von Maike Graf

Am 27. September denken wir einmal ganz fest an den Komponisten, der sein fünftes Kind nach der Titelheldin von Wagners „Fliegendem Holländer“ Senta nennt, wenige Monate nachdem er das Werk zum ersten Mal in Bayreuth sieht. Vielleicht würde Humperdinck auch ein ganzes Gedenkjahr gerecht werden, ist er doch der Erfinder jener Sprechnotenschrift, für die dann später ­Arnold Schönberg als revolutionär gefeiert wird. Für sein „gebundenes Melodram“ notiert Humperdinck bereits jene Kreuzchen an den Notenhälsen, die die Sprech­höhe angeben.

In den letzten 30 Jahren wird in Wissenschaft und Musik mit sehr viel Leidenschaft versucht, das märchenverklärte Bild von Engelbert Humperdinck realistischer zu zeichnen. Lange führt die Feder dabei seine Enkelin Eva Humperdinck, dieses Jahr wird sein Schaffen neu beleuchtet von Biograf Matthias Corvin. Zum 100. Todestag wollen auch wir uns an einige von Humperdincks musiktheatralen Kompositionen erinnern.

Der „Parsifal“-Effekt und eine Frage der Ehre

Eine von Humperdincks ersten Kompositionen für die Opernbühne ist eine kleine Erweiterung der Verwandlungsmusik im ersten Akt von Wagners ­„Parsifal“, die der 28-Jährige seinem Meister schreibt, um dessen Umbauvision zu ermöglichen. Nein, es müssen keine Urheberrechte auf den Produktionsassistenten ­Humperdinck übertragen werden, der an einem Steingraeber-­Flügel die Skizzen Wagners abschreibt und für den Druck präpariert. Aber dass diese „Parsifal-Flicke“ tatsächlich den Bayreuther Orchestergraben erreicht, ist für ­Humperdinck der „höchste Preis in der Komposition“, obwohl er sogar durch das Mozart- und Meyerbeer-­Stipendium gefördert wird.

Durch diesen Moment ist Humperdinck für immer mit dem Namen Wagners verbunden. Schon zu seinen Lebzeiten kommt die Rezeption nicht ohne die Wagner-Verweise aus. Und natürlich ist diese verbissene Suche nach Parallelen zwischen dem Wagner-Epigonen und seinem Meister nicht nur naheliegend, sondern auch gerechtfertigt. Wer sucht, der findet – beispielsweise die Leitmotivik in Humperdincks Oper „Königskinder“, einen ausgeprägten Hang zum Horn, zu gerne auch als rhythmische Fanfare, oder einen düsteren Solokontra­bass durchsetzt mit unterschwelligen Pauken, wie im Prelude zum zweiten Akt seiner Komischen Oper „Die Heirat wider Willen“. Das könnte auch das Vorspiel zum zweiten Aufzug von Wagners „Siegfried“ sein. Noch viel tiefere Wurzeln werden sichtbar, wenn man das inhaltliche Fass öffnet. In ­Humperdincks „Ausstattungsstück mit reichlich Musik“ „Dornröschen“, irgendwo zwischen Schauspiel und Singspiel angesiedelt, macht sich der Prinz auf die Suche nach dem von einem Zwergenkönig hergestellten, erlösenden Ring, ganz wie man es aus Wagners „Ring“ kennt.

Ausflug in die Welt der Komischen Oper: Partiturausschnitt aus „Die Heirat wider Willen“ (1905) (Foto Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main)

Doch gerade weil der Wagner-Humperdinck-Knoten über die Jahre so festgezurrt ist, sind Vergleiche aus anderen Richtungen rar, wenn doch nicht weniger fruchtbar: „Mozart war es, den ich mir zum Vorbild genommen“, sagt Humperdinck über frühe Kompositionen. So findet sich ein bisschen Mozart beispielsweise in dem frisch entdeckten Klavierstücklein „Erinnerung“, in dem eine süße Melodie über einfacher Basis trällert. ­Humperdincks Melodram und auch die folgende Volloper „Königskinder“ folgen dem gleichen Ansatz wie ­Claude Debussy, bei dem sich Ideal, Sprache und Musik näher aneinanderschmiegen, weshalb Debussys ­„Pelléas et Mélisande“ auch eine Literaturoper genannt wird. ­Felix Mendelssohn-Bartholdys „Sommmernachtstraum“-­Ouvertüre möchte man in den zauberhaften Holzbläsern von „Dornröschen“ heraushören, oder aber Hugo Wolfs Liedbegleitungen in den Orchesterbegleitungen von Humperdincks Liedern aus den „Königskindern“.

Volksnahe Komposition und meisterhafte Bearbeitung

Humperdinck und das Lied – sei es Volkslied, Kinderlied oder nur die liedhafte Geste – sie haben sich eingehakt, um den Milchtopf bis zum Zerbrechen zu umtanzen: „Rundherum, es ist nicht schwer.“ Lieder als „Keimzellen der Komposition“, Lieder als „Lyrische Inseln“, Lieder für den „Schein des Bekannten“ – so nennt die Rezeption Humperdincks Vorliebe für liedhafte Einschübe, die er besonders in seinen Musiktheaterwerken auslebt. Lieder sind der maßgebliche Teil von Humperdincks Personalstil. Er soll wohl immer zunächst die Liedstellen vertont und in der Verarbeitung der daraus gewonnenen Themen das große Ganze komponiert haben. Die Parallelen zum Volkslied mit seiner einfachen Strophen-, Bogen- und Barform und den hyper-eindringlichen ­Melodien im Volkston sind dabei nur allzu deutlich.

Humperdinck ist ein Meister der Umarbeitung, das beweist er mit zahlreichen Wagner-Transkriptionen oder der Opernüberarbeitung „Das eherne Pferd“, welche seine ersten kompositorischen Glanzleistungen sind. Ob eigene Liedkompositionen oder traditionelle Lieder wie „Tochter Zion, freue dich“ für seine Pantomime „Das Mirakel“: Humperdinck nimmt das Bekannte, das Lied her und legt es zum Strahlen in ein größeres musikalisches Konzept, anstatt es wie verlorene Brotkrumen in den Wald zu streuen. Natürlich ist Humperdinck dabei durchaus bewusst, dass es genau diese Verschränkung mit dem Vertrauten ist, die gerade seine Märchenopern so beliebt macht.

Auf ewig der „Märchenonkel“? Karikatur von Oscar Garvens, 1919 (Foto Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main)

Eine andere Eigenart des Humperdinck’schen Komponierens ist das Ideal der „innigesten Verbindung“ von Musik und Sprache, die den Komponisten zum Erfinder des „gebundenen Melodrams“ macht. Die Schauspielenden werden in ihrer Sprachmelodie an die Musik gebunden, Orientierung gibt die neu erfundene Sprechnotenschrift. Aus seiner Arbeit am Melodram „Königskinder“, der Vorform zur gleichnamigen Volloper, kennt ­Humperdinck bereits das Spannungsfeld um den Theaterrealismus, noch bevor er mit Max Reinhardt zahlreiche Schauspielmusiken erarbeitet – beispielsweise zu Shakespeares „Der Sturm“, „Was ihr wollt“ und „Der Kaufmann von Venedig“ oder Maurice ­Maeterlincks „Der blaue Vogel“. Während Humperdincks Komposition für Orchester und melodramatischen Sprachgesang die Bühne untermalt und spiegelt, setzt sie zugleich, wie schon im Melodram, der Literaturvorlage die Krone auf und folgt treu dieser Königin. Im „Kaufmann von Venedig“ malen Oboen auf Streicherbett oder Klarinetten über Harfenarpeggien eine Liebesszene wie Monets Blumengarten.

Schatten und Licht

Um Humperdinck gerecht zu werden, muss noch die Komische Oper einen kleinen Hexenritt unternehmen. Der Komponist will eigentlich mit seinen Komischen Opern Karriere machen. „Die Heirat wider Willen“ schreibt er 1905 – in dem Wunsch, ein zweiter Albert Lortzing zu werden und eine Gegenbewegung zum pathetischen Stil des Verismo zu bilden. Die Sagen und Mythen seien durch Wagner sowieso schon abgearbeitet. Beim Blick auf die Spielpläne aber wird klar, dass ihm dieser Traum wohl versagt bleibt. Schon damals wird die deutsche Operette als lustiger und unterhaltsamer und Strauss’ „Rosenkavalier“ als innovativer empfunden. Dabei hat Humperdincks „Heirat wider Willen“ mit seiner leitmotivischen Fanfare mindestens genauso viel Ohrwurmcharakter wie die Lieder seiner Märchenopern.

„Die sieben Geißlein“, „Dornröschen“, „Schneewittchen“, „Königskinder“, „Hänsel und Gretel“ – kein Wunder, dass Engelbert Humperdinck heute als „Märchenonkel“ bekannt ist. Harmonien zum Versinken treffen auf Lieder zum Mitsingen. Dezidierte Polyphonie windet sich in zarten, auch naturalistischen Leitmotiven, die sich wiederum in Wolken der Abschnittsmotivik tummeln. Dazu kommt eine niedrigschwellige musikalische Charakterbildung von Gut und Böse – in den „Sieben Geißlein“ plakativ durch Dur und Moll, in den „Königskindern“ durch tiefalterierte Noten für die verführende Hexe und in hochalterierten Noten für die reine Gänsemagd. All das zusammen in den Ofen und man backt sich die knusprige Märchenoper „Hänsel und Gretel“, die Jahr für Jahr die Massen in die Opernhäuser zieht – schon seit 1970 auch in japanischer Übersetzung. Besonders zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck wollen wir aber keinesfalls vergessen, dass er viel mehr an Musiktheater komponiert hat.

Empfehlung

Wer sich näher mit Engelbert Humperdinck beschäftigen möchte, dem sei wärmstens die Biographie „Märchenerzähler und Visionär“ von Matthias Corvin empfohlen. Der Musikwissenschaftler hat eine fundierte, dabei anregend zu lesende Lebensschilderung vorgelegt, die eine wahre Fundgrube an Wissenswertem über den Komponisten und sein Schaffen darstellt. Darin integriert sind detaillierte, gut verständliche Analysen seiner Werke. Ergänzt wird der biographische Teil durch journalistische Texte Humperdincks und einen umfangreichen Anhang mit einer Quellenauflistung, dem Werkverzeichnis und einer Zusammenfassung aller diskographischen und bibliographischen Veröffentlichungen, darunter allein zwölf Seiten über „Hänsel und Gretel“. Was das Buch zusätzlich attraktiv macht, ist die geradezu verschwenderische Fülle an persönlichen Fotos, Szenenbildern von historischen Aufführungen und abgedruckten Titelblättern von Partituren, Klavierauszügen und Programmheften. 

Karin Coper

Matthias Corvin:
„Märchenerzähler und Visionär.
Der Komponist Engelbert Humperdinck“
292 Seiten, Schott Verlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2021

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