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Beiträge 2021/01

„Ich habe eine neue Freiheit gewonnen“

Ein Gespräch mit Thomas Quasthoff

Ein Gespräch mit Thomas Quasthoff

von Claus-Ulrich Heinke

„Lass uns in den Garten gehen. Da ist es heute so schön“, begrüßt mich Thomas Quasthoff an der Tür. Wir sind in seinem Haus in Berlin verabredet. Es ist einer dieser wunderbar sonnigen Herbsttage, die das Gemüt beruhigen und in leicht melancholischer Weise anrühren. In dieser Atmosphäre sitzen wir nun unter herbstlich leuchtenden Bäumen auf der Terrasse und sprechen über Gott und die Welt.

Mir fällt seine Gelassenheit auf. „Ja, das stimmt. Ich fühle mich sehr wohl und entspannt. Bei dem Trubel, den ich in meinem Leben hatte, brauche ich nun diese ruhige Atmosphäre hier zu Hause. Auf Reisen hatte ich auch oft eine Art von Ruhe, wenn ich nach einem Konzert alleine in meinem Hotelzimmer war. Aber da war auch Einsamkeit. Jetzt ist es innere, heilsame Ruhe. Früher war ich ein größerer Gesellschaftsmensch und stand oft im Mittelpunkt. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ich genieße das Leben hier mit meiner Frau Claudia, unserer Tochter Charlotte und den Freunden.“

Wie auf ein Bühnenstichwort hin erscheint Claudia mit Kaffee und belegten Broten. Kleiner ehelicher Zwischendialog: „Danke dafür.“ „Ich bin jetzt weg. Der Hund ist oben.“ „Alles klar, mein Schatz. Ich hab dich lieb.“ Seit 14 Jahren sind sie verheiratet. „Es ist jetzt noch inniger als früher“, sagt Quasthoff mit einem liebevollen Lächeln um die Augen. Offen erzählt er auch von einer Krise, die sie aber durch Sprechen und Reflexion gemeistert haben. „Ich habe in der Zeit viel über mich selbst gelernt, auch durch etwas Hilfe von außen. Alles ist gut jetzt. Es ist das reine Glück.“ Über die andere Krise nach dem Tod des Bruders und seiner Mutter, in der es ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Stimme verschlug, ist oft und ausführlich berichtet worden. Das ist nicht unser Thema an diesem Vormittag. Vielmehr sprechen wir über die vielfältigen Möglichkeiten, die ihm sein jetziges Leben bringt. „Ich habe eine neue Freiheit gewonnen, was herrlich ist. Das gilt zum einen für meinen Terminkalender, ich kann selbst bestimmen, was ich will und was nicht. Viel mehr aber gilt die Freiheit der Vielseitigkeit, die sich mir eröffnet hat.“

Thomas Quasthoff
(Foto Gregor Hohenberg / Sony Music Entertainment)

Die Lust, sich mit der Stimme auszudrücken, ist unverändert

Und in der Tat. Über vierzig Jahre lang war der Sänger ein Weltstar der Klassikwelt. Heute entdeckt man seinen Namen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Auch mit differenzierter Sprechkunst – und das stets auf hohem Niveau. Ob er den Narr in Shakespeares „Was ihr wollt“ im Berliner Ensemble gibt, ob er Texte zu Haydns „Sieben letzten Worte“ rezitiert, ob es das Melodram in Schönbergs „Gurre-Liedern“ oder dessen erschütternde Komposition „Ein Überlebender aus Warschau“ ist – mit Simon Rattle, Zubin Mehta und Ingo Metzmacher an den Dirigierpulten: Seine Stimme berührt die Menschen. Beim Projekt „SWR Young ClassiX“ erzählt er spannende und unterhaltsame Geschichten für Kinder ab sechs Jahren, bei denen junge Menschen unversehens auch klassische Musik erleben. Oder man findet ihn auf dem Spielplan von Dieter Hallervordens Schlosstheater mit Texten von Hans-Dieter Hüsch. „Die Hüsch-Texte liebe ich. Er hat mir noch zu seinen Lebzeiten erlaubt, seine Worte zu lesen. Und ein Örgelchen hatte ich in bester Hüsch-Tradition auch dabei. Richtig toll waren jetzt im Sommer die musikalisch-literarischen Abende ‚Kurz und Knapp‘ zusammen mit Katharina Thalbach im Schillertheater. Wir hatten so viel Spaß und es war noch dazu ein Riesenerfolg.“

Endlich kann er auch eine alte Liebe neu erwecken: den Jazz. In vielen Interviews erzählt er, dass er dabei ein neues Instrument erlernen musste: das Mikrofon. „Ich bin im Jazz überhaupt der Lernende. Ich bin so glücklich, dass ich mit Simon Oslender (Klavier), Dieter Ilg (Kontrabass) und Wolfgang Haffner (Schlagzeug) drei Weltklasse-Jazzer an meiner Seite habe. Die wissen, wo es lang gehen muss.“ Wer allerdings das Quartett live erlebt, erkennt sofort, dass Quasthoff hier schwer untertreibt. Was er an Stimmfarbe, Emotionen, Improvisationen einbringt, zeigt ihn auch hier als Meister aller Stile. Dass er auch in diesem Genre die großen Konzertsäle wie in Baden-Baden, Wien, Hamburg, München und bei großen Festivals füllt, macht ihn durchaus stolz. Gibt es Unterschiede zum klassischen Lied? „Ja, im Jazz musst du viel intensiver aufeinander hören, bist in einem ständigen musikalischen Dialog miteinander und die Emotionen sind persönlicher, direkter. Gleichzeitig hast du aber auch eine große Freiheit bei der Gestaltung. Und das ist jedes Mal neu.“  

„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …“

Und dann war da vor fünf Jahren doch Bachs „Matthäus-Passion“ mit dem Dirigenten Thomas Quasthoff beim Verbier Festival. „Ein besonderes, unvergessliches Erlebnis. Ich wurde vom herrlichen RIAS Kammerchor, einem tollen Orchester und von mir ausgewählten Solistinnen und Solisten wunderbar unterstützt.“ „Hat die Musik von Bach, die du so oft auch selbst gesungen hast, einen Nachklang für deine eigene Religiosität?“, interessiere ich mich. „Weniger. Ich habe zum Christentum generell Distanz. Aber bei der ‚Matthäus-Passion‘ ist das anders. Als zum Beispiel der Chor bei unserem Konzert den Choral ‚Wenn ich einmal soll scheiden‘ a capella sang, hat das sehr tief berührt. Auch mich. Bis dahin hatte es übrigens ununterbrochen geregnet. Als ich in der Pause dann aus dem Saal ins Freie trete, bricht die Sonne durch, die Schweizer Berge liegen vor mir und der Himmel wird blau. Direkt nach diesem Choral! Weißt du, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…“

Ich komme, nicht ganz von ungefähr, auf eine bestimmte Choralzeile zurück: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten…“ Quasthoff reagiert prompt. „Das hat essentiell mit mir zu tun. Ich hatte in meinem Leben viele Ängste. Schau mal, mit neun Monaten kam ich für anderthalb Jahre weg von zu Hause und lag im Annastift Hannover im Streckverband. Visuell und körperlich ohne engere Beziehung zur Mutter. Heute weiß ich: Das ist die Wurzel meiner später immer wieder aufkeimenden Verlustängste. Lange habe ich mir gesagt, dass das alles Quatsch ist. Und dass ich das packe. Habe ich aber nicht. Erst in der Dynamik der Beziehung zu Claudia ist mir das klar geworden. Jetzt habe ich keine Angst mehr.“ Und er fügt hinzu: „Im Choral gibt es ja auch eine Vision, wie die Ängste sich auflösen können. Bach bzw. der Lieddichter Paul Gerhardt beziehen die Lösung der Ängste auf Jesus. Damit kann ich nicht so viel anfangen. Ich sehe das umfassender. Es ist die Liebe, die Hoffnung bringt. Zwischen den Menschen, auch zu mir selbst. Aber auch im Hinblick auf Freundschaften und auf Menschen, die mir helfen, auf dem Teppich zu bleiben.“

Liebe auch kosmologisch gesehen, wie bei dem großen Theologen Teilhard de Jardin? Lachende Antwort: „Ne ne, so kosmisch bin ich nicht, so esoterisch…“ Kleine nachdenkliche Pause, dann: „Es gibt aber schon Ebenen. Ich will jemanden anrufen und das Telefon klingelt und der Mensch ist dran. Oder, was ganz eigenartig war: Ein dreiviertel Jahr nach dem Tod meines Bruders kommt er zu mir im Schlaf und streichelt über meinen Kopf. Das war nicht eingebildet. Das war real. Ich habe es gespürt… Ach, ich weiß es nicht. Wissend werde ich vermutlich erst sein, wenn ich den Löffel abgegeben habe.“

Und dann sprechen wir doch über die letzten Tage seines Bruders, wie er ihm die Hand hielt, über die Palliativbegleitung, über den Tod der Mutter und ihre letzten Worte „Pass mir auf die Claudia auf“ und wie er vor der Beerdigungsandacht seiner Mutter Zeit alleine in der Kapelle hatte, weinen konnte und Abschied nahm.

Thomas Quasthoff
(Foto Gregor Hohenberg / Sony Music Entertainment)

„War der Abschied von der Klassik auch so bewegend für dich?“ „Nein, ich denke ohne Wehmut daran. Manchmal, wenn ich Aufnahmen höre – etwa meinen Liederabend beim Oregon Bach Festival in Eugene, denke ich sowas wie ‚Mh, det war schon jut, wa‘. Also eher zufrieden und gelassen als melancholisch. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, wo ich mit Claudia in Weimar im Konzert saß und mir die Tränen nur so runtergeflossen sind. Auf dem Programm stand Mahlers ‚Lied von der Erde‘. Ich liebe dieses Stück wegen dieser Auseinandersetzung Mahlers mit dem, was danach kommt, und überhaupt mit dem Sterben. Am Ende des Liedes ‚Abschied‘ wiederholt er das letzte Wort ‚ewig‘ mit langen Tönen immer wieder, eingehüllt von verendenden, langen Orchesterklängen. Diese unendliche Ruhe, die diese letzten Takte haben, war zu viel für mich. Da wurde mir bewusst, dass ich das nie wieder in meinem Leben singe. Dieser Gedanke hat mich damals sehr ergriffen. Komischerweise: Ab da war es dann aber durch. Vorbei und ein abgeschlossenes Kapitel.“

Unser Gespräch gönnt sich etwas Schweigen, Regen kommt auf und wir wechseln in das Wohnzimmer, um noch ein paar letzte Gedanken zu thematisieren. Gibt es eine Angst vor der Zeit ganz ohne Bühne? „Nein. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Zum einen habe ich das jetzt schon seit März, seit der Lockdown begann. Und: Ich habe auch drei Jahre gar nicht gesungen. Nee, ich habe keine Angst, alles hat seine Zeit. Wir sind vergänglich. Das Menschliche Sein ist ein Übergang – und das meine ich nun doch gesamtkosmisch. Ich bin da relativ entspannt. Mich beschäftigt viel mehr, was wir unserer Tochter und ihrer Generation hinterlassen.“ Und dann mit vehementem Metall in der Stimme: „Ich hasse Intoleranz, Rassismus und Nazi-Ideologie. Querdenker, die mit Rechten zusammengehen – das geht gar nicht! Verschwörungstheoretiker und Rapper mit einer Intelligenz wie ein Salzstreuer. Das alles ist ganz schlimm und wir müssen dagegen angehen!“

Eine letzte Frage. „Noch einmal zurück zum ‚Abschied‘ aus Mahlers ‚Lied von der Erde‘ und deiner Gelassenheit, über die wir heute zu Beginn unseres Gespräches redeten. Gelassenheit hat auch mit Loslassen zu tun. Letztendlich, und das im wahrsten Sinne des Wortes, auch am letzten Ende des Lebens. Angst vor dem Sterben oder gelassene Ruhe?“ Ein Moment Schweigen und Nachsinnen. Dann seine Antwort: „Über den Tod zu reden, fällt mir schwer. Was ich aber weiß: ich möchte eher gehen und mir nicht vorstellen, alleine zu sein. Wenn es aber so kommen würde, wäre ich doch nicht allein. Meine Tochter und Freunde wären da. Das ist tröstlich.“ Bald danach verabschieden wir uns. Im Auto verharre ich noch ein wenig, bevor ich starte. Dieser Vormittag im Herbst war geschenkte Zeit.

Zum Ende der „Causa Spuhler“

Umstrittener Führungsstil am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Umstrittener Führungsstil am Badischen Staatstheater Karlsruhe

von Manfred Kraft

Eigentlich begann die Führungskrise am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit einem ganz alltäglichen Vorgang: Zwei Operndramaturgen bitten Ende Juni 2020 um vorzeitige Auflösung ihres Vertrags und geben auf Nachfrage eine Stellungnahme zu ihren Gründen ab. Doch mit den von Patric Seibert und Dr. Boris Kehrmann vorgebrachten Begründungen schienen sich Schleusen zu öffnen. Die geäußerte massive Kritik am Führungsstil von Generalintendant Peter Spuhler wurde zunächst von Deborah Maier, der dritten Dramaturgin, bestätigt. Ein sinnvolles Arbeiten sei unter dem krankhaften Kontrollzwang, dem verbreiteten Klima der Angst und dem Unterdrücken jeglicher Kreativität durch den Intendanten tatsächlich nicht möglich. Gerüchte über inhumane Arbeitsbedingungen durch den Generalintendanten gab es zwar schon früher (auch aus seinen vorherigen Arbeitsstätten in Reutlingen und Heidelberg), doch bis dato blieben sie stets anonym und wenig konkret, erst die klaren Worte von Seibert und Kehrmann durchbrachen scheinbar eine Mauer des Schweigens.

Portrait Peter Spuhler
Peter Spuhler
(Foto Felix Grünschloss)

Viele befremdende Personalwechsel wurden plötzlich verständlicher: Schon Joscha Schaback, Spuhlers erster Operndirektor, verlängerte seinen Vertrag trotz fehlendem Anschlussengagement auf eigenen Wunsch nicht; die Leiter der Kommunikationsabteilung gaben sich gegenseitig die Klinke in die Hand – ein ehemaliger Mitarbeiter bekannte, dass er in eineinhalb Jahren unter drei verschiedenen Abteilungsleitern arbeitete; und auch Nicole Braunger, die derzeitige Operndirektorin des Hauses, bat bereits um vorzeitige Vertragsauflösung, was der Intendant zunächst allerdings ablehnte. Im Jahr 2015 griffen viele Medien die vorgesehene Abschiebung des kurz vor dem Ruhestand stehenden und von Spuhler wenig geschätzten Verwaltungsdirektors Michael Obermeier auf, der auf einen neu geschaffenen Posten im Stuttgarter Wissenschaftsministerium versetzt werden sollte. Viele Mitarbeiter des Staatstheaters solidarisierten sich mit dem beliebten Verwaltungsdirektor – das Motto „Je suis Obermeier“ machte am Haus die Runde – und der Fall endete schließlich in einer teuren und unergiebigen Mediation.

Gravierende Vorwürfe

Nach vielen immer offener werdenden Einzelstimmen bezog dann auch der Personalrat des Staatstheaters deutlich Stellung. In einem offenen Brief wurden die von Seibert, Kehrmann und Maier vorgebrachten Vorwürfe nicht nur vollumfänglich bestätigt, sondern sie wurden als noch weitaus gravierender dargestellt als zunächst geglaubt. Rüder Umgangston, cholerische Anfälle und gezieltes Mobbing von Einzelpersonen durch den Intendanten seien ebenso an der Tagesordnung wie eine Überstundenzahl, die weit über das an Theatern übliche Maß hinausgeht und zu mindestens acht registrierten Burn-Out-Erkrankungen führte. Vorwürfe wie eine großzügige Umgehung von Ausschreibungspflichten zugunsten persönlicher Favoriten waren dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Einen äußerst schwachen und desinteressierten Eindruck hinterließ in dieser Phase der Verwaltungsrat. Obwohl diesem bereits mehrfach Vorwürfe aus den Reihen der Belegschaft vorgetragen wurden, darunter eine Umfrage aus dem Jahr 2018, in der mehr als die Hälfte der Mitarbeiter die Atmosphäre im Haus als „eher schlecht“ bewertete, bemängelte der Verwaltungsrat nur einige „Formfehler“ an der Umfrage und verlängerte den Vertrag des Intendanten 2019 um weitere fünf Jahre bis 2026. Auch in der jetzt aufgetretenen Krise brauchte der Verwaltungsrat über eine Woche für eine erste Stellungnahme. Doch anstatt zunächst einmal Empathie mit den betroffenen Mitarbeitern erkennen zu lassen, wurde vor allem bedauert, dass die Vorwürfe öffentlich gemacht wurden. Man behauptete, keine Kenntnis von der Schwere der Anschuldigungen gehabt zu haben, und schlug einen Vertrauensanwalt vor, an den sich Betroffene wenden könnten. Da die zugesicherte Verschwiegenheit jedoch in einem ähnlichen Fall schon einmal gebrochen wurde, war diese Lösung weder vertrauensbildend noch hilfreich. Besonders die beiden Vorsitzenden des Verwaltungsrats, die Baden-Württembergische Wissenschafts- und Kunstministerin Theresia Bauer und Oberbürgermeister Frank Mentrup, hinterließen in dieser Situation den Eindruck, eher den Täter als die Opfer schützen zu wollen.

(Foto Staatstheater Karlsruhe)

„Von Haltung und Verhalten“ …?

Glaubhaft wiesen sowohl der Personalrat wie auch die Sprecher von Orchester und Chor darauf hin, dass der Verwaltungsrat mehrmals auf die untragbare Situation aufmerksam gemacht wurde. Besonders der Kulturbürgermeister sei immer wieder auf die aufgetretenen Schwierigkeiten hingewiesen worden. Deutlich distanzierte sich auch die immerhin 1.400 Mitglieder zählende „Gesellschaft der Freunde des Badischen Staatstheaters“ von Spuhler. Neben dem Bedauern über die überdurchschnittliche Fluktuation im Ensemble beinhaltete die Stellungnahme auch eine deutliche Kritik an Spuhlers Spielplan-Politik. Detailliert wurde aufgeführt, dass nicht nur misslungene Inszenierungen, sondern auch überaus erfolgreiche Produktionen – u.a. „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Parsifal“ – nach wenigen Aufführungen wieder aus dem Spielplan verschwanden. Die wenigen regelmäßig wiederaufgenommenen Werke („Carmen“, „Hänsel und Gretel“, „Die Zauberflöte“, „Tosca“, „La traviata“) stammen alle noch aus den Amtszeiten früherer Intendanten. Aus den zehn Jahren unter Peter Spuhler rückte einzig „My Fair Lady“ in diesen Kreis. Von einem gelungenen Repertoire-Aufbau könne somit keine Rede sein. Der Rezensent und Chronist kann dieser Einschätzung nur voll zustimmen. Doch weder diese klaren Stellungnahmen noch dreihundert vor der entscheidenden Verwaltungsratssitzung gegen Generalintendant Spuhler demonstrierende Mitarbeiter des Staatstheaters – somit immerhin über ein Drittel der Belegschaft – vermochten den Verwaltungsrat von seiner Linie des „Weiter so“ abbringen.

Mit einer Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen wollte man der Krise Herr werden: Man berief nun zwei Mitglieder des Personalrats zu offiziellen Beratern des Verwaltungsrats, man wollte einen Vertrauensanwalt einsetzen und regelmäßige Personalbefragungen durchführen. Auch sollten die Kompetenzen und Rechte der einzelnen Spartendirektoren erweitert und detaillierter in Verträgen und Arbeitsbeschreibungen festgehalten werden. Doch mit Beginn der Spielzeit 2020/21 setzte sich endlich die Überzeugung durch, dass die vorgesehenen und bereits laufenden Maßnahmen keine Verbesserung der Situation bringen, woraufhin Bauer und Mentrup dem Verwaltungsrat im November vorschlugen, den Vertrag mit Peter Spuhler zum 31. August 2021 aufzuheben. Dem wurde am 30. November 2020 stattgegeben. Nun wird über die zukünftige Führungsstruktur des Hauses diskutiert (Generalintendant oder einzelne Spartenintendanten) sowie über die Form und Dauer einer Interimslösung.

Peter Spuhler stellte die laufende Spielzeit unter das Motto „Von Haltung und Verhalten“, doch die Haltung, von sich aus seinen Rücktritt anzubieten, brachte er nicht auf. Er hätte dem Badischen Staatstheater einen großen Imageschaden ersparen können.


Manfred Kraft verfolgt bereits seit 1970 die Entwicklungen am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Seit 1982 berichtet er vor Ort für den „orpheus“.

Italienischer Belcanto und französischer Esprit

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

von Michael Kaminski

Am 4. November 1820 – ein Jahrzehnt vor Gründung des belgischen Staates – hob sich nach zweijähriger Bauzeit zur Einweihung des Liégoiser Musentempels der Vorhang für André Grétrys einst populäre Ballettoper „Zemire et Azor“ – eine Reverenz vor dem großen Komponistensohn der Stadt. Das Baugrundstück hatte König Wilhelm I. der Niederlande geschenkt, zu dessen Reich die Maas-Metropole damals zählte.

1852 gelangte das Gebäude in kommunales Eigentum und von 1861 an nahmen die Kohle- und Stahlbarone der damals schwerreichen Industriestadt in den Logen des neu errichteten Auditoriums Platz. Seither erfreuen sich die Besucher des Hauses, das vom Liégoiser Stadtbaumeister Julien-Étienne Rémont errichtet wurde, an diesem auf die Pariser Garnier-Oper vorausweisenden Zuschauerraum im Stil des Zweiten Kaiserreichs. Seine finale Erscheinung erhielt der prachtvolle Saal schließlich durch das 1903 vollendete Deckengemälde von Émile Berchman, von dem herab Rossini, Wagner und Gounod samt einiger ihrer Opernfiguren wohlgefällig auf Bühne und Publikum hinabblicken. Zwischen 2009 und 2012 wurde das Haus nicht nur generalsaniert, sondern spektakulär aufgestockt. Hinter der Lamellenfassade des auf den Altbau gesetzten Kubus verbergen sich Proberäume, Werkstätten und Büros.

Eine prägende künstlerische Handschrift zeichnete zwischen 1967 und 1992 der streitbare Intendant Raymond Rossius vor allem durch französisches Repertoire. Seit 2007 pflegt sein dritter Nachfolger Stefano Mazzonis di Pralafera die ausgesprochene Italianità der „Königlich Wallonischen Oper“, französische Werke werden aber keineswegs vernachlässigt. Im späteren Verlauf der durch die Pandemie arg beschnittenen Jubiläumsspielzeit stehen etwa mit Verdis „I Lombardi“ und Donizettis „La fille du régiment“ nach aktueller Planung noch französische und italienische Operngeschichte unmittelbar verbindende Werke auf dem Spielplan.

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

Leinen los für 2021!

Bariton Jordan Shanahan: „Der fliegende Holländer“, viel Optimismus und – ein Baby!

Bariton Jordan Shanahan: „Der fliegende Holländer“, viel Optimismus und – ein Baby!

Für den auf Hawaii geborenen Sänger Jordan Shanahan, der seit 2013 in der Schweiz lebt, lautet auch nach acht Monaten Pandemie-Zwangspause inklusive diverser Premierenverschiebungen das Motto „Mit voller Kraft voraus“. Nicht nur im klassischen Standardrepertoire, sondern vielfach auch in zeitgenössischen Opern überzeugte der Bariton dank seiner virtuosen Bandbreite in den letzten Jahren an namhaften Opernhäusern weltweit. Jetzt wartet mit dem von Sandra Leupold in Graz inszenierten „Holländer“ (Premiere am 13. März 2021) eine weitere prominente Titelpartie, nächste Verträge führen ihn im hoffentlich wieder Corona-freieren 2021 auch nach Düsseldorf, Essen und Wiesbaden sowie erneut als Rigoletto in Philipp Stölzls umjubelter Inszenierung auf die Bregenzer Seebühne. In Zukunft stehen daneben auch der „Ring“ an der Deutschen Oper Berlin und am Opernhaus Zürich sowie last but not least sein Covent-Garden-Debüt in der Rolle des Jochanaan an.

von Renate Baumiller-Guggenberger

Mit weit über 70 Hauptrollen im klassischen und zeitgenössischen Bariton-Repertoire hat sich Jordan Shanahan ein bemerkenswert tragfähiges, bewusst breitgefächertes Fundament erarbeitet: „It’s a lot of study!“, wie er mit einem Schmunzeln bilanziert. Wenn man ihn auf seine im europäischen Opernbetrieb womöglich leicht „exotisch“ anmutende Heimat anspricht, antwortete er, dass er durchaus stolz darauf ist, auf Hawaii geboren zu sein, dies aber im gegenwärtigen Berufsalltag als Künstler keine besondere Relevanz haben sollte.     

„Mein Deutsch habe ich mit Richard Wagner gelernt …“

„Bei meinen Deutschkenntnissen habe ich mich insbesondere an den Libretti von Richard Wagner orientiert“, entschuldigt er sich zu Beginn unseres Interviews mit einem Augenzwinkern. Nach seinem Solistendebüt im Jahre 2002 und zahlreichen Verpflichtungen in den Vereinigten Staaten entschied sich Shanahan zunächst für das bislang einzige Festengagement im Schweizerischen St. Gallen. Der Schweiz blieb er auch danach zumindest privat treu und lebt jetzt gemeinsam mit seiner Frau in Bern, die am dortigen Theater als Sängerin engagiert ist. Er freut sich sehr darüber, dass er im kurzen Zeitfenster zwischen Lockdown 1 und Lockdown 2 am Berner Theater Mitte Oktober als Jago in Verdis „Otello“ auf der Bühne stehen konnte. Womöglich noch größer dürfte die Freude allerdings sein, demnächst erstmals Papa zu werden.  

Jordan Shanahan
(Foto Adrian Beck)

Ein müheloser, gesunder Klang der Stimme

Richard Wagner und sein Werk hat natürlich nicht nur als sprachlicher Impulsgeber einen gewichtigen Stellenwert für Shanahan, der in absehbarer Zeit auch Wotan Gestalt und Stimme verleihen will. Er geht mit diesem Ziel vor Augen bewusst und gerne den Weg über Alberich, Amfortas, Wolfram oder den oben erwähnten und derzeit die Probenagenda dominierenden Holländer. Gleichzeitig will sich der Künstler nicht auf die Arbeit an den Werken nur eines einzigen Komponisten fokussieren. Ganz entschieden auch im Dienste der Stimmpflege und -kultur: Um seine Stimme, die von der Presse als überbordend und vital gerühmt wird, flexibel zu halten und zu trainieren, ist die Beschäftigung mit unterschiedlichen Genres und Stilen und damit die komplette Bandbreite der vorhandenen Bariton-Literatur nötig und wichtig.

„Ich liebe neben Wagner eben auch das italienische, das französische oder russische Repertoire, beschäftige mich mit Barockmusik ebenso wie mit bestimmten Musicals“, so Shanahan, der sich zum Grundsatz „Take care of your body and the body takes care of your voice“ bekennt und konsequent danach lebt. Seine gesunde Einstellung deckt sich dann auch mit der Idealvorstellung des stimmlichen Klangs. Angepasst an den jeweiligen musikalischen Stil der Partitur, soll das Publikum seine Stimme als so natürlich und mühelos („as healthy as possible“) wie möglich wahrnehmen.  

Wie entscheidend ist ein gutes Management für die Karriereplanung?

Während der achtsame Umgang mit dem wertvollen körpereigenen Instrument Stimme weitgehend in den Händen eines Sängers liegt, scheint hingegen die Karriere nicht immer so selbstbestimmt zu verlaufen. Wie planbar war und ist für einen Bariton, der wie Jordan Shanahan bewusst als freischaffender Künstler unterwegs ist, die berufliche Laufbahn und wie entscheidend ist dabei ein gutes Management? Nach diversen, meist positiven Erfahrungen, ist für den Künstler die Vertretung durch seine langjährig etablierte Agentur, die in Zürich ansässige „Balmer & Dixon Management AG“, ein absoluter Glückstreffer. Mit seinem Agenten Florian Krumm erlebt er den Idealfall einer höchst kompetenten und nachhaltigen Zusammenarbeit und einen bereichernden, verlässlichen sowie vertrauensvollen Austausch. Er weiß sich hier – und das „quasi zu jeder Tages- und Nachtzeit“ – optimal betreut und beraten, wo es um das stimmige Timing, um die richtigen und wichtigen Stücke und Häuser geht, um so die Stimme und damit die gesamte Künstlerkarriere in die gewünschte Richtung zu entwickeln.

Über das Posaunen- und Kompositionsstudium zum Gesang

Ursprünglich hatte Jordan Shanahan ganz andere musikalische Pläne verfolgt. Er studierte an der Universität in Mānoa in seiner Heimat auf Hawaii Posaune und vertiefte das Instrumentalstudium mit drei weiteren Jahren Kompositionslehre. In diesem Rahmen wurde sein stimmliches Potential mehr oder weniger zufällig entdeckt. Was das Singen betraf, fühlte er sich seit dem frühen Stimmbruch mit elf Jahren eher „traumatisiert“ und hatte seither keinen Ton mehr gesungen. Umso überraschender kam denn auch die dringliche Empfehlung eines Dozenten, sich fortan vorrangig auf ein Gesangsstudium zu konzentrieren. Von der beim Posaunenspiel erlernten Atemtechnik profitiert er natürlich bis heute, spielen würde er allerdings nur noch zum Spaß. 1998 ging Shanahan mit einem Vollstipendium als Sänger an die Temple University in Philadelphia, nach seinem Abschluss u.a. an die Orlando Opera, die Santa Fe Opera und schließlich an das Ryan Opera Center der Lyric Opera Chicago. Ein kleiner „Nebeneffekt“ seiner vielseitigen Ausbildung: Sie kommt unter anderem Projekten mit zeitgenössischer Musik sehr zugute, weshalb Komponisten und Dirigenten wie Péter Eötvös ihn immer wieder gerne dafür anfragen. 2019 und 2020 sind zwei CD-Aufnahmen mit „Senza sangue“ (Eötvös) und „Das Schloss Dürande“ (Schoeck) international verlegt worden – nachzuhören etwa auf den bekannten Streaming-Diensten.

Jordan Shanahan
Als Escamillo in Bizets „Carmen“ (Foto Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Ein komplex informierter Sänger

Facettenreiche Erfahrungen im amerikanischen Opernbetrieb waren dann auch prägend für die Art und Weise seines Rollenstudiums. Man findet in Shanahan einen wirklich komplex informierten Sänger, der neben der reinen Gesangsarbeit auch meist so ziemlich alles über den musikhistorischen Background des Werks recherchiert hat. Mittels einer detaillierten Libretto-Lektüre nähert er sich dem Charakter und der Psychologie der Opernfiguren an – in seinem Stimmfach sind das häufig die Schurkenrollen –, hört historische Aufnahmen, macht sich mit dramaturgischen Finessen und Facetten der Komposition vertraut und entwickelt dabei entsprechend auch schon eine recht konkrete Vorstellung seiner Figurenanlage. Shanahan sieht das als Verantwortung des Darstellers der Rolle gegenüber, in jeder Operninszenierung sollte das Erforschen der Beweggründe, das „Warum bin ich so“ der handelnden Personen, sicht- und hörbar gemacht werden. „Ich möchte auch meine ‚Schurken‘ nicht eindimensional darstellen, sondern immer so vielschichtig, wie es die Partitur zulässt. So, dass deutlich wird, wie sehr sie glauben, mit ihrer Haltung und ihrem Agieren im Recht zu sein.“

Den Fokus auf das Erzählen einer guten Story hat Shanahan auch in der Zusammenarbeit mit Regisseurinnen und Regisseuren erfahren dürfen – zuletzt etwa Markus Bothe in Philippe Boesmans` Oper „Reigen“ oder Anja Nicklich im Berner „Otello“. Im Mittelpunkt: Oper als Gesamtkunstwerk und damit eine ausgewogene Balance der Summe aller künstlerischen Prozesse und Mitwirkenden. Jordan Shanahan trägt mit seiner Einstellung und der intensiven Bühnenpräsenz einen sehr wesentlichen Part zu einer solchen Inszenierungsform bei. Ein kleines Beispiel gefällig? In der Neuen Züricher Zeitung beschrieb ihn die Kritikerin Anna Kardos als „höllisch gut gesungenen und gespielten Intriganten, dessen abgrundtiefe Bosheit locker für ein paar Tote mehr gereicht hätte“. Dem ist wenig hinzuzufügen außer dem Wunsch, seine rundum positive Ausstrahlung, sein stimmliches und darstellerisches Potential im dramatischen Fach, auf das sich Shanahan zunehmend konzentriert, baldmöglich wieder live und analog auf den diversen Brettern, die für uns alle die Opernwelt bedeuten, miterleben zu dürfen!