Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2024) Alban Bergs „Wozzeck“ als Proband von Medizin, Militär, Kirche und Politik
Ein Geruch hängt über der Bühne. Ein Geruch von Armut, Treibjagd, Ausweglosigkeit und Unheil. Franz heißt der Mensch, das Tier, das Opfer. Unterwegs mit Plastiktüte, stets gehetzt, wird er erst zum Mörder, bevor er Hand an sich selbst legt. Dabei wollte er unbedingt ’raus der Misere seiner kleinen ungeordneten Familie, indem er sich und seinen Leib der wissenschaftlichen Medizin verkaufte. Um diese Dienstleistung spezieller Art kämpft er in seiner Not auch gegen die Menschenmaterial-Konkurrenz.
Doch hier, im sinnfällig schwarzen Opernhaus von Lyon, hat er nach Georg Büchner nicht nur den privaten Interessen eines ehrgeizigen Doktors Folge zu leisten, hier ist er ausgewählter Proband eines weit größeren Menschenexperiments, von dem Medizin, Militär, Kirche und Staat zu profitieren suchen. Etwas unscharf in der Anordnung formuliert: Zu was ist der Mensch fähig? Zu was ist er in der Lage, wird er nur hinreichend drangsaliert? Ein Suchscheinwerfer beleuchtet es konstant.
Nicht Bohnen-Diät, nicht Schöpsenfleisch-Diät, nicht, dass es ihm verboten ist, öffentlich zu husten, wird Franz zur größten Qual – und auch nicht, dass er seine diagnostizierten geistigen Verirrungen pflegen soll –, sondern dieser stattliche Tambourmajor, der so ungeheuren Eindruck macht auf Marie, Franzens Lebensgefährtin. Dieser Tambourmajor ist eingeweiht und Instrument des Forschungsvorhabens; er installiert in Maries enger, billiger Wohnküche eine Überwachungskamera, die Live-Bilder zu senden hat ins wissenschaftliche Zentrum, wo der Doktor, der Hauptmann, ein Pastor sowie ein Minister den Lauf ihrer Untersuchungen verfolgen. Zwei Momente gibt’s, die die Studie arg forcieren: wenn sich der Tambourmajor in der engen Schlafkammer hinter der Küche Marie gefügig macht und Franz von Doktor und Hauptmann dieser Beischlaf gesteckt wird. Nun kennt Wozzeck kein Halten mehr: Marie wird zum Kollateralschaden des Experiments – und wenig später dann ersticht der Proband sich selbst.
Kirche, Militär, Politik aber: Sie wenden sich kopfschüttelnd ab, zeigen sich empört über den „Wissensdrang“ der Medizin. Was bleibt nach Richard Brunels drastischer, fatalistischer, soghafter, großstädtischer und naturferner Inszenierung von starker Personenführung? Es bleibt das gemeinsame Kind von Marie und Franz, das medienabgelenkt nicht so recht begreift, was der Tod seiner Eltern ihm bedeuten wird.
Der Lyoner Intendant kochte selbst, und auch die musikalische Leitung bleibt Chefsache: Daniele Rustioni dirigiert einen zugespitzten, geschärften, dramatisch packenden Berg-„Wozzeck“ – Szene und Graben gehen Hand in Hand. Und Stéphane Degout singt und spielt die Titelrolle ungewöhnlich wehrhaft-kämpferisch, freilich librettogemäß erfolglos, während Ambur Braid als Marie und Pragmatikerin des Lebens sich ungewöhnlich schnörkellos und voluminös entäußert. Vorzüglich daneben: der hohe Tenor von Thomas Ebenstein als Hauptmann.
Rüdiger Heinze
„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg