)Spitzen sehr, ihr Porträt der eifersüchtigen Avis lebt von aufregenden Schattierungen auch im Schauspiel. Der prachtvoll schimmernde und dann wieder angemessen fahle Bass von Konstantin Gorny als Pastor und Anführer Pascoe steht dem in Nichts nach, anders als sein etwas eindimensional angelegtes Rollenprofil seitens der Regie. Brett Spragues schlanker, bardengleicher Tenor auf Tuchfühlung mit den intensiven dramatischen Ausbrüchen von Mezzosopranistin Dorothea Spilger verleiht den sich liebenden Außenseitern Mark und Thirza lichte Konturen bis in den „Verrätertod“. Und auch das weitere Ensemble (Melanie Lang, Klaus Schneider, Armin Kolarczyk und Liangliang Zhao) verdient unbedingt Erwähnung.
Florian Maier
„The Wreckers“ (1906/09) // Lyrical Drama von Ethel Smyth
Infos und Termine auf der Website des Badischen Staatstheaters Karlsruhe