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Und was macht das jetzt mit Dir?

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

von Dr. Thomas von Steinaecker

Ein Gespenst geht um in den Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen angestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer „echten Kulturoffensive“ im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen „Kahlschlag“ befürchten. Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von „Diwan, das Büchermagazin“ über „Kinokultur“ bis hin zum „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“. Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird – ob nun beim HR, WDR oder eben jüngst beim BR. Im Jargon des dortigen Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es, man wolle „noch mehr Hörerinnen und Hörer“ gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und ­Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein. Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Wie sieht er aus? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet „niedrigschwellig“. Woher jedoch kommt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur? Und woher die Vorstellung, es einem Hörer recht und immer noch rechter zu machen?

Damals: Die kulturell vielfältigste ­Radiolandschaft der Welt

Wirft man einen Blick zurück, auf die 1950er Jahre, die Anfangszeit des heutigen Radios, das in einer Epoche ohne Fernsehen noch Leitmedium war, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den der Begriff „elitär“ noch fast zu schwach erscheint. Der exzentrische Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern und in „Radio-Essays“ baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans ­Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll in „Sprachlaboratorien“ über „geistige Probleme“ nachzudenken. Das „Abendstudio“ des ­Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto „Zumutung höchster Ansprüche“ und der NWDR leistete es sich, ein teures elektronisches Studio mit den modernsten Apparaten auszustatten sowie Karlheinz ­Stockhausen für Avantgarde-­Kompositionen ein ordentliches monatliches Salär zu zahlen. Nicht selten zog das Reaktionen nach sich wie nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs „Träume“, das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte einsperren, so ein Hörer. Und wo man schon dabei sei: dieser Stockhausen (dessen Mutter von den Nazis euthanasiert wurde), der gehöre „vergast“. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Gütesiegel.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den 1950er Jahren nicht nur die kulturell anspruchsvollste und vielfältigste in Europa, sondern auf der Welt war. Deutschland wurde damals zu einem international einzigartigen Radioland. Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde Null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte, vor allem die USA, investierten Unsummen in das, was sie „Reeducation“ nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essentielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dieses analysierende Argumentieren, das so etwas wie das kühle Herz dieser Sendungen ausmacht, oft mit schwer verdaulicher Trockenheit einherging. Und ja: Das alles war, eben zeittypisch, eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Und sicher: An manchen Stellen lief dieses Projekt der Aufklärung Gefahr, zu einem exklusiven Club der Besserwisser zu werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt. Trotzdem: Dieser unschöne Begleitakkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundes­republik und seines Radios ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln hervorrufen würden. Darunter vor allem die Nummer eins auf einer Shitlist des Uncoolen: „intellektuell“. Intellektuell? Kanon? Bildung? Das Radio als kulturelle Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts? Echt jetzt? Kann schon sein, dass manch einem da ein „Ist mir zu deep, Digga!“ auf der Zunge liegt.

Heute: Emotion sticht Analyse

Björn Wilhelm, vorher Programmchef des NDR-Fernsehens, seit März 2022 Programmdirektor Kultur des Bayrischen Rundfunks (Foto BR/Markus Konvalin)

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten „Regal“ bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit Dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen. Im aktuellen Positionspapier des BR, die Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es etwa, dass „ganz neue Formate geplant seien“ und „traditionelle Literatur­kritiken ersetzt“ würden durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen. Ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das bereits seit Jahren im „Tagesgespräch“ auf Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der Hörer aus der Gruppe der legendenumwoben ominösen und von allen Seiten auf anbiedernde Weise umworbenen postmateriellen und neoökologischen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den sogenannten Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? „Zumutung höchster Ansprüche“? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja, höhlenmenschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht.

Aber vielleicht existiert er ja doch – in naher Zukunft. Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Wunsch- oder besser Albtraumhörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Totalverweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. Aber wen juckt schon so ein Vertrag? Bildung, wozu? Am Kipppunkt in der Entwicklung eines trotz Fernsehens und Internet immer noch maßgeblichen Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es geht um viel Grundsätzlicheres und Gefährlicheres: Ohne Not wird hier Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den 1950ern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit Dir?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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Hey, ich bin Antonia!

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Gleich zwei Preise räumte die 25-jährige Musicaldarstellerin am Münchner ­Gärtnerplatztheater beim diesjährigen MUT-Wettbewerb (für Musikalisches ­UnterhaltungsTheater) ab: den 2. Jury- und den Medienpreis, gestiftet von der „orpheus“-Redaktion. Mit eindringlicher Bühnenpräsenz, gekonntem Einsatz verschiedenster Stimmfarben und einer überzeugenden Körpersprache brachte die Studentin der Essener Folkwang Universität der Künste Jury wie Zuschauer auf ihre Seite. Aktuell sammelt sie in der Dortmunder Produktion des Rockmusicals „Rent“ praktische Bühnenerfahrung, ehe im März 2024 ihr Studienabschluss ansteht. Ein vielversprechendes Talent und bereits jetzt eine spannende Künstlerpersönlichkeit.

Interview Matthias Boll

Total überraschende Frage an die Absolventin der Rudolf-Steiner-Schule: Wie oft sind Sie schon gebeten worden, Ihren Namen zu tanzen?
Das kann ich noch an meinen Fingern abzählen. Das Thema ist leider sehr klischeebehaftet, ich weiß. Aber ja, ich kann meinen Namen tanzen und könnte es auch sofort vorführen.

Sie haben bei der MUT-Gala einen Song aus „Anastasia“ präsentiert, darin heißt es: „Denn mein Traum spricht zu mir: Gib deine Hoffnung nicht auf!“ Können Sie sich mit Anastasia identifizieren?
Ich würde es so interpretieren: Eine junge Frau versucht, nach ihrem Herzen zu leben, nach dem Sinn in diesem Leben zu suchen und sich mutig gegen ihre Ängste durchzusetzen.

Das Künstlerdorf Worpswede, in dem Sie aufgewachsen sind, bezeichnete Paula Modersohn-Becker als „Wunderland“. Schwärmt man mit 16 von Worps­wede oder eher vom Bahnticket nach Bremen?
Worpswede ist wirklich sehr schön grün und schnuckelig, die Museen sind toll und eine Inspiration. Das prägte meinen Bezug zur Kunst. Aber Bremen fand ich mit 16 spannender, erst recht nach dem Abitur.

Was war der Lebensmoment, in dem Sie wussten: Ich muss auf die Bühne.
In der Schule habe ich in „Peer Gynt“ mitgespielt und in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Ich habe die Freude gespürt, wie es ist, Geschichten zu erzählen und dies in einer Gruppe zu erarbeiten. Das spüre ich bis heute. Das Rampenlicht war nie ausschlaggebend, eher die Neugier darauf, was eine gute Geschichte mit mir macht.

„Mein Traum spricht zu mir“: Antonia Kalinowski im Finale des MUT-Wettbewerbs 2023 (Foto Marie-Laure Briane)

Nicht alle Eltern sind begeistert, wenn das Kind den Wunsch äußert, als Musicaldarsteller sein Geld zu verdienen. Wie hoch flog der Hut im Hause Kalinowski?
Ich habe das große Glück, dass mich meine Eltern immer unterstützt haben. Meine Schwester und ich sollten etwas machen, das ihnen Schmetterlinge im Bauch beschert. Meine Eltern schneiden alles aus, was über mich in der Zeitung steht. Vor dem MUT-Auftritt sagte meine Mutter: „Antonia, wenn es nicht klappt, machen wir uns einfach eine gute Zeit in München.“ Es hat geklappt, das bayerische Frühstück am nächsten Morgen war wunderbar.

Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff Ruhm?
Ja, aber ich glaube, ich übersetze ihn für mich anders. Ich bin sehr ehrgeizig und diszipliniert, aber nicht geleitet vom Gedanken, dass ich die Nummer eins sein muss. Ich frage mich eher: Was macht mich aus, was macht mir so viel Freude, dass darin eine Herzensqualität steckt?

Hätte aus Ihnen auch eine Opernsängerin werden können?
Ich finde diese Sparte unfassbar beeindruckend, aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Die Erzähl­variationen des Musicals ziehen mich mehr an. Mein erster Musicalbesuch war „König der Löwen“ in ­Hamburg, ich war schwer beeindruckt und bin es geblieben.

Welches Vorurteil über Musicals würden Sie gern hier und jetzt widerlegen?
Ich glaube, das Genre wird von vielen Menschen missverstanden. Du musst alles ein bisschen können, tanzen, singen, spielen. Es ist aber mehr als nur ein bisschen von allem. Man erkennt sofort, wenn das Handwerk fehlt. Wenn du direkt nach einem Monolog singst und nicht mehr weiterspielst, das fällt auf. Man muss alle drei Sparten komplett durchdringen.

Die größte Krise durchlitt die Theaterbranche fraglos in der Pandemie. Was haben Sie gemacht in dieser Zeit?
Das war echt krass. Ich hatte Aufnahmeprüfung in ­Essen, bekam die Zusage – und zwei Tage vor Studienbeginn hieß es, dass es keinen Präsenzunterricht geben könne. Man freut sich dermaßen, und dann ist alles eingefroren. In meinem Jahrgang sind wir zu sechst, es gab viel Online-Unterricht. Immerhin hatten wir genügend Zeit, die Inhalte zu verarbeiten. Ich bin jedenfalls absolut zufrieden, auf der Folkwang zu sein. Hier liegt der Fokus auf dem Künstler und der Persönlichkeit dahinter, also: Wie kann ich mit meiner Farbe diese Rolle bereichern? Das macht einen zu einem sehr autonomen Darsteller. Ich bin froh, dass ich während Corona den Uni-Schutzmantel hatte, statt in der Realität mit roten Fahnen erwartet zu werden.

Stage Entertainment meldet erstmals wieder Besucherzahlen auf Vor-Corona-Niveau. Dennoch steht die Branche vor der Herausforderung, immer wieder ein neues, junges Publikum anzusprechen. Haben vielleicht Sie das Patentrezept?
Es ist eine schwierige Branche. Musicals wie „­Moulin Rouge“ schaffen es, die Leichtigkeit des Genres zu feiern. Und es gibt die Produktionen, die genau diese Erwartung mit Ernsthaftigkeit brechen. Viele glauben, Musical sei eine grelle Welt mit Tanz und Glitzer, dabei ist es so viel mehr. Deutschland hat Staats- und Stadttheater, die die kleineren, ernsthaften Formate bedienen, wie zuletzt Fürth mit „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“. Und in Hamburg gibt es eben die Großformate. Diese Mischung hält das Genre lebendig.

Auftrittspraxis im Studium (Foto Felix Rabas)

Sie beenden Ihr Studium Anfang 2024 – und dann?
Ich bin sehr gespannt. Natürlich guckt man, welche Geschichte man erzählen möchte. Stage oder das ­Ronacher würden mich interessieren, weil ich gern wüsste, wie es ist, pro Woche sieben Shows zu stemmen. Das ist sehr, sehr anstrengend. Für den Sommer 2024 ist etwas in Aussicht, das beruhigt erstmal. Durch den MUT-Preis habe ich schon auch die Möglichkeit zu sagen: Hey, ich bin Antonia!

Zum Job gehört auch die Robustheit, mit Absagen ­leben zu können. Können Sie?
Das Abgelehntwerden ist eine Komponente, die sich nicht leugnen lässt. Heute bist du vielleicht ein Star, morgen auf der Suche. Man muss lernen, sich damit vertraut zu machen. Dafür wird man in unfassbar vielen Momenten belohnt und weiß, weshalb man das macht.

Was muss man gemacht, erlebt, erlitten ­haben, um sich sagen zu können: Ich hab’s geschafft.
Superwichtig ist, sich ein Ziel zu setzen. Du bleibst sehr unglücklich mit dem Anspruch, es nur geschafft zu haben, wenn du bei großen Produktionen bist. Es liegt viel Frieden darin, sich den Druck zu nehmen. Brillieren kann man auch in Nebenrollen. Nichts gegen eine Hauptrolle, doch das muss im Verhältnis stehen zum persönlichen Flow.

Auf wessen Ratschläge vertrauen Sie?
Am allermeisten auf die meiner Familie. Nach einem Abend vor 700 Leuten muss man sich daran erinnern, dass man ein ganz normaler Mensch ist. Dafür habe ich meine Familie und einen guten Kumpel.

Wenn man Ihre Lieblings-Playlist durchforstet, welche Künstler finden wir da?
Auf jeden Fall Enya. Auch Joe Cocker, da sehe ich sofort, wie meine Mutter mit ihren Dance Moves durchs Wohnzimmer hottet. Aber bei mir gibt’s auch Techno, Klassik und ich mag Hörbücher sehr.

Lieber Teufelsmoor und Strand oder Berge?
Teufelsmoor. Mein Vater kommt zwar aus Bayern, aber Strand und Wasser machen das Rennen.

Hund oder Katze?
Hund. Ich liebe Katzen, habe aber eine Katzenhaar-Allergie.

Wagen oder E-Bike?
In Essen zu Fuß. Ein E-Bike hatte ich noch nie, und ich finde Autofahren unfassbar beruhigend.

Knüppel aus dem Sack oder Quinoa-Salat?
(lacht) Auf jeden Fall Quinoa-Salat! Was ist denn bitte Knüppel aus dem Sack?

Eine Bremer Mettwurst.
Nein, ich bin vegan unterwegs.

Wenn wir in zehn Jahren erneut ein Interview führen, wozu würden Sie sich dann gern gratulieren?
Dass ich Menschen getroffen habe, die mir geholfen haben, mich zu verbessern. Dass ich einen Workshop in den USA besucht und in einer Stage-Produktion mitgespielt habe. Dass ich weiß, dass ich nicht alles gemacht haben muss – und wie ich mir meine Energie einteile.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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Auf Bühnen und Bergen

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Ein Gespräch mit dem Wahlschweizer über Sport- und Musikerziehung in der finnischen Heimat, asiatische Orchesterkultur und sein außergewöhnliches Hobby

Interview Iris Steiner

Herr Inkinen, wenn man bedenkt, dass Ihr Land nur 5,5 Millionen Einwohner hat, ist die Anzahl der Musik­stars, die es hervorbringt, schon bemerkenswert. ­Leben Sie dort so entschleunigt, dass man mehr Zeit für Kunst und Kultur hat?
Vielleicht, ja. Das Gleiche könnte man aber auch über unser Nachbarland Schweden sagen oder über England und Schottland. Wir da oben im Norden sind uns in vielen Dingen ähnlich, nicht nur wegen der schönen Natur. Wir Finnen befinden uns rein geostrategisch in einer Art „Zwischenposition“. Vielleicht gibt uns das eine gewisse Charakterstärke und den sportlichen Ehrgeiz, sich mit den Nachbarn zu messen. Vielleicht sind wir dadurch auch besonders mutig und haben weniger Angst vor so unsicheren Berufen wie Formel-1-Fahrer oder Dirigent. (lacht)

Sind Finnen melancholisch? Ich denke an Sibelius oder die berühmte finnische Tangoszene …
Ich denke schon. Sie finden diese ganz besondere „finnische Stimmung“ in unserer Musik – und eben beim finnischen Tango, der ja ein recht merkwürdiges Detail unserer Volkstradition ist.

Wie haben Sie als Kind die Rolle von Musik in Ihrem Leben in Erinnerung? Wurden Sie musikalisch er­zogen?
Durch Sibelius hat Finnland eine starke musikalische Identität erhalten. Ohne ihn gäbe es das, was wir heute haben – ein Musik-Institut-System übers ganze Land verteilt – sicher nicht. Natürlich hatten wir davor auch ein Musikleben, aber Sibelius verstärkte in besonderem Maße durch Musik unsere nationale Identität. In Finnland gibt es in jedem kleinen Dorf quasi kostenlosen Musikunterricht. Das war und ist politisch gewollt.

Liegt das auch an der dünnen Besiedelung des Landes?
Ja, auch das, aber der politische Wille war genauso wichtig. Mein Leben wäre sonst sicher ebenfalls anders verlaufen. Die Stadt Kouvola, in der ich aufgewachsen bin, hat 130.000 Einwohner – und ein Staatsorchester. Auf einer Fläche, die heute größer ist als das Staats­gebiet von Luxemburg! Dort absolvierte ich meine allerersten Profi-Dirigate und habe als Solist Geige gespielt. Im Umkreis von 50 km gab es früher sogar noch ein zweites Orchester, was eigentlich unglaublich ist. Meine musikalische Ausbildung begann schon mit drei oder vier Jahren und einer Aufnahmeprüfung mit Klavier im Musik-Institut, dann ist recht schnell die Geige dazugekommen. Alles war aber wirklich nur ein Hobby unter vielen anderen Hobbys, ohne Druck. Meine Eltern sind keine Musikprofis.

Es ist jetzt aber nicht so, dass Sie nicht auch auf der Geige erfolgreich sind.
Das hat sich erst viel später gezeigt. Als Kind habe ich genauso viel Sport wie Musik gemacht und vieles ausprobiert. Tennis habe ich beispielsweise relativ schnell wieder aufgegeben, weil man da sonntagmorgens um 7 Uhr beim Training sein musste. „Geblieben“ ist der Fußball – und die Geige. Mit ungefähr zwölf Jahren musste ich mich dann entscheiden, womit ich jetzt ernsthaft weitermache. Beides war parallel nicht zu schaffen …

Es hätte also auch ein Fußballer aus Ihnen werden können?
Durchaus. Zwei der erfolgreichsten finnischen Spieler damals stammten aus meiner Gegend: Sami ­Hyypiä war Kapitän von Liverpool und Jari Litmanen mit Ajax ­Amsterdam der erste finnische Champions-League-Sieger. Dessen erster Trainer hat wiederum später auch uns trainiert. Wir schwammen durch ihn in einem gewissen Hype mit und hatten reale Vorbilder, die uns zeigten, dass Erfolg möglich ist.

Ist Ihr professionelles Violinspiel aus Dirigentensicht ein Vorteil, um Ihren Orchestermusikern möglichst klare Signale geben zu können?
Die Basis der Schule unseres Dirigier-Professors Jorma Panula an der Sibelius Academy Helsinki bestand in der Überzeugung, dass man mindestens ein Orchesterinstrument auf hohem Niveau beherrschen und sowohl ein Streich- wie auch ein Blasinstrument lernen musste. ­Panula hat unser finnisches Unterrichtssystem mit aufgebaut, ohne „Instrument-in-der-Hand-Erfahrung“ hatte man keine Chance in seiner Dirigierklasse.

Das Faible fürs Spätromantische ist dem Finnen quasi in die Wiege gelegt, sein Interesse gilt aber auch der Moderne (Foto Andreas Zihler)

Sie dirigieren dieses Jahr in Bayreuth zum ersten Mal den „Ring“. Um Ihr generelles „Ring“-Debüt rankt sich eine recht kuriose Geschichte. Erzählen Sie mal.
Es kam das Angebot aus Palermo, mit Graham Vick den kompletten „Ring“ zu machen. Nicht untypisch in ­Italien, sind wir im Frühjahr 2013 mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ gestartet und begannen parallel schon für den Herbst mit den Proben zu „Siegfried“. Im Juni stellte man leider fest, dass das Budget des Theaters so weit überzogen war, dass wir nicht wie geplant weitermachen konnten. Wir waren schockiert – und ich hatte plötzlich zweieinhalb Monate Lücke in meinem Kalender. Während einer Neuseeland-Tournee mit dem Verdi-Requiem erhielt ich von Lyndon Terracini, dem damaligen Intendanten der Opera Australia, eine überraschende Einladung zum Abendessen. An seinem Haus war genau zu dieser Zeit der Dirigent ihrer neuen „Ring“-Produktion plötzlich ausgefallen. So wurde mein italienisches „Ring“-Debüt ein australisches.

Sie sind ausnehmend viel „auf der anderen Seite der Welt“ unterwegs und arbeiten in Ländern, bei denen man nicht vorrangig an klassische Musik denkt. Ist das Zufall?
So etwas ergibt sich meistens – die Orte, an denen man arbeitet, kann man nicht auf dem Reißbrett planen. Gerade das Orchester in Neuseeland ist ein richtig tolles, modernes Orchester mit sehr viel Neugierde und ohne Vorbehalte. Ich durfte schon während meiner Ausbildung mit 25 bei den Helsinki Philharmonic einspringen. Und während eines Engagements beim New Zealand Symphony Orchestra hat es zwischen dem Orchester und mir so „gefunkt“, dass sie mich direkt gefragt haben, ob ich nicht der nächste Musikdirektor sein ­könnte.

Sie arbeiten viel mit asiatischen Orchestern, momentan als Chefdirigent in Seoul. Worin unterscheiden sich asiatische von europäischen Orchestern?
Die kann man gar nicht vergleichen. Schon zwischen ­Japan und Korea gibt es große Unterschiede – und ­China ist wieder völlig anders. Ich war bis vor Kurzem und 15 Jahre lang erster Gast- und später Chefdirigent der Japan Philharmonic. Interessant ist vielleicht, dass dort 98 Prozent Japaner im Orchester spielen, während man in europäischen Orchestern überhaupt nicht mehr auf einheitliche Nationalitäten oder kulturelle Backgrounds achtet. Das wirkt sich sehr auf die Ästhetik eines Orchesters aus. In Japan stellt man eine sehr feine Sensitivität für (Klang-)Farben fest, die vielleicht „typisch japanisch“ ist und funktioniert wie die DNA des ganzen Landes: keine allzu großen Einflüsse des Individualstils, sensible Antennen für das Ensemble und große Rücksichtnahme untereinander. Es geht immer um das Wohl der Gruppe, weniger ein Individualprinzip wie im Westen.

Das klingt im Ergebnis nach einem sehr homogenen Orchesterklang.
Ein bisschen schon. In Korea ist es wieder anders, da spürt man deutlich die starke Hierarchie der Gesellschaft, die schon in der Schule verankert wird. Die ­Koreaner arbeiten unter großem Stress, aber trotzdem voller Feuer. Sie würden immer alles geben für ihre „Mannschaft“.

Sprechen wir über Bayreuth. Ihr erster „Ring“ hier ist nicht nur ein generell umstrittener, sondern auch Ihre ganz persönliche Odyssee. Erst jetzt, 2023, sind Sie nach drei Jahren endlich am Pult angekommen. Ist das noch eine Freude – oder langsam nervig, weil es sich schon zu lange hinzieht?
Es ist gut, dass wir nun endlich den Arbeitsprozess zu Ende bringen konnten, nachdem ich im letzten Jahr kurz vor der Premiere krankheitsbedingt absagen ­musste. Darüber freue ich mich sehr. Es gab, wie Sie wissen, relativ viele Umbesetzungen und nicht nur der Dirigent hat gewechselt. Daher spielt das letzte Jahr eigentlich keine Rolle mehr. Es ist eine neue Arbeit.

Die Inszenierung von Valentin Schwarz wurde sehr kontrovers diskutiert. Ist die musikalische Leitung schwieriger, wenn eine Handlung so „gegen den Strich“ gebürstet wird wie in diesem Fall? Tun Sie sich schwerer oder spielt es keine Rolle – zumindest solange die schauspielerischen Anforderungen an die Sänger nicht zu physischen Beeinträchtigungen führen?
Es ist natürlich nicht egal, was auf der Bühne passiert, aber wir realisieren die Musik so fein wie wir können. Und wenn auf der Bühne etwas richtig stört, dann muss man reagieren. Valentin Schwarz hat übrigens eine musikalische Ausbildung auf der Geige, er kann sich gut einfühlen in das, was geht und was nicht. Das ist nicht immer der Fall, unsere Zusammenarbeit ist auch deshalb eine sehr gute.

Die vielen Buhs für die Regie lassen sicher auch die Sänger nicht kalt. Beeinträchtigt so etwas eigentlich die Motivation und die musikalische Gesamtleistung der Mitwirkenden?
Es ist schon extrem hier, ja. Aber es passiert nicht zum ersten Mal und wenn man sieht, dass es erstmals ein paar Plätze im freien Verkauf gibt, freut sich vielleicht auch ein neues Klientel über eine Karte und genießt einen „Ring“, der von viel Traditionalismus befreit wurde. Sehen wir es doch positiv!

Im November werden Sie an der Deutschen Oper ­Berlin zum ersten Mal den „­Tannhäuser“ dirigieren. Ist Wagner Ihr Lieblingsrepertoire oder sehen Sie sich als Generalist?
Die spätromantische Richtung war schon immer mein Bereich, diesbezüglich bin ich ein typischer Finne. Aber ich finde auch Weltpremieren und moderne Musik spannend und bin generell neugierig. Was ich vor allem nicht mag, ist immer das Gleiche zu machen.

Ein rasantes Hobby sorgt für die beste Balance: Pietari Inkinen ist leidenschaftlicher Skifahrer – am liebsten Downhill (Foto privat)

Sie leben seit über zehn Jahren in der Schweiz und sind begeisterter Downhill-Skifahrer. Eine ­waghalsige Sportart, die nicht gerade dem Mainstream folgt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin ein finnisch-schweizerischer Dirigent, seit Kurzem „stolzer Besitzer“ eines Schweizer Passes. Es war immer mein Traum, an einem Ort zu leben, wo mein Beruf und mein Lieblingshobby zusammenpassen. In der Schweiz kann ich diesen Sport vor der Haustüre ausüben und gleichzeitig meinen Körper durch eine komplett andere Belastung mit anderer Art von Adrenalinschub ausgleichen. Eine Woche nur am Strand zu liegen, wäre nichts für mich.

Man sagt nicht von ungefähr, dass auch das Dirigieren eine sehr sportliche Angelegenheit ist …
… und wenn man eine Geige zwölf Stunden lang am Kinn hält, bekommt man auch davon Schulterschmerzen. Es ist egal, was man intensiv macht, man braucht einen Ausgleich. Sonst geht es nicht sehr lange gut.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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Eklatfähig

Zum 125. Geburtstag von George Gershwin

Zum 125. Geburtstag von George Gershwin

von Roland H. Dippel

Keine Frage, dass George Gershwin seiner Zeit weit voraus war und die europäische Musikwissenschaft mit ihren engen Gattungs- und Genrekategorien quasi „sprengte“. Den heute als progressiv geltenden „spirit“ seines kooperierend-synergetischen Schaffens verwirklichte er in als revolutionär geltenden Werken. Geboren am 26. September 1898 in Brooklyn als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, jung (an einem Hirntumor) verstorben am 11. Juli 1937 in Hollywood, gilt ­Gershwin als „Frühvollender“. Genannt und gespielt werden (leider) allerdings die immer gleichen Haupt­titel: Die (Volks-)Oper „Porgy and Bess“, die Orchesterstücke „An ­American in Paris“ und die „Rhapsody in Blue“, das (­Piano-)Concerto in F.

Im Schatten dieser Showbiz-Blockbuster stehen bis heute seine Musicals: „Lady, Be Good!“, „Funny Face“ oder „Pardon My English“, die übrigens auch mit Songs anderer Komponisten bestückt wurden. Fast immer stammen die Songtexte von Georges Bruder Ira (Israel Gershowitz, 1896-1983). Leider hat aber dessen weitaus längere Lebenszeit keine kontinuierliche Aufführungsgeschichte für Gershwins Musicals bewirkt, weder am Broadway noch anderswo. Immerhin: „Crazy For You“ läuft seit Juni 2023 am Gillian Theatre London. Bei aller musikalischen Brillanz ereilten Gershwins Musicals das gleiche Schicksal wie Titel von Cole Porter und ­Richard Rodgers, die ebenfalls zahlreiche Welthits komponierten, ohne dass man die dahinterstehenden Bühnenwerke auch nur dem Namen nach kennt. Bis heute gibt es auch kaum eine Show oder Gala, in der nicht „­Summertime“ intoniert, gesungen oder gesummt wird, allerdings erlangte hier beinahe schon ausnahmsweise auch die komplette Oper „Porgy and Bess“ große Berühmtheit. Auch die „Rhapsody in Blue“ hat „als ­Ganzes“ überlebt, Gershwins einleitendes Klarinettenthema zur Orchesterversion ist als weltweiter Ohrwurm wahrscheinlich sogar bekannter als Mozarts „Kleine Nachtmusik“.

Brüder und künstlerische Partner: Ira und George Gershwin in Beverly Hills 1937 – nur wenige Monate vor Georges frühem Tod (Foto Rex Hardy Jr.)

Alleinstellungsmerkmal: Musikalische Universalität

Gershwins Musik zu beschreiben, sprengt die Klaviatur sprachlicher Formulierungen, enthusiastische und enthusiasmierende Floskeln würden der melodischen und rhythmischen Energie seiner Werke nicht gerecht. Eigentlich ist auch schon alles gesagt über den Beginn der „Rhapsody in Blue“ und die „vibes“ von „Summertime“. Vielleicht spürt man deshalb im Jubiläumsjahr 2023 trotz Gershwins Präsenz auf Bühnen und Podien eine gewisse Ratlosigkeit der Veranstalter, die seine berühmten Stücke seltener spielen, als man es vermuten würde. Eine andere Facette des Œuvres ist das schwer vollständig zu listende Eigenleben vieler von ­Gershwins Melodien. Unzählige Arrangements und Improvisationen gelangen mit Vorliebe auch in Programme mit Brüchen und vorsätzlichen Stilkontrasten. So setzte der Pianist Yojo Christen Gershwin in sein Album mit Klavierstücken von Franz Schubert und Franz ­Hummel – eine echt wilde ­Mischung. Das Jewish Chamber ­Orchestra ­Munich (JCOM) überraschte unter der Leitung von Daniel ­Grossmann in den Münchner Kammerspielen im Februar 2023 mit Gershwin-Songs als Programmbestandteil von „ernster“ Kammermusik mit Einflüssen des „jüdischen“ Jazz.

Der Welthit „Rhapsody in Blue“ entstand übrigens zuerst in einer Fassung für zwei Klaviere. Keineswegs hatte der berühmte Klarinettenlauf 1924 bereits die heute vom Beginn der Orchesterfassung bekannte Hörform, sondern durchlief unter Mitwirkung des Klarinettisten Ross Gorman eine Wandlung von Gershwins Ureinfall zu einer optimierten Klangrealität. Uraufgeführt wurde dieses „Experiment in Musik“ durch Paul Whitemans 23-köpfiges Ensemble in der parallel mit Gershwins Klavierfassung entstandenen Instrumentation von Ferde Grofé. Gershwins zweiter großer Konzerthit „An ­American in Paris“ wurde durch den gleichnamigen Spielfilm von 1951 bekannt, in dem das Orchesterstück als musikalischer Motor der Revue-Szenen mit ins Surreale spielenden Trick-­Effekten diente. Den ei­nen alleingültigen puristischen Gershwin-­Zugriff gibt es demzufolge nicht. Und „Porgy and Bess“ brachte für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts einen ähnlich aufrüttelnden Vorstoß wie 60 Jahre zuvor Bizets „Carmen“.

Volksoper und Identität

Das Sujet nach dem Roman von DuBose Heyward spielt „unter Afroamerikanern“ – eine Zuschreibung aus Sicht der Anfang der 1930er Jahre in den USA dominierenden weißen Bevölkerung, die pauschal „alle Menschen mit einem Tropfen schwarzen Blutes“ ungeachtet ihres äußeren Erscheinungsbilds als solche bezeichnete. ­Gershwin selbst hatte verfügt, dass seine Volksoper nur von Schwarzen gespielt werden sollte, er lehnte bereits damals das Schminken weißer Darsteller mit dunkler Farbe ab, das mittlerweile als „rassistisch“ kritisiert wird und immer wieder zu heftigen Diskussionen führt.

Eine Negierung von Gershwins Willen fand beispielsweise als deutschsprachige Erstaufführung mit der Übersetzung von Ralph Benatzky am 9. Juni 1945 im Stadttheater Zürich statt. Die Partie der Clara und deren Solo „Summertime“ sang damals die Strauss- und Mozart-Sopranistin Lisa della Casa. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte: „Das Werk ist ja für ein Negerensemble gedacht und völlig auf dessen gesangliche und darstellerische Eigentümlichkeiten zugeschnitten […] Stilisierung (die Besetzung mit weißen Darstellern, Anm.d.Red.) bedeutet in dieser echten Volksoper fraglos einen Notbehelf. Es soll damit keineswegs angedeutet sein, man habe bei uns den Grundcharakter der Oper verkannt, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, vor die sich Regisseur und Kostümgestalter gestellt sehen.“ Auch die Kritik damals hielt das von Gershwin geforderte Ideal-Ensemble für unbedingt notwendig, um die Anforderung des Werks zu „stilistisch angemessenem Spiel und Tanz“ überhaupt bewältigen zu können.

Fast 75 Jahre später – am 27. Januar 2018 – hatte „Porgy and Bess“ an der Ungarischen Staatsoper Budapest Premiere. Als die internationalen Rechteinhaber des Werks gerichtlich gegen die nicht-afroamerikanische Besetzung und ihren Intendanten Szilveszter Ókovács – bezeichnenderweise ein enger Freund Viktor Orbáns – vorgehen wollten, erklärten sich 15 der 28 weißen Ensemblemitglieder kurzerhand in einem Schreiben zu Afroamerikanern und erklärten, dass „afroamerikanische Herkunft und Bewusstsein einen untrennbaren Teil ihrer Identität“ bilden würde.

Die Drogen­kontrolle des Porgy-­Darstellers Morris Robinson im Umfeld des Schleswig-­Holstein Musik Festivals machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen – er warf dem Zoll Racial Profiling vor (Foto Felix König/Agentur 54°)

Dass die Stoffentscheidung für „Porgy and Bess“ des jüdisch-­russischen Komponisten Gershwin äußerst mutig war, kann man auch daran ablesen, dass die Erstaufführung an der New Yorker Met erst 1985, 50 Jahre nach der Uraufführung, erfolgte – die Verfilmung von Otto Preminger entstand dagegen immerhin bereits 1959. Fragen von Rassenungleichheit werden am Rande von Produktionen dieser Oper bis heute diskutiert. Als Porgy-Darsteller Morris ­Robinson zu einer Aufführung im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2022 reiste, wurde er auf Drogen kontrolliert und warf dem Zoll deshalb Racial Profiling vor. In ihrem Dokumentarfilm „Porgy and Me“ zeigte Susanna Boehm 2009 das Ensemble des New York ­Harlem Theatre auf Gastspielreise ihrer „Porgy and Bess“-Tournee. Indirekt fängt der Film auch ein, wie sich die Auseinandersetzung mit den Partien „ihres“ Stücks auf die interne und kollegiale Kommunikation des Ensembles auswirkt. Anlässlich einer Vorstellungsserie der Kapstädter Oper in Berlin 2008 resümierte Gerhard R. Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Vielleicht war die historische Situation dieser ‚American Folk Opera‘ der aktuellen Lage des Kapstädter Hauses vergleichbar: Schwarze Unterschicht und weiße Hochkultur, an sich kaum kompatibel, sollten ­zumindest ästhetisch vereint werden.“

Besetzungsstrategien in „Porgy and Bess“ sind offensichtlich auch heute noch ein befeuernder Anlass für die gesellschaftliche Debatte über künstlerische Schwellenphänomene bei Fragestellungen zu Rassismus und rassistischer Aneignung. Noch 125 Jahre nach seiner Geburt erhitzt Gershwins Forderung nach einer spezifischen afroamerikanischen Besetzung die Gemüter: Sein Genie ist so unbestreitbar wie der ästhetisch-praktikable Zündstoff seiner Oper. Möglicherweise nicht ganz von ungefähr spielen die ­Berliner Symphoniker „Porgy and Bess“ in ihrem Silvesterkonzert 2023 und würdigen das revolutionäre Werk hiermit als nicht minder humane Alternative zu dem klassischen Silvesterstück schlechthin – ­Beethovens Neunter.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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Bayreuth 4.0

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Interview Iris Steiner

(dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer März/April-Ausgabe 2023)

Zweifellos mutig, was Katharina Wagner sich da vorgenommen hat – und wahrscheinlich hätte es Urgroßvater Richard gefallen: 2.000 Zuschauer mit Hightech-Sonnenbrillen im dunklen Saal versinken in seiner Musik – und in digitalen Phantasiewelten. Leider war damals wie heute die politische Klasse wenig experimentierfreudig und degradiert die von der Intendantin ausgerufene „Werkstatt Bayreuth“ gerne und unbefugt zum Marketing-Gag. 300 Zuschauer kommen in diesem Jahr in den Genuss des virtuellen Spektakels, 1.700 gehen leer aus. „Es ist ein Anfang“, mein Regisseur Scheib und ist optimistisch, dass die technische Weltpremiere in Bayreuth genau am richtigen Ort stattfindet. 

Jay Scheib (Foto Helen Duras)

Wer hatte eigentlich die Idee, bei einer Neuproduktion in Bayreuth AR-Technologie zu verwenden – und warum haben Sie sich für den „Parsifal“ entschieden?
Grundsätzlich kam der Anstoß von Katharina Wagner. Wir haben uns schon vor Jahren, noch vor der Covid-Zeit übrigens, viel darüber ausgetauscht und überlegt, welches Werk geeignet sein könnte. Der „Parsifal“-Stoff hat eine tolle Beziehung zur Realität und zum Irrealen. Genau richtig für einen Wandel zwischen einer realen und einer virtuellen Welt. 

Es geht also um eine Darstellung dieser beiden Welten: der realistischen und dem, was Sie „magisch“ nennen. Sie möchten beide Aspekte auf der Bühne und technisch „unter einen Hut bekommen“?
Ja – obwohl es eigentlich gar nicht „magisch“ ist oder eben „virtuell“, sondern eine Mischung. Wir erhoffen uns, das Virtuelle nutzen zu können, um das Reale zu konfrontieren und umgekehrt. Aber falls wir dabei eine magische Wirkung erfahren … umso besser. (lacht)

Ist so eine Avantgarde für technisch gestützte Bühnenästhetiken denn ausgerechnet auf dem „Grünen Hügel“ am richtigen Platz? Verändert sich durch virtuelle Welten etwas Grundlegendes in der Wahrnehmung von Wagners Werk? 
Ich denke, man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Augmented Reality und ähnliche Technologien sehr bald ein zentraler Teil unseres Alltags sein werden. Wir sollten deshalb auch in der Kunst neugierig und spielerisch mit diesen Möglichkeiten umgehen und sie als das nutzen, was sie sind: heutige Ausdrucksmittel für Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben und die wir auch 2023 noch erzählen möchten. Nicht mehr und nicht weniger. Entweder wir nutzen diese Technologien im positiven und kreativen Sinn für uns – oder sie werden irgendwann uns benutzen. So einfach ist das.

Was bedeutet das konkret für die Kunstform Oper? 
Für mich persönlich bedeutet es, dass wir uns allgemeingültigem technischem Fortschritt nicht verschließen dürfen, weil er unsere Gesellschaft und unsere Zeit abbildet. Technik ist schon längst im Alltag angekommen, wir bedienen uns ihrer ganz selbstverständlich. Ich halte es für absolut überfällig, sie auch in Theater- oder Opernproduktionen einzusetzen.

Wie zeitgemäß darf Richard Wagners Werk interpretiert werden? Rund um das Bayreuther Festspielhaus eine immer wiederkehrende Fragestellung, die auch aktuell die Gemüter erhitzt (Foto Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath)

Haben Sie keine Angst vor dem als sehr konservativ geltenden Bayreuther Publikum?
Ich finde, es ist eine großartige Idee, und ich bewundere Katharina Wagners Mut und ihre Vision, die ­Bayreuther Festspiele auf diese Art weiterzudenken. Ich bin sicher, dass diese Entwicklung Richard Wagner gefallen hätte – er war ja durchaus dafür bekannt, Neues und Unbekanntes gerne als Erster „haben“ zu wollen. Davon abgesehen: Augmented Reality ist sehr kompliziert und fordert uns technisch wirklich heraus. Wir gehen tatsächlich einen ganz neuen Weg.

Warum sind Sie persönlich der Richtige für dieses Projekt – in Bayreuth, an einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt?
Ich bin ein großer Traditionalist – und ein großer Fan von Wagners Werk. Aus meiner Sicht war Bayreuth ­immer ein guter Ort für neue Inspirationen und dafür, Neues auszuprobieren. Ganz im Sinne des „Werkstatt Bayreuth“-Gedankens. Es ist eine großartige Erfahrung, hier mit den Besten ihres Fachs arbeiten zu dürfen – und ich meine jetzt sowohl die Spezialisten hinter der Bühne als auch alle Künstler vor dem Vorhang. Natürlich ist Bayreuth auch ein sehr traditioneller Ort. Aber das ist für mich kein Widerspruch, sondern eine Herausforderung. Es geht darum, den perfekten „Weg der Verschmelzung“ zu finden und die Technologie in der Komposition und im Klang dieses einzigartigen Saals quasi aufzulösen. 

Sie konnten bereits 2021 Erfahrungen in Bayreuth sammeln. „Sei Siegfried“ war ein multimediales Projekt mit Zuschauerbeteiligung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Zuerst war das Publikum natürlich skeptisch. Aber dann setzte einer nach dem anderen das Headset auf, fuchtelte wild mit den Armen und versank in der virtuellen Welt. Ein großer Spaß!

Ich habe den Eindruck, dass in der aktuellen Diskussion nicht immer ganz klar zwischen „Virtual Reality“ – wie im „Siegfried“-Projekt 2021 – und „Augmented Reality“ unterschieden wird. Würden Sie uns das erklären?
Ganz grundsätzlich ist man mit der „Virtual Reality“ in einer Welt eingeschlossen und bekommt von der Außenwelt überhaupt nichts mit. Bei der „Augmented Reality“ schaut man durch eine ganz normale Brille im ganz normalen Sichtfeld hindurch – es werden lediglich zusätzliche Elemente hinzugefügt. Da es im Theatersaal dunkel und nur die Bühne beleuchtet ist, kann man die Umgebung gewissermaßen technisch „überschreiben“. Ich kann problemlos einen Wald in den Zuschauerraum projizieren oder die Aufführung aus einem Baum heraus beobachten. Man kann die Bühne optisch meilenweit verlängern oder einen riesigen Felsen mit reflektierenden Partikeln direkt über Ihrem Kopf schweben lassen. Nichts davon schmälert die Aussagekraft der Geschichte – und schon gar nicht die der Musik. Im Gegenteil: Man kreiert zusätzliche Elemente, die das Erlebnis im besten Fall noch intensiver machen.

Virtuelle Welten auf dem Grünen Hügel (Bild Jay Scheib, interactive design Joshua Higgason)

Ist diese „Parsifal“-Produktion eigentlich eine Art „Weltpremiere“ für diese Form der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie?  
Meines Wissens hat noch niemand versucht, eine abendfüllende Oper damit auszustatten. Es gab experimentelle Versuche in der Art einer „Pass-Through-AR“, so wie wenn Sie mit Ihrem Handy eine Speisekarte scannen. Aber in unserer Größenordnung ist mir nichts bekannt. Ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren mit meinem Team und mehreren Kollegen an der Entwicklung. Und es ist zugegebenermaßen sehr kompliziert …

Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie also Regisseur und technischer Entwickler in Personalunion?
Ja, allerdings arbeiten wir zu mehreren an der Umsetzung. Unser Entwicklungschef ist der interaktive Designer und Videodesigner Joshua Higgason. Die Hardware – die Brille für jeden einzelnen Zuschauer – wird durch das chinesische Unternehmen „Nreal“ eigens für diese Anwendung hergestellt. Man kann sie sich vorstellen wie eine normale, sehr hell getönte Sonnenbrille, die unter dem Sitz mit einer kleiner Steuerungseinheit verbunden ist. Der Zuschauer muss nichts weiter tun, als zu Beginn der Vorstellung die Brille wie eine Sonnenbrille aufzusetzen. Für Brillenträger gibt es sogar passende Linsen.

Können Sie uns bereits jetzt ein paar Einblicke in Ihre Arbeit am „Parsifal“ geben? 
Gerne! Gleich während der Ouvertüre haben wir beispielsweise einen riesigen Baum aufgestellt. Sie sehen die Wurzeln, die Zweige und Sie können sehen, dass sich im Inneren des Baums eine Art Titan-Silberkern befindet. Er ist 20 Meter lang und zehn Meter breit – etwa die Größe des Saales – und dreht sich ganz langsam. Wenn Sie vorne im Theater sitzen, ist er über Ihnen, wenn Sie hinten sitzen, sehen Sie ihn im Ganzen.

Wie man hört, stehen lediglich gut 300 Brillen pro Vorstellung zur Verfügung. Nicht gerade üppig bei 2.000 Plätzen. Eine Art „Zweiklassen-Gesellschaft“? Was sehen die vielen Besucher im Publikum ohne Brille?
Wir behelfen uns mangels vollständiger Ausrüstung für alle Zuschauer mit einem sogenannten Echtzeit-3D-­Erstellungstool (insbesondere aus der Videospiel-Entwicklung) und andere Arten der Echtzeit-Videoverarbeitung auf einem riesigen Rundum-Bildschirm. Das alles sieht man dann auch ohne Brille zusätzlich zur Handlung auf der Bühne.

Können Sie also ausschließen, dass Zuschauer „ohne Brille“ etwas Wesentliches verpassen?
Ich würde es anders formulieren. Mit Brille sehen Sie eine andere Vorstellung als ohne. Ich zitiere dazu gerne den surrealistischen Dichter Paul Éluard: „Es gibt eine andere Welt. Und die befindet sich in dieser einen …“

(Screenshot Bayreuth Festival AR introduction video)

Schade für den großen „Rest“ des Publikums, der also nur die eine Welt sieht.
Ja schade, aber es ist ein Anfang. Wenn es funktioniert und dem Publikum gefällt, werden wir sicher bald auch eine größere Anzahl Brillen bekommen. „Werkstatt ­Bayreuth“ eben. Ein bisschen ist auch der Weg schon das Ziel.

Wie gehen Sie mit Ihren lautstarken Kritikern um, die es ja auch gibt?
Ich denke, es bringt nichts, wenn man sich ärgert. Es ist nichts Neues, dass Menschen auf Veränderungen zuerst einmal mit Abwehr reagieren – bis es dann plötzlich „Tradition“ ist. Ich versuche, mich dem Werk so ehrlich und tiefgehend wie möglich zu nähern. Als Wagner damals das Orchester in einem Graben „versteckte“, verloren die Leute auch den Verstand. Und dann hat diese Innovation und das ganz spezielle Klangerlebnis hier am Haus letztendlich zu einer ganz anderen Arbeitsweise der Dirigenten geführt. Was die öffentliche Diskussion betrifft, auf die Sie anspielen: Mit mir hat niemand persönlich gesprochen, und ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe, irgendetwas zu verteidigen. Es wird immer Leute geben, die ein Konzert jeder Inszenierung vorziehen würden. Meine Arbeit dreht sich um die Musik, die Geschichte und die Art und Weise, wie ein Bild zum nächsten und dann zu noch einem wird. Was ich in dieser Form allerdings tatsächlich nicht erwartet habe, ist die hohe politische Relevanz, die wir mit unserer Arbeit ganz offensichtlich auslösen …

Sind wir Deutschen fortschritts- und technikfeindlich? Oder woher kommt diese Ablehnung ihrer Meinung nach? 
Nein, ich glaube nicht, dass es an mangelndem technischen Interesse liegt. Ganz im Gegenteil, ich halte die deutschen Theaterhäuser für die besten der Welt, weil es immer geradezu einen Spaß an Innovationen gibt und daran, etwas auszuprobieren. Viel mehr als in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich. In meinen 20 Jahren, die ich hier bereits arbeiten darf, habe ich die deutsche Theatertradition immer als eine Tradition der permanenten Revolution empfunden. Und Revolution ist manchmal chaotisch. Aber es ist ein großes Privileg, daran teilhaben zu dürfen.

Sie haben lange vorgearbeitet und entwickelt. Wann beginnen nun wirklich die Proben vor Ort?
Mitte Mai startet die Einrichtung, zuvor machen wir im März und April größere technische Tests. Mein Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) besteht aus sieben Kollegen, die mit mir alles vorbereiten, was wir dann in Bayreuth einbauen werden. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sofort alle 2.000 Plätze mit Brillen ausgestattet. Aber ich gehe ohnehin davon aus, dass in ein paar Jahren jeder sein eigenes Headset mitbringen wird. Meine Aufgabe als Regisseur ist und bleibt immer die, eine neue Welt zu kreieren. Die Mittel passen sich ganz einfach der Zeit an. 

Als Regisseur und Technikexperte in einer Person arbeiten Sie in zwei eigentlich sehr unterschiedlichen Berufen. Wie haben Sie es geschafft, beides zu perfektionieren? 
Ich arbeite in vielen Disziplinen, habe klassisches Ballett gemacht, vor Kurzem eine Rock’n’Roll-Arena-Tournee in Neuseeland, dazu Musicals, experimentelle Theaterstücke und Opern. Und ich hatte schon immer ein starkes persönliches Interesse an neuen Technologien. 

Trotz allem ist es ein großer Unterschied, „Spaß“ an technischen Entwicklungen zu haben und sie professionell zu verstehen und einzusetzen. Das klingt eigentlich nach zwei Berufen.
Einiges von dem, was ich mir vorstelle, kann ich selbst realisieren und besitze eine Art professionellen Überblick darüber, was machbar ist und was nicht. Dann suche ich mir die passenden Spezialisten. Letztendlich bin ich in erster Linie verantwortlich für das Ergebnis und dafür, dass jeder Abend ein unvergesslicher wird. 

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Verflochtene Welt

Das Staatstheater Darmstadt setzt der Komponistin Ethel Smyth mit „The Prison“ ein tönendes Denkmal

Das Staatstheater Darmstadt setzt der Komponistin Ethel Smyth mit „The Prison“ ein tönendes Denkmal

von Dr. Michael Demel

Vor dem verschlossenen Zuschauerraum des Staatstheaters Darmstadt haben sich die Premierenbesucher eingefunden und warten auf Einlass. Die Anfangszeit der angekündigten Aufführung ist bereits verstrichen und eine Mischung aus gespannter Erwartung und Ratlosigkeit ist auf den Gesichtern der Gäste zu lesen. Da ertönt aus dem Foyer von ferne der Gesang von hohen Stimmen. Er wird lauter, und es nähert sich den Wartenden eine kleine Prozession von vier Sängerinnen des hauseigenen Kinderchores. Nun sind auch die Worte zu verstehen: „Shout, shout, up with your song! Cry with the wind for the dawn is breaking! March, march, swing you along! Wide blows our banner and hope is ­waking.“ Es ist der „March of the Women“, eine Hymne der Frauen­bewegung, welche die Komponistin Ethel Smyth im Jahr 1910 nach einem Volkslied aus den Abruzzen komponiert und auch selbst mit einem kämpferischen Text versehen hat. Die Sängerinnen tragen eine Büste der Komponistin feierlich vor sich her, die schließlich auf einem Sockel vor dem Eingang des Zuschauerraums postiert wird. Mit dieser Eröffnungsaktion ehrt das Produktionsteam eine schillernde Persönlichkeit.

Eine Kämpfernatur

Die einschlägigen Nachschlagewerke kennen Ethel Smyth auch als Schriftstellerin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Seit einigen Jahren hat zudem die LGBTQIA+-Bewegung sie als eine der ihren entdeckt. Vor allem aber war sie eine zu Lebzeiten weit über ihr Geburtsland Großbritannien hinaus geachtete Musikerin.

Ethel Smyth, Kreidezeichnung von 1901 (John Singer Sargent, National Portrait Gallery London) (Wikimedia Commons)

Am 23. April 1858 kam sie als viertes von acht Kindern eines britischen Offiziers zur Welt. Ein Musikstudium am Konservatorium in Leipzig erkämpfte sie sich im Alter von 19 Jahren gegen den entschiedenen Widerstand ihres Vaters. Dort kam sie in Kontakt mit wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens, darunter Clara Schumann, ­Edvard Grieg und Johannes Brahms. Der Brahms-Epigone Heinrich von Herzogenberg wurde in Leipzig ihr wichtigster Lehrer. Zu seiner Frau Elisabeth entwickelte sie ein Liebesverhältnis. Bis 1887 schrieb sie ausschließlich Kammermusik. Kein geringerer als Pjotr I. ­Tschaikowski gab ihr schließlich den Impuls, sich der Komposition von Orchesterwerken zuzuwenden. Einen ersten öffentlichen Erfolg erlebte sie 1893 mit der Uraufführung ihrer „Messe in D“ in der Londoner Royal Albert Hall. In den folgenden Jahren wandte sie sich dem Musiktheater zu. Damit ihre Opern überhaupt zur Aufführung gelangen konnten, musste sie zeit- und kraftraubende Reisen unternehmen, um mit ihrer Hartnäckigkeit einflussreiche Persönlichkeiten von ihren Werken zu überzeugen. Bedeutende Fürsprecher hatte sie in den Dirigenten Bruno Walter und ­Thomas ­Beecham. Einer größeren Verbreitung standen aber insbesondere zeitbedingte Vorurteile gegenüber einer komponierenden Frau entgegen. So ist von ­Hermann Levy, dem ­Bayreuther Uraufführungsdirigenten von Wagners „Parsifal“, die Bemerkung überliefert „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau so etwas geschrieben hat“, woraufhin die Komponistin ­erwiderte: „Nein, und mehr noch: Sie werden es auch in einer ­Woche noch nicht glauben.“

Trotz ihres Kampfes um Anerkennung als eigenständige Künstlerin in einer männerdominierten Gesellschaft hielt sie lange Abstand zu der gerade in Großbritannien erstarkenden Frauenbewegung. Erst im Alter von 52 Jahren wurde sie Mitglied der „Women’s Social and Political Union“ und schloss sich als Suffragette dem Kampf um das Frauenwahlrecht an. Für ihre Beteiligung an einer Protestaktion, bei welcher am 12. März 1912 rund um die Londoner Oxford Street zahlreiche Fensterscheiben eingeschlagen worden waren, musste sie eine Gefängnisstrafe verbüßen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ethel Smyth einer größeren Öffentlichkeit als Autorin erfolgreicher autobiografischer Schriften bekannt, was auch ihrer Anerkennung als Komponistin förderlich war. So erfuhr sie in den 1920er Jahren späte Achtung mit der Verleihung mehrerer Ehrendoktorwürden und der Ernennung zu einer „Dame Commander“ des „Order of the British Empire“. Bei der Uraufführung ihres letzten großen Werkes, der Chorsymphonie „The Prison“ im Jahr 1930, war sie bereits vollständig ertaubt. Danach widmete sie sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1944 nur noch ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin.

Starke Musik und rätselhafte Bilder

Zu dieser letzten großen Komposition hat sich das Darmstädter Produktionsteam um Regisseurin ­Franziska ­Angerer nun an einer szenischen Belebung versucht. Das ist heikel, denn das etwa einstündige Werk enthält keine äußere Handlung. Ein namenloser Gefangener sitzt in seiner Zelle und wartet auf seine Hinrichtung. Er reflektiert seine Situation und tritt in ein Zwiegespräch mit seiner Seele über die menschliche Existenz, die Vergänglichkeit und den Übergang in ein ewiges Leben ein. Die Musik dazu bleibt der spätromantischen Tradition verhaftet und ist von herber Schönheit. In Chorpassagen und einem einmontierten Choralvorspiel erkennt man die Leipziger Tradition von Bach bis Mendelssohn, mit impressionistischer Instrumentationskunst werden daneben stimmungsvolle Naturbilder heraufbeschworen. Die Verwendung von zwei altgriechischen Modalmelodien sorgt für einen Moment von Archaik. Das Staatsorchester Darmstadt entfaltet die abwechslungsreiche Partitur unter der Leitung von Johannes Zahn mit großer Sorgfalt und bringt ihr breites Spektrum an Klangfarben gut zur Geltung.

Georg Festl als Prisoner (Foto Eike Walkenhorst)

Szenisch stehen zunächst die Orchestermusiker auf der Hauptbühne im Mittelpunkt der Aufführung. Der Zuschauerraum hinter ihnen bleibt leer. Die Besucherplätze wurden auf der Hinterbühne errichtet. Zwischen Orchester und Publikum sitzt Georg Festl und knüpft ohne Unterlass Fäden zusammen, schon Minuten bevor die Musik mit einem Orgelpunkt auf dem tiefen C einsetzt. Dazu erhebt er dann mit kernigem Bassbariton und klarer Diktion die Stimme, um vom Zerrinnen seines Lebens und der Sehnsucht nach Freiheit zu singen. Von Ferne antwortet mit hellem Sopran Jana ­Baumeister als die Stimme seiner Seele, dann auch ein Chor, der den Übergang in die Unsterblichkeit verheißt. Das ist in der szenischen Konzentration und der Nutzung des Raumklanges ein starker Beginn, nicht zuletzt wegen der enormen Bühnenpräsenz von Georg Festl. Die Musik entfaltet auf diese Weise schnell eine große Sogkraft.

Der Fokus verschiebt sich im Laufe der Aufführung aber immer stärker zugunsten rätselhafter Bühnenaktionen und schemenhafter Projektionen auf einem semitransparenten Zwischenvorhang. So entfalten Bühnenarbeiter gewaltige rote Stoffbahnen, die im Schnürboden aufgehängt werden, bis herunter zur Bühne reichen, mit Knoten versehen werden und allmählich ein immer dichteres Netz bilden. Das hat als abstraktes Kunstwerk durchaus einen ästhetischen Reiz. Den Sinn dahinter erschließt jedoch erst die Lektüre des Programmhefts. Dort gibt es zunächst allgemeine Hinweise auf ein „Verflochtensein“ der modernen Welt, neuronale und soziale Netzwerke. Genannt werden bildende Künstler als Referenzpunkte für Rauminstallationen zur Visualisierung von Vernetzungen, aber auch von „dreidimensionaler Lyrik“ in Anknüpfung an eine präkolumbianische Knotenschrift. Schließlich wird auch ein Bezug zum Feminismus der Komponistin hergestellt mit dem Verweis auf das Weben als „weibliche Kulturpraxis“. Reichlich verkopft, das Ganze. Auch dass die Zuschauer ornithologisch so versiert sind, den immer wieder als Videoprojektion auftauchenden Umriss eines Vogels konkret einem Uhu zuzuordnen und dann auch noch über das Wissen verfügen, dass es sich dabei um den mythologischen „Trauer- und Totenvogel“ der Antike handelt, dürfte reines Wunschdenken des Produktionsteams sein.

Um im zentralen Bild der Aufführung zu bleiben: Die Verknüpfung der unterschiedlichen Stränge von Symphonie und Live-Installation misslingt. Auch der Versuch, dem zugrundeliegenden metaphysischen Text von Henry Bennet Brewster einen szenisch plausiblen Bezug zum politischen Engagement der Komponistin oder zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen abzugewinnen, ist nicht geglückt. Der starke musikalische Eindruck aber, den dieser Abend hinterlässt, macht neugierig auf die genuinen Bühnenwerke von Ethel Smyth.

„The Prison“ (1930)
Symphony for Soprano and Bass-­Baritone Soli, Chorus and Orchestra von Ethel Smyth
Weiterer Termin: 13. Juli
www.staatstheater-darmstadt.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2023

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Der Prinz aus der Wüste

Namibias erste und einzige Oper „Chief Hijangua“ feiert ihre Europa-Premiere in Berlin

Namibias erste und einzige Oper „Chief Hijangua“ feiert ihre Europa-Premiere in Berlin

von Antje Rößler

Mitte September kann das Berliner Publikum die erste namibische Oper überhaupt erleben. Genau genommen handelt es sich um eine deutsch-namibische Oper: „Chief Hijangua“ erzählt eine Geschichte aus dem kolonialen Deutsch-Südwestafrika. Der Komponist heißt Eslon Hindundu. Regie führt Kim Mira Meyer, die als Geschäftsführerin der Münchner Momentbühne das Projekt in die Wege leitete. Gesungen wird auf Otjiherero und Deutsch, auf der Bühne stehen Sängerinnen und Sänger verschiedener Hautfarben – aus Namibia, Südafrika und Deutschland.

Die Saat für diese einzigartige Produktion wurde 2019 beim Immling Festival im Chiemgau gelegt. Hier war Kim Mira Meyer als Regieassistentin tätig und ­Eslon Hindundu als Chorleiter aktiv. Die beiden hatten die Idee für ein gemeinsames Opernprojekt. „Das war eigentlich eine ziemlich verrückte Idee, denn Oper ist auf dem afrikanischen Kontinent eine Seltenheit“, erzählt Hindundu. „Wenn ein Namibier eine Oper erleben will, muss er ins südafrikanische Kapstadt reisen. Meine Motivation war es, meinen Landsleuten die klassische europäische Musik zu zeigen und neue Möglichkeiten für namibische Musiker zu schaffen. Es gibt hier so viel musikalisches Talent, das aber verloren geht.“

Ein weiteres Ziel: das musikalische Erbe Namibias zu bewahren. „Unsere Musik ist nicht gut erforscht und dokumentiert“, erklärt der Komponist. „In letzter Zeit verliert sie an Bedeutung. In Schulen und im öffentlichen Leben werden die alten Volkslieder nicht mehr gesungen. Es besteht die Gefahr, dass wir dieses kulturelle Erbe verlieren. Mit der Komposition einer Oper wollte ich auch einen Teil unserer Musikgeschichte ­bewahren.“

Von Windhoek nach Berlin

Die Pandemie legte dem Projekt Steine in den Weg, doch schließlich ging im September 2022 die Uraufführung von „Chief Hijangua“ im ausverkauften Nationaltheater von Namibias Hauptstadt Windhoek über die Bühne. Es musizierte das semi-professionelle Namibian National Symphony Orchestra. Da es in Namibia keinen Operngesang gibt, wurden Solisten aus Südafrika engagiert. Die Chorsänger hat Eslon Hindundu, der in Südafrika studierte, persönlich in die Gesangstechnik eingewiesen. „Wir kombinieren den klassischen Operngesang mit der Art und Weise, wie die Namibier singen“, erzählt er. „Diese Mischung ist ganz erstaunlich. Wir haben einen tollen Klang erreicht.“ Auch mit der Resonanz auf die Aufführungen ist er zufrieden. „Bei mir haben sich ­anschließend mehrere namibische Sänger gemeldet, die in den USA, Südafrika oder Deutschland arbeiten. Sie wünschen sich mehr namibische Opern und möchten sich einbringen.“

Das Namibia-Team im Berliner Winter: Kim Mira Meyer, Eslon Hindundu, Twapewa Amutenya, Nikolaus Frei, Anja Panitz, Naomi Nambinga, Tanya Turipamwe Stroh und Michael Pulse (Foto Peter Meisel)

Um die Produktion nach Deutschland zu bringen, wurde das Siemens Arts Program mit ins Boot geholt. In dessen noblen Räumlichkeiten am Berliner Gendarmenmarkt trafen sich die Beteiligten im Februar 2023 zu einem Konzeptions-Workshop, an dessen Ende eine deutliche Weiterentwicklung des Stücks stand. „In Namibia hatten wir eigentlich nur an der Oberfläche gekratzt“, meint Hindundu. „Man konnte zwar die Schönheit des Ganzen erkennen. Aber als sich in Berlin das ganze Team jeden Aspekt noch einmal gründlich vornahm, haben wir aus dem Stück noch viel mehr rausgeholt.“

Mitte September 2023 läuft die Europa-Premiere im ­Berliner Haus des Rundfunks, es spielt das Rundfunk-Sinfonie­orchester Berlin. Eine Fassung für Kinder wird im ­Humboldt Forum gezeigt. Die Hauptrolle des Prinzen übernimmt der südafrikanische Bariton ­Sakhiwe ­Mkosana, der die Partie auch schon in ­Windhoek gesungen hat. Mkosana startete seine Karriere am Opernhaus von Kapstadt. Inzwischen ist er Mitglied des Opernstudios Frankfurt und hat mehrere ­Wettbewerbe gewonnen, darunter den zweiten Preis bei „Neue ­Stimmen“ 2022.

Namibische Mythen und ­afrofuturistisches Design

Die Handlung von „Chief Hijangua“ setzt sich aus Geschichten zusammen, die in Namibia über Generationen hinweg mündlich überliefert wurden. „Das Geschehen spielt sowohl in einem mythischen Zeitalter als auch irgendwann im 19. Jahrhundert in der realen Landschaft Namibias“, sagt Librettist Nikolaus Frei. „Die Erzählweise wirkt zugleich allegorisch und konkret.“ Bei Bühne, Kostümen und Maske vereinen sich europäische sowie traditionelle und zeitgenössische namibische Gestaltungselemente. Afrofuturistisches Design geht einher mit einer multimedialen Bereicherung durch die namibische Künstlerin Isabel Katjavivi.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein namibischer Prinz, der nach seiner Bestimmung im Leben sucht. Er ist in das schönste Mädchen seines Dorfes verliebt, das aber schon seinem älteren Bruder versprochen ist. Daher geht er in die Fremde, wo er allerlei Abenteuer erlebt und schließlich bei der Familie eines deutschen ­Missionars hängenbleibt. Obwohl er schließlich getauft wird, gibt es kein ­Happy End. „Mein erster Impuls war es, die brutale Kolonialgeschichte darzustellen – mit dem Anspruch, historische Aufarbeitung zu leisten“, erinnert sich Librettist Frei. Im Hinterkopf hatte er den Massenmord an den Herero, der unter der Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches stattfand. „Doch je mehr ich Eslon zuhörte, desto klarer wurde mir: Eine Oper ist dafür nicht das richtige Genre.“ Nun lässt sich die Geschichte von „Chief Hijangua“ eher als eine allgemeine Allegorie auf den Kolonialismus lesen. Und Eslon ­Hindundu, der den englischen Part des Librettos in seine Muttersprache ­Otjiherero übersetzte, hat auch für eine Prise Herzschmerz und Liebesschmalz gesorgt. „Ich wollte den Stoff etwas würzen“, lacht er.

Ein ganz neues Opern-Idiom

Hindundu studierte Musik im südafrikanischen Bloemfontein und verdient sein Geld heute als Chordirigent in Windhoek. „Ich leite einen eigenen Chor, die Vox Vitae Singers, mit denen ich häufig bei Regierungsveranstaltungen oder in Firmen auftrete. Außerdem probe ich mit dem Chor meiner Kirche“, erzählt der 27-Jährige. „Als Vollzeitmusiker in Namibia zu überleben, ist sehr schwierig. Aus diesem Grund ist die namibische Musik auch nicht so entwickelt, wie sie es sein könnte. Viele Musiker geben auf, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen können.“

Kennenlern-Probe von Eslon Hindundu und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Foto Peter Meisel)

Besonders kritisch war die Lage während der Pandemie, als Chorgesang verboten war. „Ich habe von der Regierung zumindest eine kleine Kompensation bekommen und die Zeit genutzt, ein halbstündiges Oratorium zu schreiben“, erzählt Hindundu, der einer freikirchlichen Pfingstgemeinde angehört und sich sehr für geistliche Musik aus Renaissance und Barock interessiert. Johann Sebastian Bach war eine Inspirationsquelle für seine Oper. „Bach nahm die alten Choräle und erweckte sie zu neuem Leben“, meint ­Hindundu. „Also dachte ich mir, ich könnte etwas Ähnliches mit den namibischen Gesängen anstellen.“ Ein ganz neues Opern-Idiom sei da entstanden, verspricht der Komponist: eine Verbindung zwischen klassischer europäischer Musik und traditionellen namibischen Elementen. „In der namibischen Musik gibt es typische Fünfton­skalen, viele Off-Beats und Synkopen. All das hört man in der Oper.“

Hindundu setzt auf diatonische Harmonien, wie sie dem System von Dur und Moll zugrundeliegen und mit der Popmusik weltweit verbreitet wurden. So kann sich das Orchester am einfachsten einfügen; außerdem werden diese Klänge von allen Namibiern verstanden. „Die Problematik der Intonation war mir beim Komponieren sehr bewusst“, erklärt er. „Ich möchte in der vielfältigen multikulturellen Gesellschaft Namibias jeden erreichen. Buren, Deutsch­namibier, ­Ovambo, Südafrikaner, ­Tswana: Alle dürfen sich angesprochen ­fühlen.“

Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit spielt für ihn keine vordergründige Rolle. Hindundu wirkt sogar ein wenig verwundert darüber, mit welcher Vehemenz sich die deutschen Partner damit beschäftigen. „In allen Gesprächen hier kommt dieses Thema auf“, erzählt er beim Treffen während des Berliner Workshops im Februar. Ihn beflügelt vor allem das gemeinsame Reden, Nachdenken, Musizieren. „Es begeistert mich, wie gut Namibier und Deutsche in unserem Team zusammenarbeiten.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2023

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Zur gegenwärtigen Situation des Harztheaters

Ehemalige Intendanten wenden sich an die politischen Verantwortlichen

Ehemalige Intendanten wenden sich an die politischen Verantwortlichen

Liebe Leserinnen und Leser,

möglicherweise haben Sie bereits vom Existenzkampf des Nordharzer Städtebundtheaters (ab Beginn der neuen Spielzeit: Harztheater) aus den Medien erfahren. Gerne teilen wir den offenen Brandbrief der beiden ehemaligen Intendanten Kay Metzger (jetzt: Intendant Theater Ulm) und André Bücker (jetzt: Intendant Staatstheater Augsburg) vom 16. Juni 2023 an den Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Reiner Haseloff, den Landrat des Landkreises Harz Thomas Balcerowski sowie die beiden Oberbürgermeister Frank Ruch (Quedlinburg) und Daniel Szarata (Halberstadt).

Eine Schließung des Theaters würde die kulturelle Grundversorgung in der Region gefährden, das Land Sachsen-Anhalt sowie die zuständigen Kommunen müssen das verhindern – im eigenen Interesse!  

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Orphea in love

Nachgefragt bei der estnischen Opernsängerin Mirjam Mesak, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper und weibliche Hauptdarstellerin des Films „Orphea in love“

Nachgefragt bei der estnischen Opernsängerin Mirjam Mesak, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper und weibliche Hauptdarstellerin des Films „Orphea in love“

Interview Iris Steiner

Am 1. Juni 2023 startete Axel Ranischs „Orphea in love“ in den Kinos. Wir berichteten bereits in unserer Ausgabe 06/2022 (November/Dezember) über diese zauberhafte Fusion von Oper und Filmkunst.

Sie singen UND spielen die weibliche Hauptrolle. War Ihnen – als geübter Opernsängerin – vor Beginn der Dreharbeiten bewusst, welche schauspielerischen Fähigkeiten Sie für so ein besonderes Format benötigen? Hatten Sie Unterricht darin, wie man vor einer Kamera agiert? Oder absolvierten Sie neben der Opernschule eine spezielle Schauspielausbildung?
Ich nähere mich einer Opernrolle immer aus der darstellerischen Perspektive, genauso wie ein Schauspieler die Rolle angehen würde. Insofern war es hier nicht anders. Ich habe mich in die Oper verliebt, weil sie meine beiden Leidenschaften – das Spielen und das Singen – vereint. Diese beiden Aspekte sollten niemals zu weit voneinander entfernt sein. Der größte Unterschied in diesem Fall war vielleicht die Freiheit bei der Schaffung meiner Figur. In der Oper spielen wir meistens Heldinnen, die seit Jahrhunderten existieren. Hier aber habe ich die Figur der Nele in engem Austausch mit Drehbuchautor Sönke Andresen und Regisseur Axel Ranisch entwickelt. Ich war begeistert, einige Details einzufügen, die mir sehr am Herzen liegen, wie etwa Neles Herkunft aus Estland. Sehr dankbar bin ich für die Schauspielausbildung, die ich in Tallinn (bei Gerda ­Kordemets) und an der Guildhall School of Music & Drama erhalten habe.

Wissen Sie, warum Axel Ranisch Sie für diese Rolle ausgewählt hat? Haben Sie zuvor schon einmal mit ihm gearbeitet?
Axel lernte ich 2019 kennen, als er an der Bayerischen Staatsoper Tschaikowskis „Iolanta“ inszenierte. Ich sang damals die Titelpartie und wir fanden bei unserer gemeinsamen Arbeit sehr schnell zu einem großartigen gegenseitigen Verständnis. Die Inszenierung wurde später für eine DVD-Veröffentlichung gefilmt und als Axel meine Darstellung durch die Kameralinse sah, sagte er mir, wie überrascht er über meine Detailarbeit sei. Als er für den Film „Orphea in love“ angefragt wurde, wusste er daher sofort, dass er mich für die Hauptrolle wollte. Und natürlich habe ich die Gelegenheit ergriffen, wieder mit ihm zu arbeiten.

Mirjam Mesak (Foto Wilfried Hösl)

Welche Erfahrungen haben Sie während der Dreharbeiten gemacht? Werden diese möglicherweise sogar Ihr künftiges Spiel auf der Opernbühne beeinflussen?
Ich will nicht lügen: Es war die schwerste Aufgabe, vor der ich jemals stand. Der Zeitplan der Dreharbeiten gestaltet sich völlig anders als der Probenplan eines Opernsängers. Wir hatten viele lange Tage und viele nächtliche Drehs. Ich habe auch gemerkt, mit wie viel man auf der Bühne durchkommen kann – ein wenig Räuspern, ein zusätzlicher Schritt nach links oder nach rechts, … Vor der Kamera dagegen muss man absolut genau sein und immer darauf achten, nicht das Blickfeld der Linse zu verlassen. Es ist eine komplett andere Welt! Für die meisten Szenen haben wir aus technischen Gründen den Gesang zuvor mit dem Orchester aufgenommen. Zwar ist der Operngesang aus der Nähe nicht immer schön anzusehen – die Konzentration im Gesicht, die Anspannung all der Gesichtsmuskeln und dann wieder deren Lockerung … Dennoch war es mir extrem wichtig, in meinem Handwerk wahrhaftig zu sein und nicht nur auf synchrone Lippenbewegungen zu achten, sondern tatsächlich zu singen. Am Ende durfte ich erfahren: je größer das Opfer, desto größer der Lohn. Als ich den Film sah, wusste ich, dass er all die harte Arbeit wert war und dass Axel, ich und das gesamte Team stolz auf ihn sein können.

Was, denken Sie, ist besonders an diesem „Opernfilm“, der nicht wirklich ein Opernfilm ist?
Vieles an dem Film ist besonders und nicht immer auf der Leinwand oder der Opernbühne zu erleben. Ich hoffe, dass wir dem Publikum verschiedene Seiten zeigen von dem, was Oper sein kann oder wie ein Opernsänger aussehen kann. Auch als jahrhundertealte Kunst muss Oper nicht immer von unrealistischen Figuren oder „Diven“ vermittelt werden. Es kann ein einfaches Mädchen aus Estland sein, das sich nichts mehr wünscht als zu singen. Ohne zu viel zu verraten, möchte ich sagen, dass nicht alles Schwarzmalerei ist, und Axel hat mit großartiger Raffinesse einige sehr komische Szenen in die Handlung eingestreut.

Was sind Ihre nächsten Pläne? Ein weiterer Film? Oder lieber eine „echte“ Operninszenierung?
Es gibt in der Opernwelt noch so viel für mich zu tun und zu entdecken, dass die Arbeit niemals aufhören wird. Falls jedoch ein weiteres Projekt wie dieser Film auftauchen sollte, würde ich es sicher wieder in Erwägung ziehen. Denn ich habe nur die besten Erinnerungen an diese Zeit!

„The hardest thing to govern is the heart“

Das Brüsseler Opernereignis „Bastarda“ gräbt tief in der Psyche der Tudor-Königin ­Elizabeth I – und bietet feinsten Belcanto für Herz und Hirn

Das Brüsseler Opernereignis „Bastarda“ gräbt tief in der Psyche der Tudor-Königin ­Elizabeth I – und bietet feinsten Belcanto für Herz und Hirn

von Florian Maier

„I’m a Bastard!“ – „You are the Queen.“ Zwei Sätze, und die ganze unauslöschliche, tragische Dualität im Leben der englischen Tudor-Königin Elizabeth I (1533-1603) ist skizziert.

„Vil bastarda!“ Zwei Worte, und Donizettis Maria ­Stuarda hat ihr Leben binnen Sekunden endgültig verwirkt. Ein Königinnenduell, das zensiert wird, dann doch Musikgeschichte schreibt – und jetzt für den Titel eines zweiteiligen Belcanto-Spektakels am Brüsseler Opernhaus La Monnaie/De Munt Pate steht.

Es ist ein ungewöhnliches Experiment, das Intendant ­Peter de Caluwe da auf den Spielplan seines Hauses gesetzt hat. Vier Tudor-Opern hat Gaetano ­Donizetti seinerzeit komponiert: „Anna Bolena“ (1830), „Maria ­Stuarda“ (1834/35), „Roberto Devereux“ (1837) und das selten gespielte „Elisabetta al castello di Kenilworth“ (1829). Alle handeln sie von der englischen „Virgin Queen“ oder deren Wurzeln, alle stehen sie für sich. So etwas wie einen Zyklus hatte der oft als „Fließband-Komponist“ abgetane Donizetti nie im Sinn. Und doch lässt sich der Reiz des in Brüssel realisierten Gedankens nicht von der Hand weisen: Vier Tudor-Opern, eine ­Königin – warum nicht ein Psychogramm der englischen Herrscherin daraus destillieren?

„An existential tale in two evenings“

Und was für eines! In Olivier Fredj (künstlerisches Konzept, Skript, Regie) und Francesco Lanzillotta (Dirigat, musikalische Arrangements) hat de Caluwe genau die richtigen kreativen Köpfe für „Bastarda“ gefunden. „Pasticcio“ wäre ein grundlegend falscher Begriff für das, was die beiden über zwei Abende und knapp fünfeinhalb Stunden reine Spielzeit im Brüsseler Opernhaus entfalten. Da werden Nummern aus den vier Ursprungswerken nicht nur nach dem Bastelprinzip zu einer Collage kombiniert – da entsteht ein Gesamtkunstwerk, dessen Einzelteile sich gar nicht mehr wie Einzelteile anfühlen, so, als sollte es immer schon so sein. Arien, Duette, Ensembles, Chöre gehen ineinander über, die eine Oper spiegelt sich in der anderen, Solisten singen Ausschnitte, die nie für ihre Partien gedacht waren. Neu geschaffene musikalische Brücken gliedern sich nahtlos ein, dezente zeitgenössische Zwischentöne spitzen emotional zu, die „heilige Trennung“ zwischen Musik und gesprochenem Wort spielt kaum eine Rolle, denn dramatische Stringenz geht vor Belcanto-Kult. Bei alledem ist Donizetti der Anker des Projekts, aber nicht der alleinige Navigator: Regisseur und Autor Fredj bettet die italienische Oper des frühen 19. Jahrhunderts in ein englisches „Drehbuch“ auf der Höhe der Zeit: elisabethanisch, zeitlos, modern.

„An existential tale in two evenings“ nennt sich das Ergebnis, „The Rise and Fall of Elizabeth I“. Ein musika­lisches Biopic, chronologisch erzählt von der Wiege bis zur Bahre und ganz nah dran am Menschen hinter der Krone. Britische Period Dramas von „Downton ­Abbey“ bis „The Crown“ haben in der TV- und Streaming-Landschaft immer Hochkonjunktur – warum sollte es im Theater anders sein? Und so bietet auch „Bastarda“ Eska­pismus erster Güte: weit genug entfernt vom persönlichen Erfahrungshorizont, um mit Glanz und Elend der High Society ein paar Stunden dem Alltag entfliehen zu können.

Elizabeth I mit ihrer so ureigenen Biografie bietet dafür mehr als genug Kreativfutter: Ihr triebgesteuerter Vater Henry VIII provoziert 1534 eine Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche, um trotz bestehender Ehe eine offizielle Verbindung mit ihrer Mutter Anne Boleyn eingehen zu können, überlässt diese dann aber doch mehr als bereitwillig dem Schafott, als Elizabeth noch nicht einmal drei Jahre alt ist (Akt zwei von sechs seiner Ehedramen, die mit dem Merkspruch „­Divorced, ­Beheaded, Died, Divorced, Beheaded, Survived“ der Nachwelt noch heute präsent sind). Knapp zehn Jahre später stirbt der Vater, ihr Halbbruder ­Edward VI als dessen einziger legitimer Sohn lebt nicht viel länger, Halbschwester Mary I („Bloody Mary“) ebenso wenig. Plötzlich steht ein illegitimer „Bastard“ ganz oben in der Thronfolge und begründet eine neue Ära, das „­Elisabethanische Zeit­alter“. „Gloriana“ bewahrt ­England in fast 45 Regierungsjahren vor den Glaubenskriegen der Epoche, begründet den Aufstieg ihres Reichs zur Weltmacht und neuer künstlerischer Blüte, taktiert mit ihren weiblichen Reizen zur Sicherung des Friedens und bleibt letztendlich unverheiratet, um ihre Macht nicht mit einem Mann teilen zu müssen.

Schlammschlacht in Adelskreisen: das Königinnenduell ­zwischen Maria Stuarda (Lenneke Ruiten) und der englischen Queen ­(Francesca Sassu) (im Hintergrund Nehir Hasret als inneres Kind) (Foto Bernd Uhlig)

Prachtvoll, spritzig, intim

All das verpackt Olivier Fredj in Brüssel in zwei intime und doch bildmächtige, seelisch überragende ­Abende: „For better, for worse …“ erzählt von Herkunft und Aufstieg der jungen Königin bis zur finalen Konfrontation mit ihrer Cousine und Rivalin Mary Stuart, „… till ­death do us part“ von zunehmender Verbitterung und innerer Abkapslung in den späteren Lebensjahren. Regentschaft fordert ihren Tribut, und dieser besteht in ­Elizabeths Fall in Einsamkeit. Spannend, wie Fredj und sein Regieteam das im Galopp durch die Jahre und Jahrzehnte illustrieren. Unstillbare Sehnsucht nach ihren „Favoriten“ begehrt gegen das selbstauferlegte Dogma der „Virgin Queen“ auf und verkümmert daran letztlich jämmerlich, schneidender Ingrimm und Kälte brechen sich zunehmend Bahn, Paranoia hält Einzug in Musik, Mimik und Gestik, selbst die Kostümgestaltung. Handgemachte, pure Theaterkunst ist das, immer den roten Faden und die Formel „Psychologische Tiefenschärfe vor effektvollem Belcanto“ im Blick.

Das bedeutet nicht, dass Donizetti damit nicht zu seinem Recht käme. Aber seine Musik ordnet sich ein in ein gleichberechtigtes Kollektiv der Künste, die sich gegenseitig in die Hand spielen und einen in dieser Qualität selten zu erlebenden runden Gesamteindruck hinterlassen. Da ist etwa das von Avshalom Pollak choreografierte spritzige Ballett, in dem die Tänzer wie überdrehte Duracell-­Häschen als völlig überzeichnete Volksmenge durch die Szenen ruckeln und zuckeln, dass es eine wahre Freude ist – verkrustete Aristokratie einmal anders. Da sind Sarah Derendingers Video-Seelenmalereien, welche die Epoche bewusst brechen und den schönen Schein der königlichen Fassade sezieren (eindrucksvoll etwa Elizabeths kalt-poetischer „Totentanz“). Da sind Urs Schönebaums funktional-schlichte, die gesamte Bühnenhöhe füllende schwarze Säulen und Petra ­Reinhardts prachtvoller, historisch akkurater Kostümpomp, dessen Liebe zum Detail man nur bewundern kann. Und natürlich die Inszenierung von Olivier Fredj, der ­Elizabeths Lebensuhr unweigerlich Jahr um Jahr ticken lässt. Er bespielt nicht nur lustvoll Bühne und Königslogen, er durchbricht auch die vierte Wand und schlägt eine würdevoll-ergreifende Brücke, wenn die Zuschauer kurz nach Beginn des ersten Abends im Stehen der Krönungszeremonie der jungen Elizabeth beiwohnen und ganz am Ende von Teil zwei in derselben Haltung die sterbende Königin dem Tode überantworten.

„For better, for worse …“ wirkt vielleicht stellenweise etwas rastlos und erfordert mehr Durchhaltevermögen, besticht aber durch eine erzählerische Simultantechnik, welche Elizabeths Schicksal mit dem ihrer Mutter Anne Boleyn übereinanderlegt. Die Momente in „… till death do us part“ können sich dafür besser entfalten, finden zu einer eigenen inneren Ruhe und auch augenfälligeren Optik. Für beide Teile von „Bastarda“ gilt: In keinem Moment spielt sich hier fades Steh-Kostümtheater ab.

God Save the Queen!

Das ist zu einem ganz großen Teil auch einer erst 12-Jährigen (!) zu verdanken: Nehir Hasret in der Rolle des inneren, ewigen Kinds. Mit einer unwahrschein­lichen Grandezza behauptet sie die Bühne für sich, wie selbstverständlich zeigt sie mehr schauspielerische Facetten als 90 Prozent der heutigen Solisten-Landschaft. Eine getriebene, rastlose, einsame Elizabeth ist das, voller unerfüllbarer Träume, verzweifeltem Unverständnis, aggressiver Selbstbehauptung. Immer, wenn das sehr hohe Erregungslevel szenisch in die Monotonie zu kippen droht, weiß Hasret mit neuen emotionalen Farben zu überraschen, ergibt sich dem Wahnsinn, der kleinkindlichen Isolation, der naiven Lebensfreude.

Im Sterben bröckelt die Fassade: Elizabeth (Francesca Sassu) sucht Halt bei den omnipräsenten Schatten ihrer Eltern (Salome Jicia und Luca Tittoto) (Foto Bernd Uhlig)

Diesem personifizierten Innenleben steht eine äußere, erwachsene Elizabeth gegenüber. Aufgrund einer Erkrankung von Myrtò Papatanasiu übernimmt die alternierend eingeplante Francesca Sassu kurzfristig die beiden Premierenabende. Ihr Sopran braucht etwas Anlauf, schwingt sich mit zunehmender Dramatik aber zu einem kraftvoll-zarten Porträt der staatstragenden Repräsentationsfigur auf. Berührend-intim die Final­szene von „Bastarda II“, in der „Roberto Devereux“, „Anna Bolena“ und „Maria Stuarda“ kulminieren und ein fast utopisches Bild von Erlösung in Aussicht stellen.

Folgerichtig in der zweiten Reihe steht das übrige Ensemble, dessen Partien so zugeschnitten wurden, dass sie Elizabeths Charakterstudie perfekt in die Hände spielen. Salome Jicia erhält mit Anna Bolenas „Al dolce ­guidami“ das Leitmotiv der Produktion: das Wiegenlied einer Mutter, die ihr Kind mit nicht einmal drei Jahren für immer verlassen muss – eine Wunde, die niemals verheilt. Jicia verleiht dieser geisterhaften Wiedergängerin emotionales Gewicht, Luca Tittoto als ­blasiertes Scheusal Enrico (Henry VIII) führt die Königswürde im krassen Gegenentwurf ad absurdum. Über dem von Giulio Magnanini fabelhaft einstudierten Chor des Hauses schwebt mit ätherischem Schwermut die hochmütig strahlende ­Maria Stuarda von Lenneke Ruiten. ­Belcanto in Reinkultur liefert Enea ­Scalas Leicester: ein Proto­typ des schmachtend Leidenden, den auch Sergey ­Romanovskys Roberto Devereux in der „Favoriten“-­Erbfolge mit dunkel grundiertem Tenor aufzugreifen weiß. Raffaella ­Lupinacci (­Giovanna ­Seymour und Sara) und Valentina ­Mastrangelo (Amy ­Robsart) geraten lyrisch innig in die politischen Tretmühlen. Und die Partien von ­Smeton (David ­Hansen), ­Cecil (Gavan Ring) und ­Nottingham (­Bruno Taddia) führen als „Philosophy/Emotion“, „History/Reason“ und „Theatre/­Love“ in stilechtem Britisch als Erzähler durch die Geschichte, wenn Hansen seine Mezzoarie auch leider allzu schrill abfeuert.

Bleibt das Orchestre symphonique de la Monnaie, das unter Leitung von Francesco Lanzillotta eine majestätische Leistung erbringt: differenziert, ausbalanciert, mal pompös, dann wieder mit psychologischer Trennschärfe – und immer Donizettis feine Instrumentationskunst im Blick. Ein raumfüllender Klang, der diesen Höhepunkt der laufenden Spielzeit auch in musikalischer Hinsicht abrundet. Denn dass wundervoller Belcanto im kreativen Steinbruch durchaus das Zeug hat zu ganz großem Musiktheater, wird mit dieser ­Doppelpremiere in ­Brüssel mehr als deutlich. Es ist zu hoffen, dass „­Bastarda“ weiterlizensiert wird und nicht im Archiv verstaubt. Alles andere wäre eine Schande.

„Bastarda“ ist ab dem 28. Mai 2023 europaweit ein Jahr lang auf arte.tv/opera abrufbar.

EMPFEHLUNG

Thomas Kielinger:
„Die Königin – Elisabeth I. und der Kampf um England“
375 Seiten, C.H.Beck

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2023

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