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Frustrationspotenzial? Null!

Die neue Präsidentin der Salzburger Festspiele Dr. Kristina Hammer startet ihre Aufgabe in turbulenten Zeiten. Sie darf nicht nur, sie muss einige Dinge neu denken

Die neue Präsidentin der Salzburger Festspiele Dr. Kristina Hammer startet ihre Aufgabe in turbulenten Zeiten. Sie darf nicht nur, sie muss einige Dinge neu denken

Interview Iris Steiner

Bereits zu ihrem Amtsantritt im ­Januar waren die Zeiten für Kulturbetriebe nicht rosig, wenige Wochen später wurde die Situation noch schlimmer – der Ukraine­krieg brach über Europa herein. Nicht genug, dass man während der beiden Pandemie-­Saisonen den Fortbestand der Festspiele nur mit riesigem Zusatzaufwand sichern konnte, von heute auf morgen stand nun sogar das gesamte Geschäftsmodell am Pranger. Hauptanklagepunkt: „Toxisches Sponsoring“. Mit dem gesellschaftspolitischen Diskurs zu Gazprom & Co. und der neuen Sensibilität im Zuge einer wankenden Weltordnung änderten sich quasi über Nacht die ethischen Voraussetzungen für Privatfinanzierung von Hochkultur.

Dr. Kristina Hammer sei die Richtige, um „die Salzburger ­Festspiele in ein neues Zeitalter [zu] führen“, meinte Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zur Nominierung der 53-jährigen Wirtschaftsjuristin – und hätte im September vergangenen Jahres wohl nicht gedacht, wie sehr sie damit den berühmten „­Nagel auf den Kopf“ getroffen hatte. Auch der Salzburger Landeshauptmann Dr. Wilfried Haslauer bewies in seiner Laudatio hellseherische Fähigkeiten, sein lobender Ansporn für die neue Präsidentin, „neue Herausforderungen für die Salzburger Festspiele als weltbestes, klassisches Dreisparten-Festival zu meistern“, geriet unfreiwillig zur Stellenbeschreibung.

Wir wollten wissen, wer eigentlich „die Neue“ in Salzburg ist, deren Ernennung als überraschend galt. Eine Frau, Typ weibliche Top-Managerin, noch dazu Nicht-Österreicherin und aus der Wirtschaft – kann das gutgehen im altehrwürdigen Salzburger Festspiel-Klüngel? Lesen Sie selbst.

Eröffnung der Salzburger Festspiele 2022
Festakt zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2022 (Foto Land Salzburg / Neumayr – Leopold)

Wie bewegen Sie sich als weibliche Führungskraft unter Männern?
Mit Authentizität. Ich bin eine Verfechterin von klarer Kommunikation und der Herangehensweise „Steter Tropfen höhlt den Stein“, nicht des schnellen Gewinnen-Wollens um jeden Preis. Wenn man, wie ich, einen nicht unerheblichen Teil des beruflichen Lebens in männerdominierten Unternehmen verbracht hat – ich komme aus der Automobilindustrie – lernt man sehr schnell, dass Kooperation nur auf Augenhöhe funktioniert.

Was unterscheidet weibliches Leadership von männlichem?
Frauen sind oft von Natur aus kommunikativer. Wir haben den Vorteil, dass uns Dinge mit Erklärungsbedarf „liegen“. Außerdem sind wir oftmals konsensgetrieben, was ich eher für einen Vorteil als für einen Nachteil halte. In der heutigen Arbeitsmarkt-Situation kommt noch ein dritter wichtiger Vorteil dazu, den viele Frauen in Führungspositionen positiv ausspielen: Empathie. Und zu guter Letzt reden wir auch noch über etwas, das uns die Männerwelt gerne abspricht: Durchsetzungskraft und Durchsetzungswille. Wir wären nicht dort, wo wir sind, wenn wir das nicht hätten.

Könnten Sie uns das vielleicht an einem Beispiel verdeutlichen?
Ich kann mich an eine Situation erinnern, wo es um den Fortbestand eines internationalen Sponsorings ging. Anscheinend hatte man im lokalen Markt in der Kürze der Zeit nicht genug Geld verdient und deshalb den obersten Boss eines Dienstleisters zu mir geschickt, um den Vertrag aufzukündigen. Ich wollte ihm zunächst erklären, dass die Kooperation auf einer internationalen Grundlage und damit auf der Basis vieler wichtiger Standorte funktioniert, und man sich mit denen zunächst abstimmen sollte – das hat mein Gegenüber aber nicht interessiert. Ich hatte dann spontan die Idee, umgehend den USA-Landes­chef anzurufen, um im Falle einer einseitigen lokalen Kündigung die dortige Sponsoringvereinbarung unsererseits abzusagen. Mein Verhandlungspartner hat ein paar Minuten überlegt und dann eingelenkt.

Sie hatten also im richtigen Moment die richtige Idee und den Mut zu kontern?
Genau darum geht’s: Um Weitsicht, die richtige Idee zur richtigen Zeit, Entscheidungsfreude und darum, sich generell nicht erpressen zu lassen. Auch wenn man vermeintlich die/der Schwächere ist.

Hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass es für Sie als Frau schwieriger ist, sich durchzusetzen?
Natürlich war es an manchen Stellen schwieriger, weil ich eine Frau war – besonders in einer männerdominierten Umgebung. Aber es gab auch Fälle, wo es einfacher war. Was glauben Sie, wie schnell man sich ihren Namen merkt, wenn Sie die einzige Frau sind?

Birgt diese Erfahrung nicht auch ein gewisses Frustrationspotenzial?
Ich selbst gehöre zu der Spezies Mensch, der das Gen für Frustration fehlt, dafür bin ich viel zu interessiert, auch an anderen Perspektiven. Ich denke aber schon, dass es manchen leichter fällt, einer Frau mit Vorurteilen zu begegnen als einem Mann – übrigens auch Frauen.

Es gibt Frauen, die behaupten, dass sie gerade mit Frauen nicht gerne zusammenarbeiten. Wie stehen Sie dazu?
Das Geschlecht ist für mich nicht entscheidend, es sind eher bestimmte Typen, mit denen es schwieriger ist zusammenzuarbeiten – Männer und Frauen.

Durften Sie schon einmal die Erfahrung mit dem Phänomen „Zickenterror“ machen? Zumindest nennen Männer das gerne so …
Das mag es sicher im Einzelfall geben, ich würde das aber nicht pauschalisieren. Meine Erfahrung ist eine andere, ich hatte in der Zusammenarbeit mit Frauen nie ein derartiges Problem. Im Gegenteil: Ich durfte lernen, dass besonders alleinerziehende Mütter tolle Kolleginnen und Mitarbeiterinnen sind – weil sie in der Regel herausragend organisieren können. Diese seltsamen Schubladen finde ich nicht zielführend.

In der Pause von Rossinis „Il barbiere di Siviglia“, August 2022. Regie führte Rolando Villazón, es sang u.a. Cecilia Bartoli. V.l.n.r.: Joachim Sauer, Angela Merkel, Kristina Hammer, ­Hermann Reichenspurner, John Neumeier (Foto Salzburger Festspiele/Franz Neumayr)

Sie haben mit dem Amt der Präsidentin der ­Salzburger Festspiele Ihren Tätigkeitsschwerpunkt von der Wirtschaft in die Kultur verlegt. War das eine bewusste Entscheidung?
Ich möchte meine Wirtschaftsexpertise in den kulturellen Bereich einbringen. Durch meine Tätigkeit in internationalen Unternehmen, später als Unternehmerin und Führungskräfte-Coach, habe ich erfahren, was „Leadership“ heißt und dieses vielstrapazierte Wort „Change­management“. Es geht um positive Veränderung, um notwendige Weiterentwicklung in volatilen Zeiten. Durch meine Arbeit im Vorstand der Freunde der Oper Zürich bekam ich insbesondere in der Pandemiezeit eine große Nähe zu diesem Kulturbetrieb – gerade, weil es oft um elementare Fragen ging. Ich stellte fest, dass ich mit meinem Wissen etwas Neues einbringen und bewegen kann. Das ist, was mich fasziniert. Hier bei den ­Salzburger ­Festspielen gibt es viel künstlerisches und technisches Wissen und Erfahrung, in einer Tiefe und Breite, wie man es schöner nicht finden kann. Dafür brauchen die mich nicht. Ich bin da, um etwas hinzuzufügen.

Haben Sie Ihre „Einstiegs-Schnittstelle“ schon gefunden? Die Salzburger Festspiele sind – bildlich gesprochen – doch ein sehr großer Tanker, der dementsprechend schwer beweglich ist. Wie dockt man als „Neue“ mit neuen Ideen hier am besten an?
Da muss ich Ihnen widersprechen, es sieht von außen möglicherweise aus wie ein Tanker, ist aber innen ein Schnellboot. Wenn man den Ablauf einer kompletten Saison verfolgt, weiß man, dass hier unglaublich schnell, wendig und pragmatisch agiert wird. Das ist Projekt­management auf höchstem Niveau.

Haben Sie sich für eine Bewerbung entschieden, weil Sie Ihre Wirtschaftskompetenz bei den Salzburger Festspielen einbringen und gleichzeitig Ihr „Hobby“ mit Managementkompetenz zusammenzuführen möchten?
Meine Aufgabe hier ist sehr vielfältig – daher ist auch die Antwort auf Ihre Frage mehrschichtig. Ein Schwerpunkt ist aber schon, dass mich die Themen Sponsoring, Marketing und Kommunikation bereits mein gesamtes Berufsleben begleiten – als leitende Mitarbeiterin in global agierenden Konzernen, ebenso wie als Unternehmerin oder Gastdozentin an der Universität St. Gallen. Genau wie meine Leidenschaft für Oper, Theater und Konzert. Man muss in diesen Bereichen immer wieder neue Wege denken.

Was ist Kultursponsoring heute im Vergleich zu vor zwanzig Jahren?
Früher war es oft geprägt von patriarchalischen Strukturen in Firmen, wo sich der Unternehmer oft aus persönlichem Interesse für ein bestimmtes Kulturprojekt entschieden hat. Mittlerweile hat sich das Ganze mehr in Richtung gesellschaftspolitisches Engagement weiterentwickelt. Man erkennt, welche Bedeutung Kultur lokal und in unserem Falle auch international hat. Sponsoring bedeutet heute, partnerschaftlich etwas zu entwickeln, das dem Unternehmen und dem Kulturbetrieb gleichermaßen nützt.

Wie weit sehen Sie heute diese Wahrnehmung des „gegenseitigen Nutzens“ bereits in den Köpfen verankert?
Für uns ist das ein sehr wichtiger Faktor, den ich gerne am Beispiel zweier unserer Hauptsponsoren aufzeigen möchte: Über 1 Million Menschen konnten in den letzten Jahren dank Siemens im größten Public Screening der Klassikwelt „Open-Air“ Konzerte, Opern und den „Jedermann“ kostenfrei in Salzburg auf dem Kapitelplatz genießen. Das ist ein gesellschaftspolitisches Engagement, das über reines Sponsoring hinausgeht. Und ein weiteres Beispiel: Durch unseren Sponsor BWT-Best Water Technology sind wir heute ein plastikflaschenfreies Festival.

Verfolgen Sie auch den anderen Blick auf die Dinge – dass ein Kulturveranstalter den Sponsor mit etwas von dem bereichert, was das Wesen und der positive Effekt von Kultur ist?
Ja, beispielsweise mittels Führungskräftefortbildung: Hier beschäftigen wir uns mit dem Thema Effektivität und Teamwork. Nehmen wir als Beispiel einen Dirigenten, der bei uns in kürzester Zeit mit unterschiedlichsten Musikern verschiedenster Nationalitäten ein Werk erarbeitet. Genau das wird heute in internationalen Firmen gefordert – ein wertvolles Know-how, das wir auch gerne an unsere Partner weitergeben.

Sind Sichtweisen wie diese vielleicht der Grund, weshalb genau Sie für dieses Amt der Präsidentin ausgewählt wurden?
Die ausschlaggebenden Faktoren, die letztendlich zu meiner Wahl geführt haben, kenne ich natürlich nicht. (lacht) Aber die Kriterien gingen schon in Richtung Internationalität, Führungskompetenz und unternehmerischen Gestaltungswillen. Die Präsidentin muss mit den unterschiedlichsten Menschen und Stakeholdern kommunizieren können, daher ist Kommunikationsstärke gefragt – vor allem solche, die mit sozialer, integrativer und vermittelnder Kompetenz einhergeht.

Wie möchten Sie persönlich das Amt der Präsidentin ausüben?
Ich sehe mich – und das ist mir wichtig – als „Ermöglicherin“ hier im Festspielbetrieb und als diejenige, die das Beste aus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herausholt. Darüber hinaus gibt es ganz klare ­Aufgaben im Bereich Marketing, Presse, Vertrieb und Sponsoring sowie die Vertretung der Festspiele nach außen. Die vornehmste Aufgabe der Präsidentin ist für mich aber ihre Funktion als „verbindendes und inspirierendes Element“, um einen so vielschichtigen Betrieb wie den unseren zusammenzuhalten und integrativ in die Zukunft zu führen. Dieses Ziel verbindet uns dann auch wieder mit einem Wirtschaftsunternehmen.

Wie möchten Sie zukünftig die „richtigen“ Sponsoren für die Salzburger Festspiele gewinnen? In der heutigen Zeit ja bekanntlich kein einfaches Unterfangen …
Wir sind uns bewusst, dass es diesbezüglich einen gesellschaftspolitischen Dialog gibt. Was man aber keinesfalls vergessen darf: Die Salzburger Festspiele sind zu 75% eigenwirtschaftlich finanziert. Wir brauchen Sponsoring – und als internationales Festival brauchen wir auch internationale Unternehmen, die mit uns zusammenarbeiten. Wir sind dabei auch offen gegenüber den aktuellen Entwicklungen wie bspw. einem Code of Conduct. Als Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer einen runden Tisch dazu ins Leben gerufen hat, waren wir von Anfang an mit dabei. Es darf nur nicht um eine generelle Ablehnung von multinationalen Konzernen gehen, sondern um nachvollziehbare Grundsätze und Leitplanken ohne Attraktivitätsverlust gegenüber der privaten Wirtschaft, die sich mit uns als Kulturinstitution proaktiv beschäftigen möchte. Das meine ich jetzt übrigens sowohl auf künstlerischer Ebene als auch als Partner mit interessanten Angeboten für Unternehmen.

Die Abkehr von einer „Bittsteller-Mentalität“ der Kultur hin zu unternehmerischer Partnerschaft im Wirtschaftskreislauf also? Ihr Spezialgebiet?
Es geht um eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber, was gute Partnerschaft zwischen Kultur- und Wirtschaftsbetrieben im 21. Jahrhundert ausmacht. Und ja, es schadet nicht, wenn man dazu auch die Interessens- und Erwartungshaltung eines Unternehmens einschätzen kann.

Young Singers Project 2022
Empfang anlässlich der Präsentation des Young Singers Project 2022 mit Serafina Starke, Alma Neuhaus und Flore Van Meerssche (von links) (Foto Salzburger Festspiele/Erika Mayer)

Haben Sie eigentlich ein persönliches inhaltliches „Steckenpferd“ bei den Festspielen?
Ganz vorne mit dabei ist das Thema Jugend. Es geht uns hier jedoch nicht um eine grundsätzliche Veränderung unserer Zuschauerbasis, sondern um deren Verbreiterung – und um eine kluge, vielschichtige Attraktivierung des Programms für junge Menschen. Nicht nur wir stellen leider fest, dass die Unterstützung von Familie und Schule im Hinblick auf Opern- und Konzertbesuche von Kindesbeinen an rückläufig ist. Hier sehe ich in der Zukunft mehr und mehr uns Veranstalter gefragt. Die ­Salzburger Festspiele haben zum 100-jährigen Jubiläum die neue Sparte „jung&jede*r“ gestartet. Wir möchten Kinder und Jugendliche für Sprech- und Musiktheater begeistern und Schwellenangst abbauen – mittlerweile tun wir das auch außerhalb der Festspielhäuser in Schulen und Kulturstätten in der Stadt und im ganzen Land Salzburg. Auch bieten wir einwöchige Operncamps an, wo Kinder und Jugendliche mit Mitgliedern der Wiener Philharmoniker im Orchester zusammenspielen, um dann am Ende der Woche ihre Interpretation unserer Stücke darzubieten. Unsere jährliche Kinderoper wird von den Nachwuchssängern des „Young Singers Project“ präsentiert: Aus hunderten von Bewerbern wählten wir dieses Jahr wieder 17 junge Sängerinnen und Sänger aus, die über den Sommer unter anderem an Meisterklassen teilnehmen. Und heuer haben wir zum ersten Mal Patenschaften ins Leben gerufen. Langjährige Festspielbesucher werden mit einem jungen Erwachsenen „gematcht“, der noch nie zuvor bei den Festspielen war, und beide besuchen gemeinsam eine Vorstellung. Die Paten geben ihre langjährige Begeisterung und ihre schönsten Festspiel­erfahrungen weiter und nach eigenem Erleben kann ich sagen, dass da wirklich der Funke übergesprungen ist. Darüber hinaus vergeben wir 6.000 Jugendkarten mit bis zu 90% Rabatt, was in der breiten Öffentlichkeit leider noch nicht allgemein bekannt ist. Uns ist es wichtig, nicht exklusiv und elitär, sondern integrativ zu sein. Die Salzburger Festspiele sind nicht nur große Oper und „Jedermann“ – wir bestanden in diesem Jahr aus 174 kleinen und größeren Aufführungen in drei Sparten und 54 Veranstaltungen im Jugendprogramm. Ich werde nicht müde, das zu wiederholen.

Was macht Salzburg denn eigentlich so besonders ­geeignet für ein solches Festival?
Als unsere visionären Gründerväter Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt und Richard Strauss am Ende des Ersten Weltkrieges die Salzburger Festspiele in einer entsetzlichen, fast hoffnungslosen Situation ins Leben gerufen haben, war der Grundgedanke, etwas Friedensstiftendes und Völkerverbindendes zu schaffen – mit dem Anspruch, „das Beste aus Oper, Konzert und Theater“ zu zeigen, wie Hofmannsthal es ausdrückte. Das verfolgen wir als Leitgedanken auch heute noch, jedes Jahr. Salzburg ist eine unglaublich schöne Stadt im Herzen Europas mit 18 Festspiel-Spielstätten. „Die ganze Stadt ist Bühne“ war die Vision von Max Reinhardt. Auch das gilt heute unverändert.

Leben Sie eigentlich auch privat in Salzburg?
Ich bin Anfang Januar zunächst mit zwei Koffern hierhergezogen und lebe jetzt ganzjährig hier. Wenn man in einem solchen Kulturbetrieb und in der Stadt wirklich verankert sein möchte, kann man nicht unregelmäßig von irgendwoher „einfliegen“.

Und natürlich darf auch die typische deutsche „Neidfrage“ – gerade an Sie – nicht fehlen. Gehen Österreicher mit Kunst und Kultur denn wirklich besser um als wir Deutsche?
Als Deutsche und Schweizerin, die mit einem Österreicher verheiratet ist, kann ich diese Frage wirklich ganz gut beantworten. (lacht) Ja, ich glaube, die Kultur hat in Österreich wirklich einen anderen Stellenwert – kulturelle Ereignisse werden viel mehr in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen als beispielsweise in Deutschland. Das ist mir oft aufgefallen. Kultur hat einen höheren Wert hier – das ist schön und besonders. Eine große Motivation für unsere Arbeit im Übrigen.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2022

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Die singende Nation

Joseph Calleja feiert sein Land und sein 25-jähriges Bühnenjubiläum mit einem Open-Air-Spektakel auf Malta

Joseph Calleja feiert sein Land und sein 25-jähriges Bühnenjubiläum mit einem Open-Air-Spektakel auf Malta

von Iris Steiner

Eine „Opernreise“ nach Malta? Die ehemalige Oper, das „Teatru Rjal“, wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört und ist heute nur als Freilichtbühne in Betrieb, Maltas Nationaltheater, das „Teatru Manoel“, ist zwar eines der ältesten Häuser Europas, hat aber aktuell keinesfalls einen opernaffinen Spielplan. Skurrilerweise besitzt die winzige Nachbarinsel Gozo dafür gleich zwei Opern – im Abstand von 300 Metern und für nicht einmal 30.000 Einwohner. Die Malteser lieben das Singen, es gibt eine lebendige Gesangstradition quer durch alle Altersgruppen und auch Maltas Tenor-Star hat einen Kinderchor ins Leben gerufen, der selbstverständlich bei seinem Jubiläumskonzert zum Einsatz kam. Über allem schwebt der Wunsch, EINMAL den Eurovision Song Contest zu gewinnen …

So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass in einem der beiden Opernhäuser auf Gozo, dem „Teatru ­Astra“, 1997 ein damals 19-jähriger Tenor namens Joseph ­Calleja sein Debüt als Macduff in Verdis „Macbeth“ gab, im selben Jahr den Belvedere-Hans-Gabor-Wettbewerb gewann, 1998 den Caruso-Wettbewerb in Mailand und ein Jahr später den CulturArte-Preis bei ­Domingos Operalia-­Wettbewerb. Spätestens jetzt wurde der Schüler des bis dahin berühmtesten heimischen Opernsängers, Paul Asciak, zu dessen Nachfolger im internationalen Operngeschäft, zum Aushängeschild seines gesangsbegeisterten Landes und 2012 sogar zum ersten von der Regierung ernannten Kulturbotschafter Maltas. Erst vor wenigen Jahren konnte man den bereits berühmten Calleja überraschenderweise noch einmal in seiner kleinen Debütrolle des Macduff erleben – an der Bayerischen Staatsoper, die auch gerne einmal Weltstars in Nebenrollen verpflichtet. „Sie haben mich gefragt“, lautet die pragmatische Antwort auf die Frage, weshalb er sich denn für so eine kleine Rolle zur Verfügung stelle. Gab es nicht auch einen nostalgischen Hintergrund? „Es war meine erste Rolle, natürlich ist die mit aufregenden Erinnerungen verbunden. Und ich halte es mit ­Pavarotti: So gut ein Macbeth auch singen mag, der Macduff hat die eine Arie im Stück, an die man sich erinnert …“

Links: St. John’s Cathedral | Rechts: Mit traditionellem Fischerboot geht’s ans andere Ufer nach Valetta (Fotos Iris Steiner)
Links: St. John’s Cathedral | Rechts: Mit traditionellem Fischerboot geht’s ans andere Ufer nach Valetta (Fotos Iris Steiner)

Widerstandsfähigkeit als hoher Wert

Am 26. Juli feierte Joseph Calleja sein 25-jähriges Bühnenjubiläum mit einem großen Open-Air-Konzert. Eine Heimkehr nach Malta oder immer wieder ein „Aufbruch in die Welt“ von hier aus? Beides, meint er verschmitzt: „Ich bin Malteser – unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort.“ An seiner Seite heute wie damals: Plácido ­Domingo, der künstlerische Übervater, mit dem ihn eine ganz besondere Freundschaft verbindet. Domingo war es, der ihn entdeckte und förderte, durch Domingos Unterstützung wurde Calleja wie viele andere Sängerinnen und Sänger vor und nach ihm weltbekannt. „Plácido ist als Sänger eine Ausnahme-Erscheinung und als Förderer junger Talente einzigartig“, meint Calleja und man spürt nach wie vor die starke emotionale Verbundenheit. „Was kann man über die größte lebende Legende der Oper noch sagen, was nicht schon gesagt wurde? Er ist ein Vorbild in Geduld und Disziplin, jemand, der einem beibringt, wie man nach Niederlagen wieder aufsteht und wie man mit Rückschlägen umgeht, die früher oder später jeden von uns treffen.“

Widerstandsfähigkeit: Ein Begriff, den er auffällig oft verwendet in diesem Gespräch und der die Bindung zwischen Calleja und seiner Insel wohl am besten in Worte fasst. Dieser Schmelztiegel aus arabischer und westlicher Kultur, geprägt von seiner geografischen Lage zwischen Sizilien und Tunesien, brauchte im Laufe der Jahrhunderte viel Widerstandsfähigkeit, um zu überleben. Die megalithischen Tempel Maltas gehören zu den ältesten Zeitdokumenten der Menschheitsgeschichte. Römer, Johanniter-Ritter, Araber, Briten: Alle haben die kleine Insel erobert und zum Bollwerk eigener Interessen gemacht. „Wir sind geprägt von dieser speziellen Energie“, sagt Calleja, „solche Einflüsse fördern geistige und seelische Gesundheit und die Stärke eines Menschen“. Durch eine Corona-Erkrankung mit Long-Covid-Symptomen war er vor Kurzem zwei Monate zwangsbeurlaubt – und fühlt sich nach eigenen Angaben immer noch nicht hundertprozentig fit. „Manchmal sind im Terminkalender vier Tage Regeneration eingeplant. Ich brauche aber neuerdings eineinhalb Wochen, um wirklich wieder meine beste Form abrufen zu können.“

Ob er überrascht war, wie schlecht man den Kulturbetrieb während der Corona-Krise behandelte? „Weil die Politik das so wollte“, meint er und wirkt dabei eher gleichgültig als wütend. „Überall, nicht nur in Malta, gab es unsinnige Regeln. Zu einem Fußballspiel durfte man gehen, in die Oper nicht. Wir alle haben gelernt: Kultur ist Luxus.“ Calleja zuckt mit den Schultern, der Interviewraum im Keller des Fort Manoel wird unüberhörbar von den gewaltigen Orchesterklängen der laufenden Generalprobe geflutet. Er macht eine kurze Denkpause und fügt nicht ganz ohne Sarkasmus hinzu: „Medizinische Versorgung oder Lebensmittel sind unbedingt nötig und sicher brauchte man während dieser Pandemie auch irgendwann genug Wein, um die Probleme zu vergessen. Aber Kultur?“

Mediterran-fröhliche Jubiläumsfeier und ernsthafte Studien für Bayreuth

Joseph Calleja und Chefredakteurin Iris Steiner: Manchmal passt ein Selfie eben am besten! (Foto Iris Steiner)
Joseph Calleja und Chefredakteurin Iris Steiner: Manchmal passt ein Selfie eben am besten! (Foto Iris Steiner)

Für seinen großen Abend hat sich Calleja etwas Besonderes einfallen lassen und lässt es sich auch nicht nehmen, höchstselbst vor Ort mitzuarbeiten und etwa die Akustik der Arena während der Probe zu überprüfen. Ein Open-Air-Konzert an „einem der schönsten Orte der Insel“, beschreibt er das Fort Manoel in Gżira. Mit Recht: Einen pittoreskeren Bühnenhintergrund als den Blick aufs Meer und die gegenüberliegende Landzunge der ab 1723 erbauten Festung erlebte wahrscheinlich selbst das Malta Philharmonic Orchestra selten zuvor. Ins ausverkaufte Auditorium pilgerten vorwiegend einheimische Besucher allen Alters – die recht schmale Straße hinauf zum Fort war besser fußläufig zurückzulegen. Drinnen und draußen herrschte Volksfeststimmung, Wein, Pizza und südländisches Durcheinander inklusive. Dass die Veranstaltung mit 45 Minuten Verspätung begann, störte niemanden, letztendlich kamen alle auf ihre Kosten: Bekannte Arien sowie Film- und Tenorschlager, abwechselnd und gemeinsam vorgetragen von Domingo und Calleja, unterstützt von verschiedenen Soprankolleginnen und Kinderchor, illuster inszeniert mit einem auf Malta generell sehr beliebten Feuerwerksspektakel.

Im kommenden Jahr verkörpert Calleja, der selbst noch nie in Bayreuth war, den Parsifal in der dortigen Neuproduktion des US-Regisseurs Jay Scheib. Eine Produktion, die wegen der angekündigten Augmented-Reality-Umsetzung bereits im Vorfeld mit besonderem Interesse erwartet wird. Auch für den Malteser ist es ein besonderes Debüt an einem besonderen Ort. „Ich arbeite an dieser Rolle mit sehr großer Ernsthaftigkeit. Bayreuth ist nicht irgendein Opernhaus, es ist ein Operntempel.“ Auch in dieser Rolle ist Plácido Domingo sein Vorbild und – gefragt nach aktuellen Kollegen – „natürlich Jonas Kaufmann“. Nichtsdestotrotz: Eine persönliche Note zu hinterlassen, ist ihm wichtig. „Ich möchte dem Parsifal mit meiner lyrischen und gleichzeitig kraftvollen Stimme eine besondere Süße verleihen. Und die Kenntnis der Sprache im deutschen Repertoire ist für mich unbedingt erforderlich. Also lerne ich bereits seit geraumer Zeit ganz fleißig Deutsch.“

Talentförderer auf der Suche nach dem Lebensglück

Ist man durch ein Heimatland, das erst 1964 politische Unabhängigkeit erlangte, denn eigentlich per se politisch geprägt? „Ich liebe mein Land“, lautet Callejas überzeugte Antwort, „aber das ist mehr ein Gefühl des Stolzes. Wir sind klein und großartig – und haben viel erreicht. Politik ist da nur ein Handwerkszeug von mehreren. Leider eines, das oft missbraucht wird.“ Ein umtriebiger Botschafter „im Sinne der Sache“ ist er zweifellos: Seine „BOV Joseph Calleja Foundation“ zur Förderung junger maltesischer Künstler im Ausland hat in den acht Jahren ihres Bestehens bereits 1,5 Millionen Euro gesammelt. Wenn es darum geht, die zerstörte Valetta Oper wieder aufzubauen, ist Calleja ebenfalls federführend. Er holt berühmte Gesangs-Kollegen aus aller Welt zu gemeinsamen Konzerten ins kleine Malta und verhilft den Nachwuchstalenten des Landes durch Domingos hochangesehenen Operalia-Wettbewerb zu internationalen Karrieren.

Und was kommt jetzt noch „Neues“ nach 25 Jahren? Vielleicht im Hinblick auf das Alter seines nach wie vor umtriebigen Mentors ­Domingo? Joseph Calleja wirkt entspannt, lacht bei dem Vergleich kurz auf: „Ich lebe von Tag zu Tag und habe ehrlich gesagt ­bereits jetzt mehr erreicht, als ich jemals dachte. Was mir für die Zukunft wirklich wichtig ist – und das meine ich jetzt aus vollem ­Herzen: glücklich und gesund sein. Und mit meinem ­Kindern segeln gehen!“

Happy 25th Career Anniversary!

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

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Ludwig, Louis und die Musik

Rap meets Beethoven im Knast: „Himmel über Adelsheim“, ein soziokulturelles Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters

Rap meets Beethoven im Knast: „Himmel über Adelsheim“, ein soziokulturelles Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters

von Rüdiger Heinze

Klar sei er aufgeregt. So viele Menschen wie jetzt im Stuttgarter Wilhelma Theater haben er und seine Kumpels seit Langem nicht mehr auf einem Fleck gesehen. Und der Anstaltsleitung solle ja auch gezeigt werden, dass man in den vergangenen Wochen nicht nur Kaffee getrunken hat. Außerdem: „Ich war noch nie nüchtern bei einem Hip-Hop-Auftritt draußen, das ist jetzt eine ganz neue Erfahrung für mich.“

Louis, „21 Jahre jung“, wie er selbst sagt, ist Insasse einer der größten Jugendstrafanstalten Deutschlands. Mit 417 Plätzen für männliche Straftäter plus Zusatzbetten für Untersuchungshäftlinge. Drumherum eine 1.300 Meter lange, 5,5 Meter hohe Mauer, über die von draußen schon mal (mit was auch immer) gefüllte Tennisbälle fliegen. Etliche werden abgefangen, einige nicht. Deswegen gibt es auch gelegentlich Urin-Proben. Jüngst traf es auch Louis, um 7 Uhr in der Früh und unpassenderweise am Tag des ersten Konzertauftritts. Befund: negativ, zum Glück. Im „positiven Fall“ – Louis sitzt hier, weil er Drogen vertickt hat – wäre ein 100.000 Euro teures, stark sponsorengestütztes soziokulturelles Projekt geplatzt. Denn Louis ist Protagonist und unabkömmlich bei der „Beethoven-RAPsody“ aus der Jugendstrafanstalt Adelsheim nahe Heilbronn. Einen internen Rap-Wettbewerb unter zehn Teilnehmern hatte er dort schon gewonnen, hörbares Talent und Darstellungswille sind fraglos vorhanden. Jetzt kommt Gesamtverantwortung hinzu, siehe Urin-Probe.

Nicht alle der ursprünglich 22 Insassen-Teilnehmer sind hier bei der Generalprobe zu „Himmel über Adelsheim – Eine Beethoven-RAPsody“ in einer Turnhalle der JVA noch dabei. Aktuell sind es nur noch 15, denn es gab auch Zwischenfälle mit Disziplinarmaßnahmen. Von den 15 wiederum dürfen nur neun mit leichteren Haftbedingungen zur öffentlichen Aufführung ins Stuttgarter ­Wilhelma Theater, was insofern schade ist, als es dort fünf erklatschte Zugaben geben soll. Neun können mit, aber nur acht kehren – nach Körperkontrolle – zurück nach Adelsheim. Für einen heißt es mit dem finalen Klatscher: Entlassung. Dieser Eine übrigens bleibt um des Projektes Willen zwei Nächte länger in der JVA als vorgesehen. Das kann man guten Gewissens schon mal als einen Erfolg des ganzen Unternehmens verbuchen.

Rap, Klassik, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox – und ganz viel Spaß (Foto Oliver Röckle)
Rap, Klassik, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox – und ganz viel Spaß (Foto Oliver Röckle)

„Drinnen und Draußen“ – Begegnung auf Augenhöhe

Maßgeblich auf die Beine gestellt wurde das Projekt vom Stuttgarter Kammerorchester – und zwar aus der Überlegung heraus, welche gesellschaftlich randständigen Gruppen partizipativ mit dem Ensemble tätig werden könnten. Um Kunst geht es im speziellen Fall natürlich auch, vor allem aber um „Sozialarbeit, und zwar zu 90 Prozent“, wie es Katharina Gerhard formuliert, die für das Vermittlungsprogramm des ­Stuttgarter Kammer­orchesters zuständig ist. Das heißt konkret: Stärkung von Ausdrucksfähigkeit und Selbstbewusstsein, Stärkung der Konzentration und der sozialen Umgangsformen.

Und so treffen nun Beethoven auf Rap und eineinhalb Dutzend feinsinnige Streicher des Orchesters sowie die Chordamen der Musikschule Möckmühl auf markige, sichtbar nervöse Jungs. Eine durchaus reizvolle, aparte, kurzweilige Gemengelage. Ebenfalls dabei sind Mitarbeiter der JVA, ein Seelsorger und eine Verwaltungssekretärin im Chor, ein Werkmeister auf der türkischen Laute, ein Vollzugsbeamter als Breakdancer: alles in einem „Rap im Knast“-Workshop erarbeitet, wie ihn bundesweit Danny Fresh, im wirklichen Leben Daniel Ohler, anbietet. Wichtig ist, dass sich „Drinnen und Draußen“ – soweit möglich – auf Augenhöhe begegnen und Respekt zeigen vor dem Gegenüber und dessen Können. Es geht um Gemeinsamkeit, so wie auch zehn „externe“ Lehrlinge die JVA zur Berufsausbildung täglich besuchen. Regisseurin Nina Kurzeja beteuert, dass es – eben aufgrund der verabredeten Augenhöhe – bei szenischen Anweisungen nie Akzeptanz-Probleme gegeben habe. Womöglich ist das draußen in der Freiheit im Zweifelsfall noch anders als bei diesem, übrigens ausschließlich von Frauen geleiteten, Musikprojekt im Knast. Neben Kurzeja und Gerhard sind auch noch Dirigentin ­Viktoriia ­Vitrenko und Ausstatterin Marie ­Freihofer mit von der Partie.

„Nur wer die Sehnsucht kennt“ – eine Fusion geht unter die Haut

Und dann hebt sie an, die Show, deren Texte nicht zensiert sind. Darauf legt der JVA-Leiter, Regierungsdirektor Dr. Nikolas Blanke, Wert. Obwohl sie in manchem Detail nicht seinen eigenen Überzeugungen entsprechen. Gut möglich, dass er damit solche Rap-Zweizeiler meint: „Mit Sechzehn dachte ich, ich hätte alles im Griff – doch wurde vom Schicksal gefickt.“ Wichtiger jedenfalls waren Blanke der individuelle Ausdruck von Erfahrungen und Gefühlen in einer jeweils passenden Form bis hin zum Gangsta-Rap. Das Textbuch zur Aufführung vermerkt denn auch geflissentlich-fettgedruckt: „Selbst ein Genie wie Beethoven hatte durch seine chaotische Lebensweise Probleme mit der Staatsgewalt.“ Da treffen sich dann Ludwig, Louis und die Musik. Alles ist Collage und Fusion: Rap, der Klassik-Titan mit Kunstliedern und seinem chorisch aufgeführten Streichquartett „serioso“, op. 95, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox.

JVA trifft Kammer­orchester: ein geglücktes Experiment mit Vorbildcharakter (Foto Oliver Röckle)
JVA trifft Kammer­orchester: ein geglücktes Experiment mit Vorbildcharakter (Foto Oliver Röckle)

Einiges davon hört man in dieser besonderen Umgebung vollkommen neu, etwa Beethoven und seine Vertonung von „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ oder seinen „Erlkönig“ („Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir“, „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“). Aber: Beethoven ist schön und gut und wahr. Unmittelbar eindrücklicher, energetischer vor der gegeben-abgesperrten Situation ist so mancher selbstverfasste Rap – beziehungsweise deren gemeinsame Nenner. Hört eine genau hin, liest einer genau nach, so sticht in Ohr und Auge, was immer wieder Gegenstand der rhythmisch-straighten Songs ist: die Tränen der Mütter über den verlorenen Sohn, dazu eine besungene innere Leere. Beides macht nachdenklich – vor allem im Verbund mit Geständnissen, Selbstbezichtigungen („Meine Versprechen, ja, sie waren immer mangelhaft“), Credos („Ich schaue dem Teufel in die Augen, um Gott wieder zu sehen“), Erinnerungen („Es war ’ne schöne Zeit. Als ich nach Hause kam, gab es immer was Warmes zu essen“), Plänen („Hab’ ein Kind, deshalb muss ich jetzt ein Vorbild sein“). Sätze, die beklemmen, Sätze, die rausmüssen auf der Folie der Kunst. 50 Prozent der jungen Insassen (Durchschnittsalter: 20 Jahre) haben denn auch ein Broken-Home-Leben hinter sich. Beethovens „Fidelio“ spielt da keine Rolle, wir haben es nicht mit politischen Gefangenen zu tun. Erstaunlich blass jedoch ist im Gesamtzusammenhang der ins Boot geholte Profi-Rapper „Afrob“, sowohl vokal wie körpersprachlich. Meint auch der 19-jährige Slako, Gefangener mit Heimat Konstanz: „Absolut unauthentisch.“

Tamara Scherer, Sozialarbeiterin und Freizeitpädagogin in der JVA Adelsheim, spricht einen bemerkenswert zweigeteilten Satz: „Die Jungs sind begeisterungsfähig für alles – Hauptsache raus aus der Zelle.“ Louis, der nicht mehr viel Zeit im Knast vor sich hat, wenn der Richter mitspielt, widerspricht dem nicht. Er, der Hip-Hopper, sei am Anfang nicht ganz mit Herz und Seele dabei gewesen. Aber er wisse genau, was für ihn zu tun sei demnächst. Erstens: Bewährung einhalten. Zweitens: die Verwirklichung seines Traumes, Musik zu machen. „Dafür ist das Projekt doch schon ein ganz guter Anfang.“ Wobei: „Der deutsche Mainstream-Rap ist nichts für mich.“ Wir drücken die Daumen, er hätte die Chance verdient …

Es gibt übrigens bereits Nachfrage nach württembergischen Folgeprojekten. Vielleicht ja das nächste Mal in der Frauenhaftanstalt Schwäbisch Gmünd?


Lieber Louis und all die anderen,

ich denke, Ihr lest das irgendwann. Deshalb: Vielen Dank für Eure beeindruckende Performance – „großes Kino“! Ihr habt gezeigt, was ihr draufhabt. Vergesst später nie, wie sich das angefühlt hat, auf dieser Bühne zu stehen – vor allem, wenn „draußen“ das Leben schwierig wird. Man kann sehr viel schaffen, wenn man wirklich will und sich dafür reinhängt. Nicht alles klappt auf Anhieb und immer – bei niemandem. Niederlagen sind keine Schande. Von Herzen alles Gute für Euch, Ihr habt unseren Autor und mich schwer geflasht an diesem Nachmittag!

Iris Steiner, „orpheus“-Redaktion

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

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Für Gefühle war da keine Zeit

Nachgefragt bei Michael Kupfer-Radecky, dem sehr spontanen „Einspringer-Wotan“ der Bayreuther Premieren-„Walküre“

Nachgefragt bei Michael Kupfer-Radecky, dem sehr spontanen „Einspringer-Wotan“ der Bayreuther Premieren-„Walküre“

Interview Iris Steiner

Wie und wann haben Sie erfahren, dass Sie den dritten Akt der „Walküre“ von Tomasz Konieczny übernehmen sollen? Wie wir wissen, hatte dieser im zweiten Akt einen schweren Bühnenunfall mit einer Liege, die unter ihm zerbrochen ist.

Ich habe das ungefähr 20 Minuten nach Beginn des zweiten Akts erfahren – zuhause in meiner Wohnung außerhalb von Bayreuth. Das Festspiel-Betriebsbüro rief an und meinte: „Michael, könntest Du vielleicht kurz kommen? Wir wissen gerade nicht genau, was passiert – komm bitte sicherheitshalber mal.“ Ja, dann bin ich hin. Anderthalb Stunden vor Beginn des dritten Akts war ich im Festspielhaus und fünf Minuten nach Beginn der Pause nach dem zweiten Akt hieß es: „Michael, jetzt übernimm bitte den dritten.“

Waren Sie denn als Cover für die Partie vorgesehen?

Nein, aber ich hatte vor sechs, sieben Wochen eine sogenannte Stand-in-Probe. Der Kollege Konieczny konnte damals noch nicht vor Ort sein, aber das Regieteam brauchte jemanden, der bei den Bühnenproben da steht, damit die Kolleginnen und Kollegen einfach eine Bezugsperson haben. Deswegen habe ich zwei Tage quasi mitgeprobt, aber danach die Regie und das, was ich dort aufgenommen hatte, sofort wieder vergessen. Weil ich ja kein offizielles Cover war.

Es war Ihr erster und dann noch sehr spontaner Wotan-Einsatz in Bayreuth. Ihr Schluss als trauriger Gott war für uns einer der bewegendsten Momente des Abends. Was haben Sie in diesem Moment und kurz vorher gefühlt? Über was denkt man in einem solchen Augenblick nach?

Tja, die Gefühle vorher und nachher: privat gar keine, denn dafür hat man keine Zeit. Was ich noch sehr gut aus den Proben wusste, war die intensive Charaktersituation, die mir Valentin Schwarz geschildert hatte. Das konnte ich mir sehr gut zurückrufen. Und diese Emotion des Alleinseins, des Wegschickens des liebsten Menschen, was einen völlig zerbricht und dass die eigene Welt, das eigene Drumherum zusammenbricht und nicht mehr funktioniert, das kam in dem Moment in mir hoch, als ich dort auf der Bühne lag.

Kann eine solche Situation eine Karriere auch negativ beeinflussen? Hatten Sie Angst, vor den Ohren der Opern-Weltöffentlichkeit zu scheitern?

Ich habe wie gesagt nicht so viele Gedanken daran verschwendet in dem Moment oder davor. Danach, als der Vorhang zuging, dachte ich mir schon: Gott, was hast Du jetzt gemacht …! Da kam’s dann bei mir erst an. Es sind mir ja doch – da ich die Partie länger nicht gesungen, aber präsent hatte – ein, zwei Textfehler passiert. Und auch hier und da war ich nicht immer ganz mit Cornelius Meister zusammen … aufgrund der Situation des Einspringens. Da gab’s dann kurz schon den Moment, in dem man überlegt, ob das jetzt richtig war. Hätte ich es rein aus karrieretechnischen Gründen nicht lieber lassen sollen? Aber dann hat beim Vorhang-Rausgehen das wunderbare Entgegenkommen des Publikums und die schöne Presse danach bestätigt, dass es die richtige Entscheidung war. Und jetzt schauen wir mal.

Weil Sie das gerade eben erwähnt hatten: Wann und wo haben Sie den Wotan denn schon gesungen?

Das letzte Mal vor anderthalb Jahren am New National Theatre Tokyo, davor an der Staatsoper Budapest, am Staatstheater Oldenburg und ganz zu Beginn bei den Tiroler Festspielen Erl.

Vier Tage nach seinem Spontan-Einspringen das eigentliche Debüt: Als Gunther („Götterdämmerung“) war Michael Kupfer-Radecky nach Bayreuth engagiert worden (Foto Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath)

Wie waren generell die Reaktionen auf Ihren Einspringer-Einsatz? Die Kritik hat mit Lob ja nicht gespart, wie Sie selber sagen …

(lacht) Das ging auch so weiter im Privaten. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Als die Vorstellung vorbei und ich mit den Kolleginnen und Kollegen bei einem Aftershow-Bier war, ist mein Handy explodiert. Das kannte ich zwar von Kollegen schon, aber wie viele Nachrichten da auf einmal gekommen sind von Menschen, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte, war schon sehr erstaunlich. Die Reaktionen waren von professioneller wie von privater Seite unglaublich positiv und sehr, sehr erfreulich.

Möchten Sie den Wotan in Bayreuth denn generell einmal in Erstbesetzung singen?

Naja, diese Frage mit „Nein“ zu beantworten, wäre natürlich nicht richtig. (lacht)

Andersherum gefragt: Sind Ihre Chancen jetzt gestiegen, den Wotan in Bayreuth einmal in Erstbesetzung singen zu können?

Ach, das weiß ich gar nicht. Das hängt von so vielen Dingen ab, da bin ich realistisch. Ich glaube, ich habe eine gute Visitenkarte abgegeben – und werde einfach warten, was passiert. Ich habe einen sehr guten Kontakt zur Festspielleitung hier und werde den aktuellen „Ring“ als Gunther auf jeden Fall bis zum Ende begleiten, das steht schon fest. Was dann darüber hinaus passiert – jetzt speziell bei den Bayreuther Festspielen – das wird man sehen in den nächsten Monaten oder im nächsten Jahr. Klar, der Wunsch wäre da, das wäre sicher ein Traum. Aber ob die Chancen größer oder weniger groß dadurch geworden sind, kann ich nicht beurteilen.

Sie haben in Ihrer eigentlichen Rolle als Gunther ebenfalls durchweg positive Kritiken erlebt und sind auch positiv in Erscheinung getreten. Der Beifall des Bayreuther Publikums hat das auch bestätigt. Die Regie fiel dagegen weitgehend durch. Sie hätten jetzt die Chance, etwas zu Valentin Schwarz’ Konzept zu erzählen, was wir bisher noch nicht wussten und vielleicht wissen sollten.

Ehrlich gesagt, hat uns Valentin zumindest in der Arbeit an der „Götterdämmerung“ mit allem, was davor passiert, nicht so sehr „belästigt“, damit wir uns auf das Eigentliche konzentrieren. Ich habe erst mit den Generalproben einen großen Bogen bekommen und dann aber viele Sachen, die wir in der „Götterdämmerung“ gemacht haben, verstanden und nachvollziehen können. Ich bin aber natürlich auch sehr beteiligt und sehr „mit drin“ durch die ganze Probenarbeit und das intensive Miteinander-Arbeiten. Ich sehe da eine Linie. Ob die jetzt richtig ist oder nicht für den Einzelnen, möchte ich nicht beurteilen, das steht mir auch nicht zu. Ich verstehe sie, finde sie gut und habe Spaß daran gehabt. Valentin Schwarz hat es verstanden, uns als Sänger-Team mit seinen Ideen zu begeistern, es war ein sehr schönes, intensives Arbeiten mit ihm. Das ist heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich.

Konzerthaus am Abgrund

Interview mit Dr. Wolfgang Heubisch

Interview mit Dr. Wolfgang Heubisch

In München steht ein Hofbräuhaus – und eben kein Konzerthaus, wenn es nach den neuesten Plänen der Bayerischen Staatsregierung geht. Eine plötzliche Kehrtwende mitten in laufender Planung. Zukunftsvision: Fehlanzeige

von Iris Steiner

Ein „Langzeitprojekt für kommende Generationen“ sollte es werden und das weltweit erste Konzerthaus mit vollkommener Ausrichtung auf das Zeitalter der Digitalisierung. Ein Haus der Musik und der Musikvermittlung, darüber hinaus kreativer Gestaltungsort für innovative Kunstformen. Noch Mitte 2021 seitens der Bayerischen Staatsregierung als „Jahrhundertprojekt“ gefeiert und vom Bayerischen Landtag abgesegnet, macht Ministerpräsident Söder jetzt einmal mehr das, was er am liebsten tut: einen medienwirksamen Alleingang ohne Vorankündigung. Ist diese von oben verordnete Denkpause denn wirklich nötig? Wäre es nicht eher ein Fall für den Bayerischen Obersten Rechnungshof, wenn leichtfertig Millionen für Planung und Erbpacht bewilligt wurden? Nicht nur die eigens gegründete „Stiftung Neues ­Konzerthaus München“ läuft Sturm, auch die Opposi­tion im Bayerischen Landtag will das so nicht stehen lassen. Wir fragen den kulturpolitischen Sprecher der FDP im Bayerischen Landtag und Kunstminister a.D., Herrn Dr. Wolfgang Heubisch.


Dr. Wolfgang Heubisch (Foto FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag)

Warum spricht Ministerpräsident Söder in der Öffentlichkeit ausschließlich von einem Konzertsaal, obwohl es sich um ein ganzes Konzerthaus mit eigener künstlerischer Konzeption handelt? Übrigens hat er noch im Juni 2020 selbst genau damit argumentiert …
In der Vergangenheit wurde das umfassende Gesamtkonzept selbst in der öffentlichen Diskussion leider etwas flapsig oft auf den großen Saal reduziert – wir reden aber von einem Haus mit drei Sälen. Entweder hat das selbst der Ministerpräsident bisher noch nicht ganz verstanden, oder er bedient sich bewusst dieser irreführenden Rhetorik. Erwartungsgemäß bekam er viel (mediale) Zustimmung bei seinem Vorstoß, derartig hohe Ausgaben für einen Orchester-Konzertsaal in der heutigen Zeit infrage zu stellen. Dass er andere wichtige – vielleicht sogar die entscheidenden – Funktionen des Hauses nicht einmal erwähnt, macht im Sinne seiner Argumentation natürlich Sinn. Den vergleichsweise geringen Anteil von Konzertbesuchern in der Bevölkerung zu vernachlässigen, bringt wenig Nachteile im Hinblick auf die Landtagswahlen. Schwieriger würde es dann schon bei den Folgen öffentlichen Opponierens gegen eine bayernweit einzigartige, zukunftsweisende Bildungsstätte, die das Konzerthaus ja auch ist. Es macht also taktisch Sinn, diesen Aspekt aus der öffentlichen Debatte möglichst herauszuhalten.

Im Juli 2021 hat der Bayerische Landtag mitten in der Pandemie einvernehmlich beschlossen, die Planung des Konzerthauses fortzusetzen. Wieso argumentiert Ministerpräsident Söder neuerdings, dass die Quasi-Absage eine Reaktion auf die veränderte Situation infolge der Pandemie ist?
Ich halte das für eine Hilfsbegründung, um seine Grundthese zu stützen. Selbst in der Hochphase der Pandemie sprach man an offiziellen Stellen des Kunstministeriums immer von einem „absoluten Superprojekt“. Zeitlich passt die Begründung überhaupt nicht, das sehen Sie völlig richtig. Die hat er sich wohl ausgedacht – und dann gleich den neu installierten Kunstminister Blume zur weiteren Abarbeitung in seinem Sinne vorgeschoben.

Trotzdem wird offensichtlich unverändert weiter geplant, 36 Millionen Euro sind bereits ausgegeben und noch immer arbeiten etwa 100 Menschen am Projekt Konzerthaus – Fachplaner, Akustiker und Raum­klimaspezialisten. Und dass, obwohl es quasi schon „beerdigt“ ist. Wie würden Sie das nennen, wenn nicht „Steuergeldverschwendung“?
Das wüsste ich auch gerne. Vor allem wäre interessant, was diese „Zeit zum Nachdenken“ genau bedeutet, von der Söder immer spricht. Auf jeden Fall eine ganz enorme Kostensteigerung. Ich kann nur spekulieren, dass es sich möglicherweise um bewusstes Verzögern und geplantes Beerdigen direkt nach der Landtagswahl 2023 handelt. Denn wenn ein neuer Kunstminister als erste Amtshandlung eine derartig deutlich ablehnende Aussage macht, wie Markus Blume das in dieser Sache getan hat, ist es zweifellos der thematische Supergau. Ich wüsste auch nicht, wie ein von Fachleuten entwickeltes Zukunftskonzept aus optimaler Musikdarstellung, diversen Studiengängen und kultureller Bildung durch „Nachdenken“ seitens der Staatsregierung verbessert werden könnte. Keine Ahnung, auf welche göttlichen Eingebungen man da wartet.

Sie hatten es bereits angesprochen, Ministerpräsident Söder hat vor Kurzem ausgerechnet die Bau­ministerin und den Kultusminister in seinem Kabinett ausgetauscht, drei Wochen später dann öffentlich vom größten Kulturbauprojekt Bayerns Abstand genommen. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Ich will das nicht ganz ausschließen, weiß aber auch, dass er das Projekt in dieser Art bereits früher infrage gestellt und erneut geprüft haben wollte. Kunstminister Sibler war im Gegenzug immer ein großer Befürworter und sprach von einem „Jahrhundertprojekt“. Die eigentliche Kommunikationskatastrophe dieser kompletten Meinungsumkehr hat Söder dem Nachfolger überlassen und einen Tag später selbst in einem Zeitungsinterview begründet.

Es gab vor Kurzem die populistisch inszenierte Aussage Söders, dass der Bau am Ende eine Milliarde Euro kosten wird, prognostiziert und belegt wurden im vergangenen Jahr allerdings 580 Millionen. Wie begründet der Ministerpräsident diese derartige Kosten­explosion in so kurzer Zeit – und wie belegt er seine Zahl?
Söder denkt in medialen Aufschlägen. Er weiß, wenn er mit einer Milliarde Euro Kosten für einen Konzertsaal argumentiert, wird das eine prominente Meldung. Er versucht, mit einem Satz zu sagen, dass ihm das alles viel zu teuer ist. Der Verweis auf die Kostenexplosion beim Bau der Hamburger Elbphilharmonie hinkt in diesem Zusammenhang übrigens sehr. Die Hamburger haben zwar steigende Kosten ebenfalls scharf diskutiert, trotzdem immer wieder aufgestockt und damit genau den Kommunikationsschock verhindert, den Söder hier fast schon provoziert. Und schauen Sie doch mal, die „Elphi“ wurde bereits nach kurzer Zeit ein Wahrzeichen Hamburgs, Publikumsmagnet und ein wirtschaftlicher Erfolg. Man hat die Öffentlichkeit über alle Schwierigkeiten informiert und positiv in die Zukunft argumentiert – weil man das Gebäude wollte. Das ist der Unterschied. Ab und zu wird zwar auch bei uns verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die genannte Milliarde völlig aus der Luft gegriffen sei. Aber so richtig „platzieren“ lässt sich das Thema nicht. Ich persönlich halte das Vorgehen des Ministerpräsidenten in diesem Fall für höchst unseriös. Ich befürchte, dass es negative Folgen hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz von Großprojekten – nicht nur kultureller Art – haben wird: bei Initiatoren, in der Bevölkerung, bei privaten Förderern und Freundeskreisen, bei Sponsoren und im bürgerschaftlichen Engagement.

Bleiben wir noch ein wenig bei Söders medialer Strategie. Er spricht durchwegs von einem „Konzert­tempel“ – und müsste eigentlich wissen, dass es das genau nicht ist, sondern ein niederschwelliges Konzept mit Schwerpunkt auf Bildung und zukunfts­weisender Digitalisierung.
Es wurde in einigen Medien und auch von uns in der Opposition immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Darstellung zumindest unvollständig ist. Leider war die Resonanz in der Bevölkerung schwach und auch die Medien behandeln Kulturthemen recht stiefmütterlich. Der Begriff „Kulturtempel“ ist hier gleichzeitig populistisch und kontraproduktiv, klingt unterschwellig elitär und versnobt. Söder setzt noch einen drauf und formuliert neuerdings dauernd, dass er sich „in der Leberkäs-­Etage“ befindet – was auch immer das bedeutet – anstatt transparent und ehrlich den (manchmal leider kostspieligen) Wert von Kultur für uns alle zu formulieren. Auch der neue Konzertsaal in Nürnberg fiel übrigens diversen Einspar-Argumenten zum Opfer. Man sieht deutlich, dass Kulturprojekte ganz klar nicht ­Söders Schwerpunkt sind, viel lieber benutzt er Begriffe wie „Hightech Agenda“. Ich würde auch das voll unterstützen. Nur: So einseitig darf man nicht denken. Und bei Kunstminister Blume fehlt mir bis heute ebenfalls der Nachweis, dass er die Kultur als Wert für unsere Gesellschaft schätzt. In dem Punkt etabliert er sich eher als Lautsprecher seines Herrn.

So sollte es aussehen, das Münchner Konzerthaus auf dem ehenmaligen Pfanni-Gelände im Osten der Stadt (Foto Renderings Bloomimages für Cukrowicz Nachbaur Architekten ZT GmbH)

Bei dem Grundstück, auf dem das Konzerthaus gebaut werden soll, handelt es sich um einen Erbpachtvertrag mit einer Mindestlaufzeit von 88 Jahren und 600.000 Euro jährlichen Mietkosten. Darüber hinaus besteht die vertragliche Verpflichtung zum Bau eines Konzerthauses. Beschlossen übrigens unter Leitung des damaligen Finanzministers Söder …
Aufgrund des Index-Mietvertrages sprechen wir heute schon von fast 700.000 Euro und ja, auch die Nutzung als Standort für das Konzerthaus ist Vertragsbestandteil. Wenn das jetzt nicht kommen sollte, wird man dem Grundstückseigentümer an anderer Stelle entgegenkommen müssen oder freiwillig einen Aufpreis für eine mögliche Umnutzung bezahlen. Es handelt sich um einen sehr vermieterfreundlichen Vertrag, die Komplettaufgabe des Projektes auf diesem Grundstück hat ganz sicher die eine oder andere kostenintensive Konsequenz.

Die Stadt München war nie begeistert vom Standort auf dem ehemaligen Pfanni-Gelände im Osten. Erwartungsgemäß ruhig verhält sich der Münchner (SPD)- Oberbürgermeister Reiter. Halten Sie den Vorschlag, die Interimsspielstätte Isarphilharmonie länger als vorgesehen zu nutzen, für eine gute Idee?
Schon unter Seehofer hat man versucht, eine gemeinsame Lösung mit der Stadt München zu finden, die den sanierungsbedürftigen Münchner Gasteig mit einbezieht. Diese Gespräche wurden mit der Begründung abgebrochen, dass zwei so unterschiedliche Orchester wie das des Bayerischen Rundfunks und die Münchner ­Philharmoniker nicht gleichberechtigt in einem Saal unterzubringen sind. Allerdings hat die Stadt ­München bis heute keinen Investor für den notwendigen Gasteig-­Umbau gefunden. Daher kommt die Situation fast schon gelegen, da man möglicherweise den Freistaat jetzt doch wieder zu Kooperationsgesprächen bewegen kann. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass ein Konzept wie das des neuen Konzerthauses nicht in den Gasteig installiert werden kann, bei dieser Lösung geht es dann wirklich nur um den gesuchten Orchester-Spielort. Ein komplett anderer, viel kleinerer Ansatz, der aber im Zuge des Umbaus übrigens auch mindestens 450 Millionen Euro kosten würde. Was die Isarphilharmonie betrifft: So wunderbar und charmant dieses Konzept jetzt für das Interim ist, auch dort müsste man für eine längerfristige Nutzung deutlich Geld in die Hand nehmen. Es gibt weder ordentliche Künstlergarderoben noch eine ausreichende Toiletten- und Pausensituation. Und wir sprechen übrigens wieder nur über einen Saal. Noch dazu einen, dessen Bühne zu klein für Mahler oder Strauss ist. Aber ob das Herrn Söder interessiert?

Wie stehen Sie zu dem berechtigten Einwand, dass in der Stadt München die Einwohnerzahlen seit Jahren steigen, während die Sitzplatzkapazitäten der Kultureinrichtungen stagnieren?
Dieses Argument habe ich selbst im Landtag eingebracht, nachdem Söder sich vom Konzerthausplan in der ursprünglichen Form offensichtlich verabschiedet hat. Wir vergessen total, dass die Bevölkerung in München und darüber hinaus konstant wächst und es schon deshalb ein größeres Angebot braucht. Was ich auch nicht verstehe: Unser Ministerpräsident schwärmt zwar permanent von Künstlicher Intelligenz und Quantentechnologie, lässt diese sehr nachvollziehbaren Argumente hinsichtlich einer zukunftsfähigen Kulturinstitution aber überhaupt nicht gelten – geschweige denn, dass er sie argumentativ nutzt. Bayern ist laut seiner Verfassung Kulturstaat. Kultur ist weit mehr als systemrelevant. Gerade in einer Zeit, in der sich sicher geglaubte Gewissheiten in Rauch auflösen und kulturelle Identitäten bedroht werden, brauchen wir den völkerverbindenden Dialog und kulturellen Diskurs mehr denn je. Dieser Austausch – weit über München und Bayern hinaus – ist eine Chance des neuen Konzerthauses.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2022

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Netzwerken für die Zukunft

Die Buchmann-Mehta School of Music in Tel Aviv

Die Buchmann-Mehta School of Music in Tel Aviv

von Tobias Hell

Es ist eine Symbiose, wie man sie so nur selten erlebt. Denn während in den meisten europäischen Musikzentren Studierende nach ihrem Hochschulabschluss auf Vorspiele oder einen der begehrten Plätze in den Akademien der Spitzenorchester hoffen, bekommen junge Musikerinnen und Musiker in Tel Aviv schon früh einen Einblick ins spätere Berufsleben. Möglich wird dies durch die Arbeit der Buchmann-­Mehta School of ­Music (BMSM), die 2005 durch den Zusammenschluss der Universität von Tel Aviv mit dem Nachwuchsprogramm des Israel Philharmonic ­Orchestra (IPO) entstand. Zwei weltberühmte Institutionen, verknüpft durch zwei nicht minder bekannte Namen, die man auf dem Campus bis heute in Ehren hält. Der Frankfurter Geschäftsmann und Holocaust-Überlebende Josef ­Buchmann und seine Frau Bareket, Mäzene auch zahlreicher anderer wohltätiger Projekte, zählen schon lange zu den Förderern des ­Israel Philharmonic Orchestra und schafften es auch, den langjährigen Chefdirigenten des Ensembles, Zubin Mehta, mit ins Boot holen. Der ließ sich sofort für die Kooperation ­begeistern und trat als neuer Ehrenpräsident der BMSM das Erbe solch prominenter Vorgänger wie Arnold Schönberg und ­Leonard Bernstein an.

Nach diesen Titanen startet inzwischen aber auch eine junge Generation israelischer Musikerinnen und Musiker von Tel Aviv aus zur großen internationalen Karriere. Jüngstes Beispiel ist hier unter anderem der frisch gekürte Chef des Israel Philharmonic ­Orchestra, Lahav Shani, der seine Ausbildung ebenfalls an der Buchmann-Mehta School of Music erhielt und es sich genau wie sein Vorgänger nicht nehmen lässt, seine Erfahrungen nun selbst an die junge Garde weiterzugeben. Gekrönt mit dem alljährlichen Konzert des Schulorchesters im Charles Bronfman Auditorium, dem Stammquartier des IPO.

Dass mit Lahav Shani und seinem Kollegen Dan Ettinger an der benachbarten Israeli Opera erstmals in der jungen Geschichte des Landes zwei der bedeutendsten Musik-­Institutionen Israels von einheimischen Dirigenten geleitet werden, ist eine Tatsache, deren volle Tragweite dem Publikum der pulsierenden Mittelmeer-Metropole zum Teil noch bewusst werden muss. Für die Verantwortlichen der Buchmann-Mehta School of ­Music ist es allerdings jetzt schon eine Bestätigung für die hohe Qualität der Ausbildung. Finden sich doch auch an den Pulten des IPO zahlreiche Alumni der BMSM.

Sportlich-freundschaftlicher Projekt-Alltag (Foto Yoel Levy)

Tradition und Aufbruch

Die Wurzeln der Schule gehen dabei bis in die 1940er Jahre zurück, gegründet als Israel Academy of Music und später zu Ehren von Samuel Rubin umbenannt. Waren es in den Anfangsjahren noch Musikerpersönlichkeiten aus Russland oder Ungarn, die ihre Traditionen im neugegründeten Staat weiter pflegten, atmet der Campus inzwischen ein internationaleres Flair. Viele Mitglieder des IPO, die hier im Rahmen der Kooperation unterrichten, haben ihre eigene Ausbildung noch in Europa oder den USA ergänzt und neue Impulse mit nach Hause gebracht. Und natürlich gibt es bis heute regelmäßige Meisterkurse renommierter Dirigenten und Solisten.

„Nach Israel kommt man nicht nur für zwei Konzerte“, wie Pianist Tomer Lev erzählt, der 2005 zum ersten Leiter der neugegründeten Institution wurde und nach wie vor in der Klavierklasse aktiv ist. „Die Reise hierher ist aus bekannten Gründen oft etwas komplizierter. Und so bleiben viele Künstlerinnen und Künstler auch gerne mal gleich zwei oder drei Wochen. Sie treten mit dem IPO dann nicht nur in Tel Aviv, sondern auch in Jerusalem, Haifa oder Be’er Sheva auf. Und weil da meistens ein paar freie Tage dazwischen sind, fragen wir einfach immer an, ob sie nicht eventuell auch ein bisschen mit unseren Studierenden arbeiten wollen.“ Ein Angebot, das bislang kaum ein prominenter Gast abgelehnt hat.

Und so lässt sich auf dem Gang zu den Probenräumen eine eindrucksvolle Sammlung von Plakaten bestaunen. András Schiff, Yuja Wang, Murray Perahia und Pinchas Zukerman haben hier ebenso Meisterkurse gegeben wie Kammermusik-Guru Menahem Pressler. Aber auch Eva Mei, Marjana Lipovšek und Thomas Hampson. Ein Name, der besonders oft fällt, wenn man sich mit den Studierenden unterhält, ist aktuell neben Lahav ­Shani vor allem der von Alan Gilbert. Der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters hat unter anderem auch bei Ori Ron großen Eindruck hinterlassen. „Es war unglaublich beeindruckend, wie er sich auf uns eingelassen hat. Es war nicht einfach nur ein Meisterkurs für die Dirigierklasse. Ich glaube, alle von uns konnten unglaublich viel von ihm mitnehmen.“ Im selben Gespräch erzählt der junge Cellist ebenfalls vom gerade absolvierten Jugendkonzert mit den Kollegen des IPO. „Gerade nach dem Kultur-Lockdown war es toll, wieder vor einem vollen Saal und so einem Publikum zu spielen.“

Freundschaftliche Konkurrenz in familiärer Atmosphäre

Auftritte mit dem Israel Philharmonic Orchestra stehen zwar regelmäßig auf dem Programm, müssen von den Studierenden aber hart erarbeitet werden. Denn vor jedem Einsatz mit den Profis steht ein hartes Probe­spiel, bei dem man sich gegen seine Studienkolleginnen und -kollegen durchsetzen muss. Ganz so, wie es später auch auf dem freien Markt der Fall sein wird. Wobei die von offizieller Seite gern betonte familiäre Atmo­sphäre auf dem Campus von den Studierenden und den Dozenten gleichermaßen bestätigt wird. So erzählt IPO-Oboist Dudu Carmel, dass tatsächlich einer seiner Schüler den schwer erkämpften Platz beim aktuellen Konzertprogramm großzügig der deutschen Stipendiatin Stella Heutling überließ. „Er meinte, sie wäre ja nur ein Jahr hier, während er wahrscheinlich noch öfter Gelegenheit haben wird. Das ist großzügig, aber eben auch selbstbewusst. Sicher gibt es durch das Vorspielen Konkurrenz, aber trotzdem respektiert man sich gegenseitig.“ Auch dies mag ein Grund dafür sein, dass sich auch immer mehr junge Musikerinnen und Musiker aus Europa, Amerika, Asien und sogar Australien für das Förderprogramm bewerben, um hier ein Jahr lang die reichhaltigen Angebote wahrzunehmen.

BMSM-Direktor Uri Rom und Sharon Rostorf-Zamir, die Leiterin der ­Opernklasse (Fotos Yoel Levy)

Selbst wenn die Kooperation mit dem Israel Philhar­monic Orchestra eines der großen Alleinstellungsmerkmale der Schule darstellt, behauptet sich daneben dennoch auch die Gesangsklasse überaus selbstbewusst. Unter Leitung von Sharon Rostorf-Zamir, die in Deutschland vor allem an der Oper Frankfurt oder bei den Händel-Festspielen Halle von sich reden machte, haben sich neben den Kammermusik-Aktivitäten und der Konzertreihe des Schulorchesters auch die Opernproduktionen der BMSM zum gar nicht mehr so geheimen Geheimtipp gewandelt.

So konnte man dank Förderung der International ­Music & Art Foundation hier zuletzt unter anderem Ravels „L’Enfant et les Sortilèges“ erleben, sowie eine auf historisch informierten Pfaden wandelnde Produktion von Händels „Acis and Galatea“, für die der neu ernannte BMSM-Direktor Uri Rom nicht nur selbst ans Dirigentenpult trat, sondern mit Geigerin Kati Debretzeni ebenfalls eine versierte Orginalklang-Spezialistin als Coach mit ins Boot holte. Ein gelungenes Experiment, nach dem vor allem das Barockrepertoire in Zukunft weiter gestärkt werden soll.

Und wer weiß, vielleicht begegnet man einigen der jungen Sängerinnen und Sänger ja bald auch auf einer europäischen Bühne wieder. So Mezzo Shahar Lavi, die nach ersten Schritten in Heidelberg nun zu den Publikumslieblingen des Nationaltheaters Mannheim zählt, oder BMSM-Absolventin Nofar Jacobi, die gerade mit dem ersten Preis bei der Rita Gorr Opera Competition in Gent ausgezeichnet wurde.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2022

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Eine Frage der Ehre

Liudmyla statt Anna – die neue Turandot an der Met

Liudmyla statt Anna – die neue Turandot an der Met

Als „Lieblingspartie“ würde Liudmyla Monastyrska die Rolle der ­Turandot nun nicht gerade bezeichnen – eigentlich ist sie gar nicht Bestandteil ihres ­Repertoires. Dennoch sagte sie nicht nein, als Met-General Manager Peter Gelb vor Kurzem höchstpersönlich bei ihr anrief, ob sie nicht „übernehmen“ wolle. Für die unglücklich agierende Anna Netrebko, deren politische Fuchs-und-Hase-­Strategie ein Vertragsverhältnis am bekanntesten Opernhaus der Welt momentan unmöglich macht

von Iris Steiner

Mediale Aufmerksamkeit war nie der Grund für sie, ­diesen Beruf zu ergreifen. Auch bei unserem Zoom-­Interview macht Liudmyla Monastyrska einen zurückhaltenden Eindruck, lässt sich trotz guter Englischkenntnisse von einem Freund übersetzen. Dass ausgerechnet eine ukra­inische Sängerin im Mai an der Met die ausgeladene Anna Netrebko als Turandot ersetzt, erhöht selbst für die erfolgsgewohnte Sopranistin mit internationaler Karriere den öffentlichen Druck ganz gewaltig. Zumal sie die Partie zuletzt vor sieben Jahren öffentlich gesungen hat und zugibt, dass Puccinis Prinzessin nicht gerade ihre Lieblingsrolle ist. „Diese Frau verstehe ich einfach nicht“, meint sie, „verbittert und aggressiv – Gott sei dank zeigt sie am Ende, wenn Calaf sie küsst, endlich doch noch Gefühle.“ Man gewinnt den Eindruck, dass diese Rolle der scheu und sanft wirkenden Künstlerin genauso wenig entspricht, wie die Situation, in der sie sich momentan unfreiwillig wiederfindet. ­Monastyrska spricht mit uns aus einem Warschauer Wohnzimmer, einem selbstgewählten Exil, während Eltern und Bruder in Kiew blieben und die beiden Kinder in Polen und Rumänien in Sicherheit sind. „Meine ganze Seele ist zuhause und sehr traurig“, meint sie, „aber körperlich bin ich okay.“

Monastyrska ist auf der ganzen Welt unterwegs, als ihr Zuhause bezeichnet sie trotzdem nach wie vor die Heimatstadt Kiew. Der Lebensmittelpunkt ist noch immer dort – zumindest war er das bis vor einigen Wochen und bevor Putin begann, das Land zu bombardieren. Täglich steht sie via Telegram und online in Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen der Ukrainischen Nationaloper, ebenfalls täglich gibt es neue Schreckensmeldungen von dort – und manchmal verzweifelte Hoffnung. „Stellen Sie sich vor, die Oper in Kiew möchte im April wieder spielen, nach über einem Monat der Schließung. Das ist in Wirklichkeit wahrscheinlich unmöglich, aber keiner dort will aufgeben. Und wie ich hörte, gehen unsere Musiker in U-Bahn-Schächte und machen Musik, um die Leute dort ein wenig aufzumuntern.“ Sie kennt die Szenerie der Stadt, war selbst jahrelang Ensemblemitglied und feierte dort 1996 ihr Bühnendebüt als Tatjana in Tschaikowskis „Eugen Onegin“, ehe sie mit einer Opernkarriere durchstartete. „Im Moment kann ich nichts weiter tun, als meinem Land durch Mitwirkung an Benefiz-Konzerten zu helfen und mein Gefühl der Zugehörigkeit zur Ukraine sowie meinen Protest lautstark auszudrücken.“

Anna und Liudmyla?

Dass ihr Einspringen in New York für ausgerechnet die russische Kollegin Anna Netrebko große Aufmerksamkeit erregt, weiß sie – und ist dankbar für die Chance, diese Turandot auch für die Ukraine zu singen. „Es ist eine große Ehre für mich, mein Land auf diese Weise vertreten und präsentieren zu dürfen.“ Den Begriff „glücklich“ möchte sie allerdings nicht verwenden, zu traurig und wütend fühlt sie sich. „Künstler, die das System Putin offen unterstützen, sollen in meinen Augen keine Bühne bekommen. Meiner Meinung nach hat Anna ihre Position viel zu spät erklärt. Einen ganzen Monat ohne Statement von der Nummer eins der Opernwelt? Das ist für mich untragbar.“

Gibt es eigentlich Parallelen zwischen Anna ­Netrebko und Liudmyla Monastyrska – vielleicht stimmlich? Die vorsichtige Frage stößt wie erwartet nicht auf große Begeisterung. „Nein, wir sind uns nicht ähnlich, auch nicht in Bezug auf unsere Stimmen.“ Prompt und harsch kommt die Antwort. „Anna ist eine hervorragende Sängerin mit einer großen Karriere und hat viele Manager und Berater, die mit ihr arbeiten. Das ist so nicht meine Welt.“ Kurz vor Beginn des Krieges waren beide alternierend für die Aida in Neapel engagiert. Ist man sich dort nicht auch persönlich begegnet? „Natürlich kenne ich Anna. Ihre Entscheidungen sind ihre Sache, sie ist erwachsen. Im Moment möchte ich sie allerdings lieber nicht treffen.“

Warum sich Peter Gelb, General Manager des größten Opernhauses der Welt, mit einem persönlichen Anruf ausgerechnet für Liudmyla Monastyrska entschieden hat, weiß sie nicht. Dass ihre Herkunft dabei eine (politische) Rolle gespielt hat, ist zu vermuten, trotzdem bleibt sie getreu ihrem Naturell bescheiden-realistisch. „­Sicher hätte es auch einige sehr gute Alternativen mit ukrainischem Hintergrund gegeben. Ich kann nur sagen, dass ich sehr stolz bin, dass die Wahl auf mich gefallen ist.“ Wir wollten das allerdings genauer wissen, fragten nach und erhielten prompt folgendes Statement von Peter Gelb: „Dass ich Liudmyla gefragt habe, liegt nicht daran, dass sie Ukrainerin ist, sondern weil ich weiß, dass ihre ausdrucksstarke dramatische Stimme perfekt zu dieser Partie passt – auch wenn sie die momentan nicht in ihrem aktuellen Repertoire führt. Um auf der riesigen Bühne der Metropolitan Opera großes italienisches Repertoire zu singen, braucht man als Sängerin eine tragfähige und sehr kraftvolle Stimme. Liudmyla hat bereits einige Male zuvor als Aida und Abigaille diese ‚Met-Tauglichkeit‘ bewiesen und beide Rollen mit großem Erfolg an unserem Haus gesungen. Die Tatsache, dass sie aus der Ukraine stammt, ist das ‚Sahnehäubchen‘. Nicht mehr und nicht weniger.“

Liudmyla Monastyrska als Abigaille mit Plácido Domingo in der Titelrolle von Verdis „Nabucco“, Metropolitan Opera 2016 (Foto Metropolitan Opera/Martin Sohl)

Aus der Ukraine auf die großen Bühnen der Welt

Ihr Europa-Debüt gab Monastyrska 2010 als Tosca an der Deutschen Oper Berlin, eine ihrer Lieblingspartien, mit der sie bis heute regelmäßig zu hören ist. In den Jahren darauf folgten Engagements als Aida und Tosca an der Opéra national de Paris und der ­Metropolitan Opera sowie ebendort zusammen mit Plácido ­Domingo 2016 als ­Abigaille in ­„Nabucco“. Diese Vorstellung wurde weltweit live ins Kino übertragen und in Deutschland und Öster­reich in einer einzigen Vorstellung von 50.000 (!) Besuchern gesehen. An der ­Bayerischen Staatsoper und der Wiener Staatsoper unter ­Simone Young war sie im selben Jahr als Aida zu hören, knapp ein Jahr nach ihrem Debüt 2015 bei den Salzburger Festspielen in der Neuproduktion von „Cavalleria rusticana“ mit Jonas Kaufmann. Es folgten Engagements als Lady Macbeth und Abigaille am Royal Opera House London und der Mailänder Scala. Und für diesen Sommer steht eine Aida auf dem Plan – diesmal in der Arena di Verona, „möglichst weit weg vom Krieg“, wie sie sagt. „Auch wenn der mich überallhin ­begleitet.“

Ihre traumatische Erfahrung kann sicher auch ­Zeffirellis prächtige Met-Inszenierung – bereits seit 1987 ein Publikumsfavorit – nicht heilen. Am 7. Mai 2022 wird „Turandot“ live in über 200 Kinos in Deutschland und Österreich übertragen. Ein wichtiges „Statement-Engagement“ nennt es ­Monastyrska, würde generell aber eigene Verträge immer vorziehen, bei denen sie, wie sie es ausdrückt, „von Anfang an gewollt ist“. In diesem Fall weiß sie um die Wirkung – und versucht es mit Pragmatismus. Das einzige Mal während unseres Gesprächs, bei dem sie beinahe etwas fröhlich wirkt. „Ich habe mein Arbeitsvisum und hey, wir reden von der Metropolitan Opera. Es ist immer ein Highlight, dort singen zu dürfen. Also: Los geht’s!“

Was würde sie einem Wladimir Putin gerne sagen, wenn es die Gelegenheit dazu gäbe? Sie schweigt einige Zeit, ringt sichtbar nach Worten und Fassung – die Antwort danach klingt gut überlegt: „Ich habe keine Worte für Putin und bin seit Wochen geschockt. Für mich ist er ein kranker Mann und für uns normale, friedliebende Ukrainer ist die Situation unfassbar. Wir sind doch im 21. Jahrhundert – kann man wirklich ernsthaft einfach hingehen und Menschen abschlachten?“

Liebe Frau Monastyrska, selbst der eisige Charakter Turandots wird durch die Liebe verändert. Wir wünschen Ihnen und Ihrem Land, dass so etwas nicht nur auf der Opernbühne funktioniert.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2022

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Feuerwerk & HALLE-luja

100 Jahre Händel-Festspiele Halle

100 Jahre Händel-Festspiele Halle

Mit einem facetten­reichen Festspielkalender und gebührend Glanz & Gloria feiert ­Händels Geburtsstadt ein promi­nentes Jubiläum. 100 Jahre Händel-­Festspiele Halle rufen vom 27. Mai bis zum 12. Juni 2022 an authentischen Spielstätten die Stars der internationalen Barockmusik-­Szene auf den von langer Expertenhand konzipierten Spielplan. Ein Markenzeichen Halles, der dritten Händel-Festspielstadt neben Göttingen und Karlsruhe, ist auch die enge Verbindung von Wissenschaft und Bühnen­praxis

von Renate Baumiller-Guggenberger

Wo, wenn nicht in seiner Geburtsstadt, die Georg ­Friedrich Händel als 18-Jähriger verließ, um fortan insbesondere in London zu Ruhm und Ehren zu gelangen, sollte sein „Spirit“ förmlich in der Luft liegen? Gut erhalten sind Originalschauplätze wie die Marktkirche, in der Händel 1685 getauft wurde, das Orgelspiel lernte und sein musikalisches Rüstzeug erhielt, der Dom, an dem er als Organist tätig war, und ebenso sein Geburtshaus in der Nikolaistraße 5, das heute Zentrum der ambitionierten Händel-Forschung und attraktives Museum ist. Die zeitlose musikalische Schönheit und Erhabenheit seiner Opern, Oratorien und Kantaten wird in Halle intensiv und mit akademischem Expertenblick durchleuchtet, leidenschaftlich und ganzjährig vermittelt und mit Blick auf die jährlich stattfindenden Festspiele gepflegt.

Barockmusik trifft Mario­nettenkunst: „Ariodante“ erweckt die schottische Ritterwelt zum Leben (Foto Compagnia Marionettistica Carlo Colla e Figli)

In der Saale-Stadt trifft Geschichte auf Gegenwart, begeistert ein auf Tradition gebautes Festival am Puls der Zeit, spielen Händels Kindheits- und Jugendorte in einmaliger Weise mit hochkarätiger, gegenwärtiger Barockmusik-Kultur an rund 20 Veranstaltungs­orten zusammen. Einer davon ist das 1802 nach Vorgaben Goethes errichtete und „just in time“ renovierte ­Lauchstädter Sommertheater, dessen Ambiente das Publikum verzaubert. Hier wird man im Jubiläumsjahr 2022 über „Caio Fabbricio“ (1733) Händel als versierten Bearbeiter einer Hasse-Oper erleben können. In feiner Pasticcio-­Tradition wurde in Koproduktion mit dem Concert ­Royal Köln die Handlung auf das Wesentliche komprimiert und für die Solisten mit koloraturgespickten Arien von Albinoni, Vinci und Händel aufgewertet. An drei Tagen ist dort unter der musikalischen Leitung von Wolfgang Katschner (Berliner Lautten Compagney) in Kooperation mit dem Marionettentheater Carlo Colla & Figli zudem die im Vorjahr nur digital realisierte Neuinszenierung des „Ariodante“ zu erleben.

Netzwerkender Publikumsmagnet

Wer die Händel-Festspiele Halle einmal erlebt hat, kehrt meist als Stammgast wieder und zählt so zu den rund 60.000 kulturaffinen Festspielbesuchern, über die sich Halle zumindest bis zum Beginn der Pandemie freuen durfte. 60 Prozent der Gäste reisen von außerhalb Sachsen-Anhalts an, 6 Prozent davon aus dem nahen europäischen Ausland – sogar australische Händel-­Liebhaber wurden mehrfach in Halle begrüßt. Nach den beiden vergangenen Jahren, in denen Covid-19 zur Absage zwang, garantieren zum Jahrhundert-Jubiläum schwindelerregende 67 (!) Hauptveranstaltungen und weitere, teils kostenfreie Begleit-Events in Stadt und Region ein komplexes und gewohnt exquisit besetztes Programm. Nicht weniger als fünf, vom Händel/Mozart-„Messias“ angeführte Oratorien konkurrieren mit ebenso vielen professionellen Opernproduktionen um die Zuschauergunst: neben den oben erwähnten die diesjährige Eröffnungsproduktion »Orlando«, „Siroe, Re di Persia“ und eine konzertante Aufführung von „­Fernando, Re Di Castiglia“.

Händel satt – das gilt definitiv für das größte und älteste Musikfest Sachsen-Anhalts, das in verschiedene nationale und internationale Netzwerke eingebunden ist und im Laufe der letzten Jahrzehnte von kulturpolitisch engagierter Prominenz schirmherrschaftlich begleitet wurde. Keine Geringere als Queen Elizabeth II. etwa hatte sich zum 250. Todestag des „caro Sassone“ 2009 dieses Ehrenamt mit dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler geteilt. Wie auch Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff in seinem aktuellen Grußwort betont, „kennt Musik keine Grenzen und lebt vom Austausch“. Mit den beiden weiteren deutschen Händel-Festspielstädten Göttingen und Karlsruhe sieht man sich in Halle daher definitiv nicht in Konkurrenz, sondern freundschaftlich und im besten Sinne kooperativ verbunden.

Der Marktplatz mit dem berühmten Händel-Denkmal (Foto Thomas Ziegler/Stadt Halle (Saale))

Im Wandel der Zeit

Halle blickt mit Stolz auf eine bemerkenswerte Geschichte der Händel-Pflege zurück, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit der Aufführung seiner Oratorien begann. 1922 schien die Zeit dann reif für die Premiere des ersten „Hallischen Händelfests“, in dessen viertägigem Rahmen auch der „Orlando“ (in deutscher Sprache als „Orlandos Liebeswahn“) im damaligen Stadttheater als erste Händel-Oper in seiner Geburtsstadt inszeniert wurde. Im Laufe der bewegten Festspiel-Historie scheint es nur natürlich, dass sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Traditionen und Brüche, Konstanten und zeitgemäße Innovationen beobachten lassen, die vielfach im Zusammenhang mit der Indienstnahme der Musik Händels durch das herrschende politische System standen. Nach rassistischen und nordischen Implikationen im Nationalsozialismus kehrte die DDR „ihren“ Händel als Vertreter der Aufklärung und des Humanismus hervor, die staatliche Kulturpolitik forderte zudem einen „realistischen Aufführungsstil“ bei Neuproduktionen seiner Opern, was auch immer man darunter verstehen sollte. Den expressionistisch motivierten Protagonisten in den Jahren nach dem ­Ersten Weltkrieg schien gar die ­„Belebung der Gegenwart durch Händel“ weitaus vordringlicher als die „Händel-Wiederbelebung“. Und heute? Wo verortet die Gegenwart den Barockmeister? Am ehesten stellt man heute wohl den europäischen ­Kontext in den Fokus, würdigt Händel als Herzen und Völker verbindenden „Kosmopolit“, was in Halle im letzten Jahrzehnt zu bewusst interkulturell ausgerichteten Veranstaltungsformaten führte.

Der knapp 200 Seiten starke Katalog zur Jahresausstellung „Feuerwerk und Halle-luja“ enthält viel Wissenswertes weit über Fakten und Zahlen hinaus. Er wird ebenso wie eine Jubiläums-CD mit 19 Highlight-Einspielungen aus den Jahren 1958 bis 2008 von der Stiftung Händel-Haus herausgebracht. So wird in Text, Bildmaterial und Tondokumenten ein sinnliches und detailliertes Eintauchen in die anhaltende Händel-Euphorie möglich.

Unter den Themen der kenntnisreich verfassten Essays findet sich auch das weite Feld der „Historischen Aufführungspraxis“. Reflektiert werden der „Mythos ­Händel“, der Einzug des Countertenors in Halle, die Geschichte der Hallischen Händel-Tage in der NS-Zeit und die Rolle der Hallischen Händel-Ausgabe bei Festspiel-Aufführungen. Erinnerungen und Statements renommierter Künstler und ehemaliger Händel-Preisträger tragen dazu bei, die wohl einzigartige Festival-Atmosphäre greifbar zu machen. Countertenor Jochen Kowalski etwa denkt mit einem lachenden und einem weinenden Auge an sein erstes Festspiel-Konzert zurück, als er im Programmheft versehentlich zum ­JÜRGEN ­Kowalski wurde. Dieser Fauxpas wurde aber mehr als wettgemacht durch das prompt folgende Engagement an die Komische Oper als Start einer Weltkarriere.

Mit „Orlandos Liebeswahn“ wurde 1922 das „Hallische Händelfest“ ins Leben gerufen (Foto Stiftung Händel-Haus)

„Back to the roots“

„Jede Zeit hat ihr eigenes Händel-Bild“, behauptet auch Musikwissenschaftler und Kulturmanager Clemens Birnbaum. Und er weiß genau, wovon er schreibt. In der Nachfolge von Dr. Hanna John verantwortet Birnbaum als Intendant und Direktor der Stiftung Händel-­Haus seit 2009 (dem Jahr, in dem man den 250. Todestag des Komponisten beging) Programm und Profil der einmal jährlich stattfindenden Festspiele. Als einzigartig und wesentlich für Halle empfindet Birnbaum neben dem Privileg der Geburtsstadt mit authentischer Atmosphäre die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie ermöglicht, dass aktuelle musikwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa im Rahmen der Edition der historisch-kritischen „hallischen“ Werkausgabe, konkret in die Programmgestaltung integriert werden. Äußert gespannt freut er sich in diesem Jahr auch auf das Resultat der ambitionierten Rekonstruktion des 1744 komponierten Oratoriums „Semele“ in der 1922 erstellten und groß besetzten deutschsprachigen Fassung von Alfred Rahlwes. Zum Jubiläum dirigiert als Spezialist in Sachen klangliches Revival der Händel-Preisträger des Jahres 1996, Howard Arman. Die Staatskapelle Halle ist seit Jahrzehnten fester Partner der Händel-Festspiele und strebt gemeinsam mit einem ausgewählten Solistenteam, dem Konzertchor Leipzig und der Robert-Franz-Singakademie nichts weniger als die Nachgestaltung der Klangwelt von Aufführungen barocker Musik der 1920er Jahre an.

Nicht allein dieses klangästhetische Experiment spiegelt im Jubiläumsjahr das Motto „Back to the roots“ wider. Auch die Neuinszenierung von Händels Zauberoper „Orlando“ durch den Briten und neuen Chef der Oper Halle, Walter Sutcliffe, dockt zum Auftakt am 27. Mai programmatisch bewusst dicht an das Gründungsjahr 1922 an. Countertenor Xavier Sabata singt die Titel­rolle, die musikalische Leitung übernimmt der Barock-Spezialist Christian Curnym. Im Dom zu Halle steht das Oratorium „Susanna“ mit Rückgriff auf eine bislang nicht publizierte Strichfassung von Arnold Schering auf dem Programm. 1922 erklang sie ebendort und wird in der großen Sammlung der Stiftung Händel-Haus aufbewahrt. Für die historisch informierte Umsetzung sorgt das Leipziger Barockorchester sowie der MDR-Rundfunkchor unter seinem künstlerischen Leiter Philipp Ahmann.

Und als wäre das alles nicht schon Grund genug für eine musikalische Frühlingsreise in die Saale-Stadt im Händel-­Fieber, schüren viele ehemalige Händel-Preisträgerinnen und -Preisträger die Vorfreude auf die opulent gestaltete Jubiläumsausgabe. Publikumslieblinge wie Jordi Savall, Philippe Jaroussky, Ragna Schirmer oder Romelia Lichtenstein, aber auch Countertenor Axel Köhler, der nach seinem Rückzug von der Bühne die Festspiele als Regisseur begleitet, treten an, um auf ihre Weise zu gratulieren.

www.haendelhaus.de

EMPFEHLUNG

Stiftung Händel-Haus (Hg.):
„Feuerwerk und Halle-luja.
100 Jahre Händel-Festspiele Halle“
192 Seiten, Henschel Verlag

Stiftung Händel-Haus (Hg.):
„100 Jahre Händel-Feste in Halle (Saale).
Höhepunkte aus Einspielungen von 1958 bis 2008“
1 CD, exkl. im Museumsshop des Händel-Hauses

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2022

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Happy Birthday!

Rolando Villazón wird 50

Rolando Villazón wird 50

Mozart hasste Salzburg. Und Rolando Villazón liebt Mozart. Seit drei Jahren ist der Tausendsassa und Visionär Intendant der Mozartwoche, neuerdings auch der renommierten Stiftung Mozarteum Salzburg. Jetzt wurde er 50, ein Alter, das sein großes Idol nie erreichte. Wir sind sicher: Die beiden wären Freunde ­geworden und Mozart heute ganz bestimmt ein Fan seiner Heimatstadt

Interview Iris Steiner

Wie stehen Sie zu Ihrem 50. Geburtstag? Was bedeutet er für Sie und wie feiern Sie ihn?
Ich feiere mich, ehrlich gesagt, selten selbst. Meine Geburtstage, auch runde, begehe ich meist im ganz kleinen Kreis. Aber irgendwie hatte ich dieses Jahr Lust auf mehr. Von Corona einmal abgesehen geht es mir gut – als Sänger, als Künstler, als Mensch. Ich fühle mich sehr frei und zufrieden. Nach Anna Netrebkos 50., den wir im September in Moskau gefeiert haben, dachte ich: warum nicht, aber dann eben hier in Salzburg, meiner künstlerischen Heimat, und für die Stiftung Mozarteum. Wir machen ein großes, buntes Konzert am 21.2., dem Vorabend meines Geburtstags, und alle meine wunderbaren Gäste singen großzügig ohne Gage. So möchten wir die Stiftung Mozarteum unterstützen. Hinterher gibt es dann sicher eine Piñata, etwas Tequila und … Sachertorte!

Leider wurde die Mozartwoche in diesem Jahr nun komplett abgesagt. Wie wollen Sie diesen „Verlust“ wieder wettmachen? Wird das bereits geplante Programm 2023 nachgeholt?
Tatsächlich kann man den Verlust nicht wettmachen. Das, was sein sollte, ist verloren. Wir sind alle immer noch extrem traurig. Die letzten zwei Jahre waren eine harte Zeit, auf allen Ebenen und für alle Menschen. Kulturschaffende hatten und haben es extrem schwer. Die Stiftung Mozarteum leidet immer noch unter den Auswirkungen, sie werden uns auf Jahre begleiten. Wir müssen aber nach vorne schauen – dorthin, wo das Licht neuer Mozart-Interpretationen großartiger Künstlerinnen und Künstler schon strahlt und lockt. Die Planung für 2023 steht zwar, aber wir bemühen uns, möglichst viel aus dem Programm von 2022 in irgendeiner Form stattfinden zu lassen: sei es beim Mozartfest zur Wiedereröffnung unseres großen Saales im Oktober, bei Saisonkonzerten oder künftigen Mozartwochen. Es ist harte Arbeit, aber wir geben nicht auf.

Iris Steiner trifft Rolando Villazón zum Interview-Spaziergang in Salzburg (Foto Wolfgang Lienbacher)

Welche Auswirkungen hatte die Absage der Mozartwoche auf Sie persönlich, auf Ihre Planung und auf zukünftige Überlegungen im Zusammenhang mit der Organisation eines Festivals im von vornherein „Corona-gefährdeten“ Januar?
Die Absage war für mich persönlich ein harter Schlag. Ich habe viele Nächte nicht geschlafen. Wir haben so viel Herzblut in die Planung gesteckt und ich persönlich hasse Absagen ohnehin – als Künstler und als Intendant. Natürlich blicken wir nach zwei Jahren Pandemie auch nicht sorgenfrei in die Zukunft. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, wir müssen weiter planen, aus dem Erlebten lernen, uns immer wieder adaptieren. Es bleibt spannend … immer.

Sind Sie – jetzt mit 50 – „erwachsen“? Oder: Was bedeutet „Erwachsensein“ in Ihren Augen? Ist Alter etwas, das für einen Künstler von Bedeutung sein sollte/ist?
Ach, am Erwachsensein bin ich nicht soo interessiert. (lacht) Scherz beiseite: Ich fühle mich mit mir im Reinen und habe keine Angst vor dem Älterwerden. Im Gegenteil, ich freue mich drauf. Denn ich fühle mich so frei wie nie zuvor – nicht bestimmt von falschen Zielen und Prioritäten wie Macht, Berühmtheit oder Anerkennung. Die Freude, hier zu sein, steht im Mittelpunkt.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2022

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