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„The hardest thing to govern is the heart“

Das Brüsseler Opernereignis „Bastarda“ gräbt tief in der Psyche der Tudor-Königin ­Elizabeth I – und bietet feinsten Belcanto für Herz und Hirn

Das Brüsseler Opernereignis „Bastarda“ gräbt tief in der Psyche der Tudor-Königin ­Elizabeth I – und bietet feinsten Belcanto für Herz und Hirn

von Florian Maier

„I’m a Bastard!“ – „You are the Queen.“ Zwei Sätze, und die ganze unauslöschliche, tragische Dualität im Leben der englischen Tudor-Königin Elizabeth I (1533-1603) ist skizziert.

„Vil bastarda!“ Zwei Worte, und Donizettis Maria ­Stuarda hat ihr Leben binnen Sekunden endgültig verwirkt. Ein Königinnenduell, das zensiert wird, dann doch Musikgeschichte schreibt – und jetzt für den Titel eines zweiteiligen Belcanto-Spektakels am Brüsseler Opernhaus La Monnaie/De Munt Pate steht.

Es ist ein ungewöhnliches Experiment, das Intendant ­Peter de Caluwe da auf den Spielplan seines Hauses gesetzt hat. Vier Tudor-Opern hat Gaetano ­Donizetti seinerzeit komponiert: „Anna Bolena“ (1830), „Maria ­Stuarda“ (1834/35), „Roberto Devereux“ (1837) und das selten gespielte „Elisabetta al castello di Kenilworth“ (1829). Alle handeln sie von der englischen „Virgin Queen“ oder deren Wurzeln, alle stehen sie für sich. So etwas wie einen Zyklus hatte der oft als „Fließband-Komponist“ abgetane Donizetti nie im Sinn. Und doch lässt sich der Reiz des in Brüssel realisierten Gedankens nicht von der Hand weisen: Vier Tudor-Opern, eine ­Königin – warum nicht ein Psychogramm der englischen Herrscherin daraus destillieren?

„An existential tale in two evenings“

Und was für eines! In Olivier Fredj (künstlerisches Konzept, Skript, Regie) und Francesco Lanzillotta (Dirigat, musikalische Arrangements) hat de Caluwe genau die richtigen kreativen Köpfe für „Bastarda“ gefunden. „Pasticcio“ wäre ein grundlegend falscher Begriff für das, was die beiden über zwei Abende und knapp fünfeinhalb Stunden reine Spielzeit im Brüsseler Opernhaus entfalten. Da werden Nummern aus den vier Ursprungswerken nicht nur nach dem Bastelprinzip zu einer Collage kombiniert – da entsteht ein Gesamtkunstwerk, dessen Einzelteile sich gar nicht mehr wie Einzelteile anfühlen, so, als sollte es immer schon so sein. Arien, Duette, Ensembles, Chöre gehen ineinander über, die eine Oper spiegelt sich in der anderen, Solisten singen Ausschnitte, die nie für ihre Partien gedacht waren. Neu geschaffene musikalische Brücken gliedern sich nahtlos ein, dezente zeitgenössische Zwischentöne spitzen emotional zu, die „heilige Trennung“ zwischen Musik und gesprochenem Wort spielt kaum eine Rolle, denn dramatische Stringenz geht vor Belcanto-Kult. Bei alledem ist Donizetti der Anker des Projekts, aber nicht der alleinige Navigator: Regisseur und Autor Fredj bettet die italienische Oper des frühen 19. Jahrhunderts in ein englisches „Drehbuch“ auf der Höhe der Zeit: elisabethanisch, zeitlos, modern.

„An existential tale in two evenings“ nennt sich das Ergebnis, „The Rise and Fall of Elizabeth I“. Ein musika­lisches Biopic, chronologisch erzählt von der Wiege bis zur Bahre und ganz nah dran am Menschen hinter der Krone. Britische Period Dramas von „Downton ­Abbey“ bis „The Crown“ haben in der TV- und Streaming-Landschaft immer Hochkonjunktur – warum sollte es im Theater anders sein? Und so bietet auch „Bastarda“ Eska­pismus erster Güte: weit genug entfernt vom persönlichen Erfahrungshorizont, um mit Glanz und Elend der High Society ein paar Stunden dem Alltag entfliehen zu können.

Elizabeth I mit ihrer so ureigenen Biografie bietet dafür mehr als genug Kreativfutter: Ihr triebgesteuerter Vater Henry VIII provoziert 1534 eine Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche, um trotz bestehender Ehe eine offizielle Verbindung mit ihrer Mutter Anne Boleyn eingehen zu können, überlässt diese dann aber doch mehr als bereitwillig dem Schafott, als Elizabeth noch nicht einmal drei Jahre alt ist (Akt zwei von sechs seiner Ehedramen, die mit dem Merkspruch „­Divorced, ­Beheaded, Died, Divorced, Beheaded, Survived“ der Nachwelt noch heute präsent sind). Knapp zehn Jahre später stirbt der Vater, ihr Halbbruder ­Edward VI als dessen einziger legitimer Sohn lebt nicht viel länger, Halbschwester Mary I („Bloody Mary“) ebenso wenig. Plötzlich steht ein illegitimer „Bastard“ ganz oben in der Thronfolge und begründet eine neue Ära, das „­Elisabethanische Zeit­alter“. „Gloriana“ bewahrt ­England in fast 45 Regierungsjahren vor den Glaubenskriegen der Epoche, begründet den Aufstieg ihres Reichs zur Weltmacht und neuer künstlerischer Blüte, taktiert mit ihren weiblichen Reizen zur Sicherung des Friedens und bleibt letztendlich unverheiratet, um ihre Macht nicht mit einem Mann teilen zu müssen.

Schlammschlacht in Adelskreisen: das Königinnenduell ­zwischen Maria Stuarda (Lenneke Ruiten) und der englischen Queen ­(Francesca Sassu) (im Hintergrund Nehir Hasret als inneres Kind) (Foto Bernd Uhlig)

Prachtvoll, spritzig, intim

All das verpackt Olivier Fredj in Brüssel in zwei intime und doch bildmächtige, seelisch überragende ­Abende: „For better, for worse …“ erzählt von Herkunft und Aufstieg der jungen Königin bis zur finalen Konfrontation mit ihrer Cousine und Rivalin Mary Stuart, „… till ­death do us part“ von zunehmender Verbitterung und innerer Abkapslung in den späteren Lebensjahren. Regentschaft fordert ihren Tribut, und dieser besteht in ­Elizabeths Fall in Einsamkeit. Spannend, wie Fredj und sein Regieteam das im Galopp durch die Jahre und Jahrzehnte illustrieren. Unstillbare Sehnsucht nach ihren „Favoriten“ begehrt gegen das selbstauferlegte Dogma der „Virgin Queen“ auf und verkümmert daran letztlich jämmerlich, schneidender Ingrimm und Kälte brechen sich zunehmend Bahn, Paranoia hält Einzug in Musik, Mimik und Gestik, selbst die Kostümgestaltung. Handgemachte, pure Theaterkunst ist das, immer den roten Faden und die Formel „Psychologische Tiefenschärfe vor effektvollem Belcanto“ im Blick.

Das bedeutet nicht, dass Donizetti damit nicht zu seinem Recht käme. Aber seine Musik ordnet sich ein in ein gleichberechtigtes Kollektiv der Künste, die sich gegenseitig in die Hand spielen und einen in dieser Qualität selten zu erlebenden runden Gesamteindruck hinterlassen. Da ist etwa das von Avshalom Pollak choreografierte spritzige Ballett, in dem die Tänzer wie überdrehte Duracell-­Häschen als völlig überzeichnete Volksmenge durch die Szenen ruckeln und zuckeln, dass es eine wahre Freude ist – verkrustete Aristokratie einmal anders. Da sind Sarah Derendingers Video-Seelenmalereien, welche die Epoche bewusst brechen und den schönen Schein der königlichen Fassade sezieren (eindrucksvoll etwa Elizabeths kalt-poetischer „Totentanz“). Da sind Urs Schönebaums funktional-schlichte, die gesamte Bühnenhöhe füllende schwarze Säulen und Petra ­Reinhardts prachtvoller, historisch akkurater Kostümpomp, dessen Liebe zum Detail man nur bewundern kann. Und natürlich die Inszenierung von Olivier Fredj, der ­Elizabeths Lebensuhr unweigerlich Jahr um Jahr ticken lässt. Er bespielt nicht nur lustvoll Bühne und Königslogen, er durchbricht auch die vierte Wand und schlägt eine würdevoll-ergreifende Brücke, wenn die Zuschauer kurz nach Beginn des ersten Abends im Stehen der Krönungszeremonie der jungen Elizabeth beiwohnen und ganz am Ende von Teil zwei in derselben Haltung die sterbende Königin dem Tode überantworten.

„For better, for worse …“ wirkt vielleicht stellenweise etwas rastlos und erfordert mehr Durchhaltevermögen, besticht aber durch eine erzählerische Simultantechnik, welche Elizabeths Schicksal mit dem ihrer Mutter Anne Boleyn übereinanderlegt. Die Momente in „… till death do us part“ können sich dafür besser entfalten, finden zu einer eigenen inneren Ruhe und auch augenfälligeren Optik. Für beide Teile von „Bastarda“ gilt: In keinem Moment spielt sich hier fades Steh-Kostümtheater ab.

God Save the Queen!

Das ist zu einem ganz großen Teil auch einer erst 12-Jährigen (!) zu verdanken: Nehir Hasret in der Rolle des inneren, ewigen Kinds. Mit einer unwahrschein­lichen Grandezza behauptet sie die Bühne für sich, wie selbstverständlich zeigt sie mehr schauspielerische Facetten als 90 Prozent der heutigen Solisten-Landschaft. Eine getriebene, rastlose, einsame Elizabeth ist das, voller unerfüllbarer Träume, verzweifeltem Unverständnis, aggressiver Selbstbehauptung. Immer, wenn das sehr hohe Erregungslevel szenisch in die Monotonie zu kippen droht, weiß Hasret mit neuen emotionalen Farben zu überraschen, ergibt sich dem Wahnsinn, der kleinkindlichen Isolation, der naiven Lebensfreude.

Im Sterben bröckelt die Fassade: Elizabeth (Francesca Sassu) sucht Halt bei den omnipräsenten Schatten ihrer Eltern (Salome Jicia und Luca Tittoto) (Foto Bernd Uhlig)

Diesem personifizierten Innenleben steht eine äußere, erwachsene Elizabeth gegenüber. Aufgrund einer Erkrankung von Myrtò Papatanasiu übernimmt die alternierend eingeplante Francesca Sassu kurzfristig die beiden Premierenabende. Ihr Sopran braucht etwas Anlauf, schwingt sich mit zunehmender Dramatik aber zu einem kraftvoll-zarten Porträt der staatstragenden Repräsentationsfigur auf. Berührend-intim die Final­szene von „Bastarda II“, in der „Roberto Devereux“, „Anna Bolena“ und „Maria Stuarda“ kulminieren und ein fast utopisches Bild von Erlösung in Aussicht stellen.

Folgerichtig in der zweiten Reihe steht das übrige Ensemble, dessen Partien so zugeschnitten wurden, dass sie Elizabeths Charakterstudie perfekt in die Hände spielen. Salome Jicia erhält mit Anna Bolenas „Al dolce ­guidami“ das Leitmotiv der Produktion: das Wiegenlied einer Mutter, die ihr Kind mit nicht einmal drei Jahren für immer verlassen muss – eine Wunde, die niemals verheilt. Jicia verleiht dieser geisterhaften Wiedergängerin emotionales Gewicht, Luca Tittoto als ­blasiertes Scheusal Enrico (Henry VIII) führt die Königswürde im krassen Gegenentwurf ad absurdum. Über dem von Giulio Magnanini fabelhaft einstudierten Chor des Hauses schwebt mit ätherischem Schwermut die hochmütig strahlende ­Maria Stuarda von Lenneke Ruiten. ­Belcanto in Reinkultur liefert Enea ­Scalas Leicester: ein Proto­typ des schmachtend Leidenden, den auch Sergey ­Romanovskys Roberto Devereux in der „Favoriten“-­Erbfolge mit dunkel grundiertem Tenor aufzugreifen weiß. Raffaella ­Lupinacci (­Giovanna ­Seymour und Sara) und Valentina ­Mastrangelo (Amy ­Robsart) geraten lyrisch innig in die politischen Tretmühlen. Und die Partien von ­Smeton (David ­Hansen), ­Cecil (Gavan Ring) und ­Nottingham (­Bruno Taddia) führen als „Philosophy/Emotion“, „History/Reason“ und „Theatre/­Love“ in stilechtem Britisch als Erzähler durch die Geschichte, wenn Hansen seine Mezzoarie auch leider allzu schrill abfeuert.

Bleibt das Orchestre symphonique de la Monnaie, das unter Leitung von Francesco Lanzillotta eine majestätische Leistung erbringt: differenziert, ausbalanciert, mal pompös, dann wieder mit psychologischer Trennschärfe – und immer Donizettis feine Instrumentationskunst im Blick. Ein raumfüllender Klang, der diesen Höhepunkt der laufenden Spielzeit auch in musikalischer Hinsicht abrundet. Denn dass wundervoller Belcanto im kreativen Steinbruch durchaus das Zeug hat zu ganz großem Musiktheater, wird mit dieser ­Doppelpremiere in ­Brüssel mehr als deutlich. Es ist zu hoffen, dass „­Bastarda“ weiterlizensiert wird und nicht im Archiv verstaubt. Alles andere wäre eine Schande.

„Bastarda“ ist ab dem 28. Mai 2023 europaweit ein Jahr lang auf arte.tv/opera abrufbar.

EMPFEHLUNG

Thomas Kielinger:
„Die Königin – Elisabeth I. und der Kampf um England“
375 Seiten, C.H.Beck

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2023

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Backstage digital

Die Online Escape Games der Staatsoper Stuttgart und der Hamburger Elbphilharmonie

Die Online Escape Games der Staatsoper Stuttgart und der Hamburger Elbphilharmonie

von Lea Maria Unterseer

Einmal nachts durch die Staatsoper Stuttgart schleichen und die Geheimnisse der Notenbibliothek lüften? Oder doch lieber unter Zeitdruck alles für ein bevorstehendes Konzert in der Elbphilharmonie vorbereiten? Beides ist jetzt als Online Escape Game möglich. Wir wollen wissen: Kann die digitale Version mit der Realität mithalten?

Sonntagabend kurz vor Ostern an unserem Küchentisch: bereit, in diese neue Welt hinter den Kulissen einzutauchen. „Wir“ sind zwischen 17 und 26 Jahre alt, zu viert – darunter eine Opernsängerin und eine Dramaturgin – und gehören zu der Generation, die man „Digital Natives“ nennt: aufgewachsen mit den Neuen Medien und auch einigermaßen firm beim Online-Escape-Gaming.

„Nachts in der Oper“ – auf Entdeckungstour in der Staatsoper Stuttgart

Wir starten mit „Nachts in der Oper“, entwickelt vom Escape-Room-Anbieter LocQed.in in Kooperation mit der Staatsoper Stuttgart. Zu Beginn befinden wir uns samstagnachts am Ende einer Kneipentour vor der Oper und hören Musik. Die Tür zum Gebäude ist offen und so betreten wir den Eingangsbereich. Dort wartet auch schon das erste Rätsel: Wir müssen das Zahlenschloss des Kassenhäuschens öffnen und dafür in den verschiedenen Hinweisen den richtigen Zahlencode finden. Das ist im ersten Moment gar nicht so leicht: Welche Farbe hat welche Preiskategorie? Und wie viel kosten die Karten in der dunkelblauen Kategorie? Nach zwei falschen Versuchen sind wir drin. Übrigens stehen jederzeit Hinweise zur Verfügung. Im Zweifelsfall muss also niemand einfach aufgeben.

Die nächste Aufgabe beginnt auf der Bühne: Dort können wir mithilfe der Maus den ganzen Bühnen- und Zuschauerraum in einem 360-Grad-Bild erkunden. Und so führen uns die Aufgaben nach und nach einmal durch die Staatsoper: vom Orchestergraben bis zur Requi­site, vom Inspizientenpult bis hin zur Notenbibliothek. An jedem neuen Ort gibt es neue Rätsel, die Einblicke hinter die Kulissen freigeben. Charmant und authentisch erfährt man so von der Geburtstagsparty von Inspizient Jörg oder welche Lieblingsoper Cellist ­Andrej hat. Mit dem Zauber einer Theaterführung leiten die liebevoll gestalteten Aufgaben durch das Opernhaus, bis das Rätsel der geheimnisvollen Musik am Ende gelüftet wird. Das ganze Spiel ist auf 1,5 bis 2,5 Stunden angesetzt, wir schaffen es schon in knapp 50 Minuten.

Screenshots der Online Escape Games aus Hamburg (oben) und Stuttgart (unten) (Bilder Elbphilharmonie Hamburg & LocQed.in/Staatsoper Stuttgart)

„Rette das Konzert“ – ein musikalischer Lauf gegen die Zeit

Beflügelt von unserem ersten „Escape-­Erfolg“ starten wir sofort in das zweite Abenteuer: „Rette das Konzert“, das Escape Game der Elbphilharmonie, entstand in Zusammenarbeit mit der Hamburger Digitalagentur Pop Rocket Labs und ist auf 45 Minuten ausgelegt. Geiger Paganono soll heute Abend sein großes Konzert geben, doch sein Instrument ist beschädigt. Während Projektleiterin Nuria sich um die Reparatur der Geige kümmert, sind wir dafür verantwortlich, dass alle Konzertvorbereitungen getroffen werden. Doch die Probleme starten schon am Aufzug: Wir haben keine Schlüsselkarte! Glücklicherweise sind in den Schriftzügen im Aufzug Buchstaben versteckt, die uns den ­Sicherheitscode verraten.

Auch in diesem Escape Game führen uns die verschiedenen Aufgaben durch die Räume des Hauses. Die zu Beginn jeder Aufgabe eingebauten Videos zeigen die schönsten Ecken der Elbphilharmonie in fast schon Imagefilm-artigen Bildern. Zusammen mit Nurias Hilfe und Anleitung hängen wir Bilder in der Solistengarderobe auf, schalten die Beleuchtung für die Bühne ein und planen die Sitzordnung von Paganonos Ehrengästen. In sieben abwechslungsreichen Leveln retten wir den Abend und – so viel sei verraten – auch der Geiger selbst wird an diesem Abend noch rechtzeitig zu seinem Auftritt kommen.

Neben der guten Spieldramaturgie von „Rette das ­Konzert“ überzeugen vor allem die vielseitigen und abwechslungsreichen Aufgaben. Zu viert konnten wir die Rätsel ohne große Probleme lösen. Bei einer Herausforderung, in der man Bilder nach zugehörigem Musikstück und Veröffentlichungsdatum sortieren soll, hat unser Vorwissen die Lösung sehr erleichtert. Hier muss man ohne eine gewisse Musikkenntnis dann vielleicht doch Google und Co. um Hilfe bitten, was schon zu Beginn in der Spielanleitung angesprochen wird.

Familie Unterseer (Elisa, Lea Maria, Marie und Bastian) testet sich durch den kulturellen Gaming-Dschungel (Foto Lea Maria Unterseer)

Ein kleines Manko hat das kostenlose Angebot dann aber doch: Durch die hochauflösende Grafik, die verwendeten Videos der Elbphilharmonie und die Animationen von Bild und Text läuft die Anwendung nicht auf allen Geräten „ruckelfrei“. Auf unserem Laptop stocken so einige Male die zur Einstimmung dienenden Videos. Das stört nicht die tatsächliche Bearbeitung der Aufgaben, ist aber etwas schade.

Wer hat die Nase vorn?

Größter Vorzug von „Nachts in der Oper“ ist eindeutig die charmante und authentische Art, mit der die Spielenden durch das Opernhaus geführt werden. Hier wird man nicht wie bei „Rette das Konzert“ mit hochglänzender Stockfotografie konfrontiert, sondern bekommt sympathisch ehrliche Einblicke hinter die Kulissen. Während die Elbphilharmonie ihre schönsten Seiten inklusive Ausblick von der Plaza präsentiert, erhaschen wir in der Staatsoper Stuttgart beispielsweise einen Blick auf die mit Notizzetteln und Plänen übersäte Wand der Requisite. Zusätzlich werden hier Gewerke und Abteilungen ins Rampenlicht gerückt, die dem Publikum bei einer Vorstellung normalerweise verborgen bleiben, etwa die Inspizienz oder die Notenbibliothek. Im Vordergrund stehen eindeutig die Aufgaben und dieser besondere Einblick, die Handlung des Escape Games selbst stellt sich eher hinten an.

Natürlich kommt auch die Musik in beiden Spielen nicht zu kurz. So gibt es Aufgaben mit Hörbeispielen, die man den richtigen Komponisten oder Werken zuordnen muss. In Stuttgart wird man auch auf sein Repertoirewissen geprüft und darf die mit Emojis übersetzten Operntitel erraten. In Hamburg muss man die Orchesteraufstellung mithilfe von Tonaufnahmen überprüfen. Hier fällt positiv auf, dass auch das Thema Zugänglichkeit bei der Konzeption der Escape Games mitgedacht wurde: Eine Transkription der Hörbeispiele wird bei den entsprechenden Aufgaben jeweils mitgeliefert. Dadurch können diese Rätsel auch mit Hörbeeinträchtigung gelöst werden.

Sicherlich ist ein Escape Game nicht mit einem Konzert- oder Opernbesuch gleichzusetzen. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Erweiterung des Programms, ein digitales Angebot zusätzlich zum traditionellen Spielplan. Als Mischung zwischen Theaterführung und interaktiver Auseinandersetzung mit der Produktion von Konzerten und Vorstellungen bieten beide Spielvarianten aber einen unterhaltsamen Einblick hinter die Kulissen – und sind so auf jeden Fall empfehlenswert, finden wir. Ob man Opernfan oder Musiktheater-Neuling, Escape-­Game-Profi oder Rätsel-Enthusiast ist, ist nicht so wichtig – beim Unterhaltungswert kommen alle auf ihre Kosten.

AUF EINEN BLICK

„Nachts in der Oper“ Staatsoper Stuttgart

• 1 – 6 Spieler
• ca. 1,5 – 2,5 Stunden
• Sprache: Deutsch
• Preis: 15,99 €
• Schwierigkeitsgrad: 3,5 von 5
• Besonderheit: informativ, persönlich und ­authentisch
locqed.in


„Rette das Konzert“ – Elbphilharmonie Hamburg

• 1 – 4 Spieler
• ca. 45 Minuten
• Sprachen: Deutsch oder Englisch
• Preis: kostenlos
• Schwierigkeitsgrad: 3,5 von 5
• Besonderheit: spannende Handlung und tolle Grafik
escapegame.elbphilharmonie.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2023

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Gott erhalt’s!

Wie braut man eine Operette? Zur Uraufführung von Daniel Behles „Hopfen und Malz“ am Eduard-von-Winterstein-Theater

Wie braut man eine Operette? Zur Uraufführung von Daniel Behles „Hopfen und Malz“ am Eduard-von-Winterstein-Theater

von Stefan Frey

„Ich finde den Begriff Operette eigentlich sehr gut, weil er kontrovers ist. Sie ist satirisch, aber belehrt nicht, sondern verbirgt durch Oberflächlichkeit eine tiefere Schicht. Für mich hat das eine Subversivität, die es in der Oper nicht gibt. Es ist eine Form, Humor auf die Bühne zu bringen, auch blöden Humor. In der Oper gibt es keine richtige Lustigkeit, niemand hat den Mut, auch einen Kalauer zu vertonen. Aber in der Operette muss der Text griffig sein. Simple Reime, die aber einen Schmäh haben. Und wenn man dann noch eine turbulente Geschichte hat, mit vielen Verwirrungen, dann folgt die Musik von alleine.“

Tenor Daniel Behle weiß, was er will. Für ihn ist Operette nicht – wie bei den wenigen „Operetten-Uraufführungen“ der letzten Jahre – nur ein Etikett für mehr oder minder neutönerisches, komisches Musiktheater, für ihn ist es ein eigenes Genre mit eigenen Regeln. Und die nimmt er ernst, es soll schließlich auch nach Operette klingen.

Behle ist ein musikalischer Grenzgänger, hat nicht nur Gesang und Komposition studiert, sondern auch Posaune und Schulmusik. So vielseitig wie seine Ausbildung ist auch sein Schaffen. Er schreibt spätromantische Orchesterstücke, Hamburger Shanties und fiktive Richard-Strauss-Lieder. Und jetzt auch noch eine Operette. Sie heißt „Hopfen und Malz“, dreht sich ums Bierbrauen und wurde am 21. Januar 2023 in Annaberg-Buchholz uraufgeführt.

Ölsum oder Meersum: Wer braut das bessere Bier? (Foto Dirk Rückschloß/Pixore Photography)

Die Idee dazu kam Behle während einer „Arabella“-Vorstellung unter Christian Thielemann in Dresden. Der Gedanke, dass diese Musik eigentlich auch gut in eine Operette hineinpassen würde, ließ ihn nicht los und brachte ihn schließlich dazu, selbst eine zu schreiben. Und tatsächlich geistert Richard Strauss hörbar durch die Partitur von „Hopfen und Malz“, zumindest im Orchester – so, als habe Behle endlich die Operette geschrieben, die Richard Strauss immer schreiben wollte: Vergebens hatte er seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal davon zu überzeugen versucht, dass er „großes Talent zur Operette habe“ und „zum Offenbach des 20. Jahrhunderts berufen“ sei. Hofmannsthal schrieb stattdessen „Arabella“ – wahrscheinlich nur, um wiederum 100 Jahre später Daniel Behle auf die Idee zu bringen, selbst eine Operette zu schaffen. Dieser wiederum fand seinen Hofmannsthal im Schweizer Romancier Alain Claude Sulzer, der sich aber auf das Operetten­projekt des Komponisten einließ.

Unsinn mit Methode nach Wiener Art

Das Genre hat es Behle seit seinem Engagement an der Wiener Volksoper besonders angetan. Seinen Einstieg dort hatte er als Alfred in einer alten, schon etwas angestaubten „Fledermaus“-Inszenierung von Robert Herzl: „Das hat einfach Spaß gemacht, singen und nicht groß über das Warum nachdenken. Das war für mich sehr prägend. Ich finde, dass Operette, wie der Jazz ja auch, eine Wurzel hat. Und die ist für mich in Wien. Damals habe ich viel gelernt. Operette ist Musiktheater: Sprechen, singen und das Sujet sollte lustig sein oder wenigstens verwirrend – wie in der ‚Fledermaus‘. Warum funktioniert das? Klar, die Musik ist gigantisch, aber andererseits ist da auch die Thematik: Du hast einen Polizisten beleidigt, gehst dafür in den Knast, willst aber nicht – das ist so blöd, aber lustig und zeitlos. Ich finde auch Biertrinken zeitlos und deshalb sind wir darauf gekommen, das ist immer witzig.“

Denn darum geht es in „Hopfen und Malz“, ums Biertrinken und Bierbrauen. Und die Handlung ist tatsächlich lustig und verwirrend und spielt in den beiden norddeutschen Dörfern Meersum und Ölsum. Die wetteifern alljährlich um den ersten Preis beim regionalen Bierbrauwettbewerb. Seit Jahren gewinnt Horst Flens aus Ölsum. Und seit Jahren scheitert Max Fisch aus ­Meersum. Doch diesmal sind seiner Frau Letty vier ­Bayern im Traum erschienen. Sie verkünden ihr, der Mönch Theophil könne mit seinem Voodoo-Freibier ihrem Mann helfen, den Wettbewerb zu gewinnen. Und tatsächlich gibt der Mönch sein Geheimrezept preis: „Das Bier aus dem Kloster St. Demenz, jeder mag’s, keiner kennt’s.“

Richard Glöckner als Pilger Klaus (Foto Dirk Rückschloß/Pixore Photography)

Absurde Geschichten und simple Reime mit Schmäh als wesentliche Ingredienzen des Librettos entsprechen also durchaus ­Daniel Behles Reinheits-Gebot für Operetten. Und dieser Unsinn hat Methode, das verraten schon die Namen der Figuren. Da gibt es eine Senta und einen segelnden ­Holländer namens Bernd. Doch zusammen können sie nicht kommen, denn sie liebt die Berge (Senta ­Berger!), er die See. Als sie ihm einen Korb gibt, besingt er die „Wunde von Bernd“. Einer der vielen Lacher bei der Uraufführung in Annaberg-Buchholz. Bei Behle bekommt Senta also nicht den Holländer, sondern den ­Pilger Klaus: Senta Klaus! Und wo braut Max sein Freibier? In der Wolfsbucht.

In Daniel Behles Werk wimmelt es von Kalauern und Opern-Anspielungen, sowohl in den Gesangstexten als auch in der Musik. Ein Einfall jagt den nächsten, die Witze zünden, die Schlager auch, und doch wird letztlich keine Operette daraus. Dafür ist es zu überladen, dafür mischt Behle zu viele Opern-Anklänge in seinen wilden Stilmix. Dabei gibt es durchaus echte, wunderbar tänzerische Operetten-Nummern, sogar Musical-­Schmachtfetzen, aber eben auch Richard Strauss. Und ihm huldigt Behles Orchester allzu hingebungsvoll. Das macht es den Sängern schwer und deckt vor allem den Text zu, der ­Behle sonst so wichtig ist. Weniger wäre hier mehr. Das Publikum verstünde besser, was gesungen wird, und hätte auch mal Luft zum Nachsummen der durchaus vorhandenen Ohrwürmer. Denn Behle hat tatsächlich Talent für die Operette. Und er hat den in der seriösen Musik so seltenen Mut zum Gassenhauer.

Seine blühende Phantasie treibt auch im Libretto die buntesten Blüten, nur eine Geschichte erzählt sie nicht. Nicht einmal die Liebesgeschichte von Senta Klaus ist nach vielversprechendem Beginn von Bedeutung. Weder ­Familie noch Gesellschaft verhalten sich dazu. Überhaupt scheinen die Bewohner der beiden Dörfer Ölsum und Meersum keine anderen Probleme zu haben als ihren Bierbrauwettbewerb. Es bleibt aber sogar unklar, warum der so wichtig ist und wofür er überhaupt steht. Stattdessen gibt es ein Überangebot an skurrilen Nebenfiguren – angefangen beim Mönch Theophil, dem Sündensucher im Norden, bis hin zu Letty, der Lady Macbeth der Wolfsbucht. Schöne Episoden, die aber bei weitem keine dramatischen Situationen ergeben. Erst im großen Finale werden die vielen Handlungsstränge verdichtet – gekrönt vom Auftritt von Mama Cervisia, gesungen von Renate Behle, der Mutter des Komponisten.

Komponist Daniel Behle mit Librettist Alain Claude Sulzer (Foto Kostas Maros/LLH Productions)

Phantasie und der alte Zauber des Theaters

Die Aufführung in Annaberg-Buchholz macht das Beste aus dem Handlungs-Wirrwarr, bedient sowohl den Klamauk als auch die Poesie. Regisseurin ­Jasmin Solfaghari beherrscht ihr Handwerk und hat viele Ideen: Sie lässt ­Schafe singen, Bayern platteln und findet für jede Figur eine passende Haltung. Die bis ins kleinste Detail fantasievolle Ausstattung von Walter Schütze verleiht der Inszenierung zusätzlichen Reiz und manchmal sogar einen altmodischen Theaterzauber. Da vergisst man gern, dass das Ensemble des Eduard-von-­Winterstein-Theaters sängerisch bisweilen an seine Grenzen stößt und auch die Erzgebirgische Philharmonie Aue der Fülle des Wohlklangs à la Richard Strauss nicht immer gerecht wird. Das Publikum jedenfalls ist begeistert.

Am Morgen danach schreibt Daniel Behle auf seiner Facebook-Seite: „‚­Hopfen und Malz‘ entpuppt sich für mich nach dieser vom Publikum gefeierten Uraufführung als Zwitter zwischen Oper und Operette. Eine Erfahrung, die man am Schreibtisch nicht vorhersehen konnte.“ Für die geplanten Folgeproduktionen besteht also noch Hoffnung, dass Behle sich für die ­Operette entscheidet. Vor allem aber sollte er mit seinem Librettisten Alain Claude Sulzer beherzt den Rotstift zücken und die Lehren aus dieser Feuerprobe in Annaberg-­Buchholz ziehen. Es lohnt sich, denn „Hopfen und Malz“ ist noch lange nicht ausgegoren.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Die Diplomatie der Menschlichkeit

Das Israelische Staatsorchester zu Gast in Abu Dhabi

Das Israelische Staatsorchester zu Gast in Abu Dhabi

von Iris Steiner

Noch vor sieben Jahren hätte der Dirigent mit israelischem Pass nicht einmal einreisen dürfen nach Abu Dhabi – im vergangenen Dezember kam Lahav Shani zum ersten Mal und brachte gleich das ganze Staatsorchester mit. Der Nachfolger von Zubin Mehta in dieser Funktion und designierter Chef der Münchner Philharmoniker dirigierte an diesem Abend des 20. Dezember 2022 – der neue Fußball-Weltmeister Argentinien verlässt gerade Katar – 600 km weiter und weitaus weniger beachtet von der Weltöffentlichkeit ein politisch höchst bedeutendes Konzert. Während israelische Fußballfans nach Katar nur mit Ausnahmegenehmigung einreisen durften, spielte das 100-köpfige Israel Philharmonic Orchestra (IPO) vor illustrem Publikum im Konzertsaal des Emirates Palace. Einträchtig nebeneinander in der ersten Reihe: Staatschef Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan mit mehreren Ministern seines Kabinetts, Israels First Lady Michal Herzog und der erste jüdische Rabbi in den Vereinigten Abarischen Emiraten, Levi Duchman. „Ich muss Ihnen nicht sagen, was es für uns Israelis bedeutet, die Möglichkeit zu haben, einer arabischen Nation näher zu kommen“, schwärmt Shani. „Es fühlt sich nicht an wie ein 100-jähriger schwelender Konflikt, sondern nur wie ein Schritt dorthin, worauf wir alle seit vielen, vielen Jahren hoffen.“

Links Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan und Rabbi Levi Duchman im angeregten Pausengespräch. Rechts feierlicher Konzertbeginn mit den National­hymnen ­Israels und der VAE: Regierungschef Scheich Abdullah und Israels First Lady ­Michal ­Herzog umgeben von zahlreichen Würdenträgern (Fotos Nina Berger)

Jede Zeit ist eine gute Zeit für den Frieden

84 Jahre nach dem letzten Auftritt in ­Kairo – der israelische Staat existierte 1938 noch gar nicht – fand damit wieder ein Konzert des IPO auf arabischem Boden statt, zustande gekommen auf der Basis des 2020 unterzeichneten „Abraham-­Abkommens“ zwischen dem damaligen und aktuellen israelischen Ministerpräsidenten ­Benjamin ­Netanjahu, Scheich ­Abdullah und – Donald Trump. Im Mittelpunkt des Vertrags: der erklärte Wille zur Verbesserung der Beziehungen auf diplomatischer, wirtschaftlicher, ­militär- und kulturpolitischer Ebene. In ­Europa noch weitgehend unbeachtet, hatte dieses Abkommen nicht zuletzt die ­erste offizielle jüdische Gemeinde der ­Emirate sowie eine israelische Botschaft in Abu Dhabi zur Folge.

„Wir machen das auch für unsere Jugend“

Der deutsche Literaturwissenschaftler Dr. Ronald Perlwitz, Leiter des Musikprogramms im Kultur- und Tourismusministerium des Landes, sieht das historische Konzert der Israelis – abgesehen von ein paar diplomatischen Hürden im Vorfeld – als „gelebtes und gelungenes Ergebnis“ der Abraham-Vereinbarung. „Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die generelle Weltoffenheit. Klassische Musik ist universelle Kunst, wir möchten sie unseren Einwohnern näherbringen und holen dafür die besten Solisten und Orchester ins Land.“ Ebenfalls Teil der ­Vereinbarung sind ­Arbeitsproben des einheimischen Jugendorchesters mit den Musikern des IPO, da „ein ganz wichtiger Grund, warum wir das machen, auch die kulturelle und musikalischer Bildung unserer Jugend ist“, so Perlwitz. Man übernehme damit die Rolle europäischer Familientraditionen, Kinder in die klassische Musik einzuführen. Etwas, das in der arabischen Welt nicht unbedingt der Fall und in Europa ebenfalls rückläufig ist. „Wir finden es wichtig, den Musikkonsum von Jugendlichen über die reine Unterhaltungsfunktion hinauszuführen und ihnen zu zeigen, dass Musik auch Kunst sein kann.“

Ein in den Emiraten ­ungewohntes Bild: der Perkussionist des ­Orchesters mit der traditionellen ­jüdischen Kopfbedeckung Kippa (Foto Department of Culture and Tourism – Abu Dhabi / Abu Dhabi Culture)

2021 wurde Abu Dhabi von der ­UNECSO zur „City of Music“ ernannt. Ein Titel mit Verpflichtung. Perlwitz weiß um die vielen formellen Hürden schon bei der Bewerbung. „Unser wichtigstes Argument war wahrscheinlich, dass wir eine sehr tolerante Stadt mit vielen Nationalitäten sind, die hier gut zusammenleben. Wir möchten den Kontakt untereinander verstärkt auch durch unterschiedlichste Musik auf höchstem Niveau verbessern.“ Eine „arabische Version der Völkerverständigung“ nennt er das – mit für Europäer ungewohntem Blick auf die eigene Tradition. „Unsere Gesellschaft ist geprägt von der Universalität der Aufklärung, von der Dominanz der Vernunft: Alle müssen irgendwann vernünftig werden. Hier im arabischen Raum ist das anders. Es gibt starke Traditionen und eine tiefe Verankerung in der eigenen Identität. Aber auch den Wunsch, andere Lebensweisen kennenzulernen, in Dialog zu treten, sich auszutauschen – und beispielsweise zusammen zu musizieren.“

Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar seitens der westlichen Welt so stark in der Kritik stand, sieht der Deutsche, der seit 2006 in Abu Dhabi lebt und arbeitet, recht distanziert. „Wir kommen mit unseren Werten und erwarten, dass andere sie teilen – ein jahrhundertealtes europäisches Problem. So geht es aber nicht. In einer globalisierten Welt muss man lernen, andersdenkende Gesellschaften zu respektieren, auch wenn es das eigene Wertesystem infrage stellt. Und solange große westliche Modeketten in Bangladesch oder Indien zu Dumpinglöhnen produzieren lassen, wäre ich auch sehr vorsichtig mit Kritik an ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Wer sind wir, dass wir die Menschen hier so arrogant belehren?“

Normalität ist möglich

Dass der Dialog gerade auf kultureller Ebene tiefgreifende Ergebnisse erzielt, ist für Perlwitz einer der Gründe für den Erfolg von „Abu Dhabi Classics“. „Wir hatten vor einigen Wochen das Concertgebouw Orchestra ­Amsterdam hier, dann das Trio Joubran aus Palästina, einen Tag später das ägyptische Jazz-Trio Abozekrys, kurz darauf den größten indischen Sitar-Spieler, ­Shujaat Khan – und jetzt das IPO.“ Ohne die vorhandenen Spannungen zwischen Israel und der arabischen Welt zu leugnen, setzt er auf die verbindende Kraft der Musik: „Solche Konzerte wie dieses sind für mich ein starkes Zeichen für den Frieden und dass es eine Normalität ­geben kann.“

Lahav Shani (Foto Department of Culture and Tourism – Abu Dhabi / Abu Dhabi Culture)

Auf dem Programm steht Mahlers „Titan“-Sinfonie, benannt nach Jean Pauls gleichnamigem Roman und stark beeinflusst vom Zeitgeist der deutschen Romantik. Ein Werk, das besonders gut zum Orchester passt, wie ­Lahav Shani betont. „Mahler entstammte ja einer jüdischen Familie und zumindest in dieser Ersten Sinfonie hat ihn die jüdische Musik bis zu einem gewissen Grad beeinflusst. Wir wollten etwas mitbringen, von dem wir glauben, dass es die Geschichte des Orchesters in vielerlei Hinsicht erzählt.“ Literaturwissenschaftler Perlwitz sieht noch eine weitere Verbindung: „Mahlers Hommage an die deutsche Romantik zeigt, wie sehr dieses Gedankengut damals ein Universelles war: Du musst Deine Identität und Deine Wurzeln kennen und auf dieser Basis kannst Du mit anderen in Kontakt treten. Eine Denkweise, die der Kultur hier sehr nahe ist. Und wir Deutschen sollten uns gelegentlich mal daran erinnern.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Kunst als Mahnung

Oleksandr Rodins zeitgenössische Oper „Kateryna“ per Stream aus dem Opernhaus Odessa

Oleksandr Rodins zeitgenössische Oper „Kateryna“ per Stream aus dem Opernhaus Odessa

Wie soll man objektiv bleiben bei einer Opern-Uraufführung, deren reale Begleitumstände ähnlich ans Herz gehen wie das tragische Schicksal der Titelheldin? Ursprünglich geplant war die Premiere von Oleksandr Rodins „Kateryna“ in Odessa bereits für den 27. März 2022 – ein Unterfangen, das durch den russischen Angriffskrieg vereitelt wurde. Nicht zuletzt, weil zahlreiche Beschäftigte des Theaters sich freiwillig zum Militär meldeten. Andere Mitwirkende erzählen in den sozialen Medien Geschichten von Bombenangriffen, vor denen man in einem Bunker unterhalb des Theaters Schutz suchte. Drei Monate blieb es geschlossen, ehe man im Juni den Spielbetrieb allen Umständen zum Trotz wieder aufnahm. Die nachgeholte Uraufführung von „Kateryna“ am 17. September 2022 grenzte so fast schon an ein Wunder und war ein kleines Stück Normalität im Wahnsinn des Krieges. Vielmehr: Es wurde zum wichtigen Dokument ukrainischen Musiktheaters, von dem man sich nun auf digitalem Wege selbst ein Bild machen kann. Jetzt, zum Jahrestag des offiziellen Kriegsbeginns am 24. Februar, ging bei ARTE Concert die Aufzeichnung einer Folgevorstellung auf Sendung, abrufbar für drei Monate.

Die Geschichte hinter der Geschichte ist dabei natürlich nur schwer auszublenden. Schon die literarische Vorlage zu „Kateryna“ erzählt unterschwellig von der alles andere als unbelasteten Vergangenheit der beiden Länder. In seinem gleichnamigen Gedicht erzählt Taras Schewtschenko von einer jungen Ukrainerin, die sich in einen russischen Soldaten verliebt und später dessen Kind zur Welt bringt. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ist er schwer gezeichnet und weist Kateryna schroff zurück, die seine Reaktion als Verrat empfindet, daran zerbricht und schließlich Selbstmord begeht.

Komponist Oleksandr Rodin (*1975) verarbeitet dieses ebenso packende wie berührende Schicksal mit viel folkloristisch anmutendem Lokalkolorit, großen polyphonen Chortableaus und urwüchsig tönenden Naturbildern. Passend zur idyllischen Mitsommernacht, deren unwirkliche Stimmung in der eingängigen Partitur ebenso eingefangen wird wie die damit verbundenen heidnischen Rituale – in der Tradition der großen slawischen Komponisten Seite an Seite mit christlichen Motiven. Eine mehr als dankbare Aufgabe für Dirigent Vyacheslav Chernukho-Volich, der mit seinen Musikerinnen und Musikern im Graben einen großen emotionalen Bogen spannt, dabei hin und wieder auch die Grenzen zum Kitsch überschreitet, mit diesen bewusst ins Überlebensgroße gesteigerten Momenten aber stets der Geschichte treu bleibt.

Die größte Produktion des Hauses seit der Ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 (Foto Odessa National Opera/Dmytro Skvortsov)
Die größte Produktion des Hauses seit der Ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 (Foto Odessa National Opera/Dmytro Skvortsov)

Nachdem sich der Vorhang öffnet, beschwören flirrende Streicher, begleitet von Glockenspiel und Harfenakzenten eine geradezu traumhafte Atmosphäre herauf. Ergänzt um einige vom Komponisten selbst gebaute Instrumente, mit denen er Klangphänomene wie das Schmelzen von Eis hörbar machen will. Zugewiesen sind diese überwiegend den klassischen Figurentypen des Wandertheaters, das in der Ukraine unter dem Namen „Vertep“ bekannt ist. Und so begegnet man in der ebenfalls heimatverbundenen Inszenierung von Oksana Taranenko zunächst einer fahrenden Truppe, die Katerynas Geschichte zur Aufführung bringt. Wobei sich neben dem tragischen Protagonisten-Paar auch Engel, Teufel, eine Hexe und die allegorische Figur des Todes gesellt, dem Christian Nikulytsya die notwendige Autorität verleiht. Dreh- und Angelpunkt des homogen besetzten Ensembles bleibt dabei immer Titelheldin Yulia Tereshchuk, die mit ihrem markant timbrierten Sopran ein anrührendes Rollenportrait zeichnet und Kateryna keineswegs nur als Opfer, sondern als ebenso vielschichtige wie selbstbewusste Frau auf die Bühne gestaltet.

Eine wichtige Produktion mit Signalwirkung, die eindrucksvoll beweist, über welches künstlerische Potenzial Odessa und die Ukraine verfügen. Gleichzeitig aber auch eine Ermahnung, dass der fast schon zum Alltag gewordene Krieg mit seinen Schreckensszenarien auf gar keinen Fall zur neuen Normalität werden darf. Mit den Worten von Taras Schewtschenko: Слава Україні!

Tobias Hell

kostenfreier Stream bis 26. Mai 2023 auf ARTE Concert

„orpheus“ in neuem Verlag

Unter dem verlegerischen Dach des Theaterverlags Friedrich Berlin machen wir uns auf zu neuen Zielgruppen

Unter dem verlegerischen Dach des Theaterverlags Friedrich Berlin machen wir uns auf zu neuen Zielgruppen

Anlässlich seines 50. Geburtstags macht sich der „orpheus“ ein besonderes Geschenk: Zum 1.1.2023 geht das traditionsreiche Magazin unter das Dach des renommierten Theaterverlags Friedrich Berlin und erscheint zukünftig mit der „Opernwelt“, „Theater heute“, „tanz“ und „Bühnentechnische Rundschau“ im Umfeld aufmerksamkeitsstarker Kulturmedien und Fachzeitschriften.

„Unsere Vision der vergangenen Jahre, ‚orpheus‘ als informatives Publikumsmedium rund um Oper und Musiktheater zu positionieren, ist aufgegangen“, freut sich Chefredakteurin Iris Steiner, zugleich Geschäftsführerin des Orpheus Verlags. „Jetzt erklimmen wir die nächste Stufe und erobern unter dem Stichwort ‚fachkundiges Infotainment‘ vom Augsburger Redaktionsstandort aus den breiten Markt begeisterter Musiktheaterfans im gesamten deutschsprachigen Raum.“ Auch unter neuem Herausgeber erscheint der „orpheus“ unverändert im Zwei-Monats-Rhythmus, das bewährte Team der Orpheus Verlags GmbH um Chefredakteurin Iris Steiner zeichnet auch zukünftig verantwortlich für redaktionelle Inhalte. Vor allem in den Bereichen Marketing und Kommunikation kann der Theaterverlag Friedrich Berlin mit vorhandenen strategischen Möglichkeiten und diversen Win-Win-Partnerschaften beim Ausbau des Magazins neue Akzente setzen. Zum zukunftsfähigen Erscheinungsbild des „orpheus“ setzt man dazu auch gemeinsam auf einen verstärkten, sanften Ausbau des digitalen Angebots.

„‚orpheus‘ ist eine wunderbare Ergänzung zu unseren bisherigen Titeln, insbesondere zur ‚Opernwelt‘“, so die Geschäftsführer des Theaterverlages Torsten Kutschke und Sönke Reimers. „Im Jahresblick gibt es kaum inhaltliche Überschneidungen bei Themen, beide Medien haben ihre eigene Handschrift, die sie auch beibehalten werden. Sie sind hoch anerkannt und haben über Jahre hinweg ihre jeweilige Leserschaft gefunden.“ 

Ambitioniertes Kleinod

Das Budapester „Haydneum“ bringt neuerdings Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit zum Klingen

Das Budapester „Haydneum“ bringt neuerdings Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit zum Klingen

von Tobias Hell

Die historisch informierte Aufführungspraxis gehört für die Meisterwerke des Barock heute ebenso zum guten Ton wie bei Komponisten vom Rang eines Mozart oder Beethoven. Waren es in den 1970er Jahren einzelne Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt, die wichtige Aufbauarbeit leisteten, haben sich inzwischen zahlreiche Originalklang-Ensembles und Festivals etabliert, die längst nicht mehr nur ein Spezialisten-Publikum anlocken. Ein neuer Anziehungspunkt ist das 2021 ins Leben gerufene „Haydneum“ in Budapest. Wobei der Namensgeber mit seinen Kompositionen zwar den Dreh- und Angelpunkt im Programm bildet, dieses jedoch keineswegs dominiert und es so, selbst für Kenner, immer wieder die eine oder andere Rarität zu entdecken gibt. Ein ambitioniertes Projekt, das sich nicht nur im jährlichen Herbstfestival, einem Festival für geistliche Musik sowie Kammermusik-Konzerten auf Schloss Esterházy in ­Fertőd ­manifestiert.

Dem künstlerischen Leiter Benoît Dratwicki und seinem Team geht es nicht einfach nur darum, internationale Künstlerinnen und Künstler für hochkarätige Konzerte nach Budapest zu holen. Sie wollen auch tief in die Musikgeschichte der Donau-Metropole eintauchen und gleichzeitig eine neue Generation dafür begeistern, sich mit alten Instrumenten und Spieltechniken auseinanderzusetzen. „Ungarn verfügte im 17. und 18. Jahrhundert über ein viel reicheres musikalisches Repertoire, als wir ursprünglich annahmen. Es gibt zahlreiche, nach wie vor wenig bekannte, ungarisch gebürtige oder ausländische Komponisten zu entdecken, die zwischen 1630 und 1830 hier wirkten. Diese Musik wieder zugänglich zu machen, ist der zweite Aufgabenbereich des Haydneums.“ Umso wichtiger ist daher die enge Kooperation mit der Nationalbibliothek, in deren Archiven zahlreiche Schätze liegen. Und es schwebt tatsächlich eine gewisse Ehrfurcht im Raum, wenn ­Dratwickis Kollegin Katalin Kim der zum Pressetermin geladenen Runde in andächtiger Stille Bücher mit historischen Bühnenbild-Entwürfen zeigt, Opern-Partituren mit persönlichen Korrektur-Einträgen von „Giuseppe Haydn“ oder handschriftliche Skizzen zu seinen für Esterházy geschaffenen Sinfonien und Oratorien.

Neben quellenkritischen Neuausgaben der Werke des Namenspatrons harren hier auch unzählige Kompositionen von Zeitgenossen wie Gregor Joseph Werner, Benedek Istvánffy oder Anton Zimmermann darauf, akribisch katalogisiert und anschließend ihrem Dornröschenschlaf entrissen zu werden. Ganz ähnlich der Arbeit, die der Palazzetto Bru Zane seit geraumer Zeit für die französische Oper der Romantik leistet. Nicht zufällig zählt der promovierte Musikwissenschaftler und zusätzlich an Cello und Fagott ausgebildete Benoît ­Dratwicki auch dort, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Alexandre, zu den kreativen Köpfen hinter den Kulissen. Und wie bei den in Venedig ansässigen Kollegen ist man auch beim Haydneum mit begleitenden CD-Produktionen um künstlerische Nachhaltigkeit bemüht.

(Foto Haydneum/Pilvax Films)

Gestern und heute

Alt und Neu liegen in Budapest oft nah beieinander. Und so lockt das Festival zwar mit authentischer Interpretation an historischen Orten, präsentiert sich anlässlich des Eröffnungskonzerts, das vom Ensemble Le Concert de la Loge aus Paris bestritten wird, aber genauso ­gerne im hochmodern ausgestatteten Művészetek ­Palotája, dem Palast der Künste, den die Ungarn selbst gerne der Einfachheit halber nur kurz „MüPa“ nennen und der Opernreisenden vor allem durch die jährlich stattfindenden Wagner-Aufführungen von Ádám Fischer ein Begriff sein dürfte. Und ein bisschen Opernmusik findet sich dann natürlich ebenfalls im Programm des aktuellen Herbstfestivals – gleich am ersten Abend mit den Ouvertüren zu Salieris „Les Horaces“ oder Cherubinis „Démophon“. Während das jedoch nicht mehr als kleine Appetithappen sind, lässt sich zum Festival-Finale im prunkvollen großen Saal der Liszt-Akademie Haydns selten gespielte Oper „L’isola disabitata“ – leider nur in konzertanter Form – kennenlernen. „Das ist immer auch eine finanzielle Frage. Eine szenische Produktion braucht längere Vorbereitung und kostet auch mehr Geld“, erzählt Dirigent György Vashegyi zwischen den Proben. „Aber natürlich wäre es schön, auch einmal eine szenische Oper zu zeigen. Wenn sich zum Beispiel die Staatsoper für eine Kooperation begeistern lassen könnte, wären wir die letzten, die Nein sagen würden.“

Das Interesse am historisch informierten Klang wurde bei Vashegyi einst vor allem durch Helmuth Rilling geweckt, den er als 16-Jähriger erstmals bei einem Konzert in Budapest live erlebte und später im Rahmen mehrerer Meisterkurse auch als Pädagogen kennenlernen durfte. Ähnlich prägend die Begegnung mit John Eliot Gardiner. Dessen Bach-Interpretationen hinterließen tiefen Eindruck beim jungen Studenten und führten schließlich dazu, dass Vashegyi 1990 seinen Purcell ­Kórus (Purcell Chor) gründete und ein Jahr später mit dem Orfeo Zenekar (Orfeo Orchester) einen zweiten Klangkörper ins Leben rief, mit dem er sich auf die Musik des Barock und der Wiener Klassik spezialisierte – seit 1994 komplett auf historischem Instrumentarium. Dass man die ersten Jahre ohne externe Finanzierung oder staatliche Förderung überlebte, mutet rückblickend fast schon wie ein kleines Wunder an, bestärkt den Dirigenten aber in seinem Glauben an die Bedeutung des Projekts Haydneum.

Auch Vashegyi hat mit seinen Ensembles bereits in der Vergangenheit immer wieder Raritäten zutage gefördert und auf Tonträger dokumentiert. So etwa Gregor Joseph Werners Oratorium „Der gute Hirt“ oder „Des Kaiser Constantin I. Feldzug und Sieg“ aus der Feder von Josephs jüngerem Bruder Michael Haydn. Und so versteht es sich beinahe von selbst, dass er und seine Klangkörper auch im Konzertprogramm des Herbstfestivals prominent vertreten sind.

Geschichtsträchtige Spielorte

Spannende Vergleiche erlaubt da beispielsweise ein Konzert mit dem Purcell Kórus in der zwischen 1725 und 1742 erbauten Universitätskirche: Gleich drei kurze Messen für die Fastenzeit von Michael Haydn stehen auf dem Plan, die sowohl an Komplexität als auch in Intensität der Interpretation stetig zunehmen und das prunkvolle barocke Ambiente durch ihre anrührende Schlichtheit kontrastieren.

Ähnlich geschichtsträchtig der Konzert-Ort des folgenden Abends, der Beethoven-Saal des ehemaligen Karmeliterklosters. Thronend auf dem Burgberg am rechten Ufer der Donau – und mit einem traumhaften Blick auf die Stadt – bewohnte hier unter anderem bereits im 13. Jahrhundert König Béla IV. seine Residenz in strategisch günstiger Lage, ehe 2017 der amtierende Ministerpräsident seinen neuen Amtssitz bezog. Aus rein musikhistorischer Sicht reizt aber wohl eher das ebenfalls hier beheimatete ehemalige Burgtheater, in dem schon Beethoven konzertierte und das in seiner nüchtern renovierten Form den Schauplatz für das Gastspiel der Musica Aeterna aus Bratislava bildet. Das Ensemble von Konzertmeister Peter Zajíček widmet sich dabei neben einem kleinen Abstecher zu Haydn vor allem der Musik seines Zeitgenossen Anton Zimmermann, hat aber im ersten Teil des Abends mit leichten Intonationstrübungen zu kämpfen und kann erst auf der Zielgeraden mit der Cassatio in G-Dur wieder Boden gutmachen.

Petra Somlai interpretiert bei einem charmant selbst moderierten Konzert Beethoven auf dem Hammerflügel (Foto Haydneum/Pilvax Films)

Altbekanntes in neuem historisch informiertem Gewand wartet wiederum im nach ­Georg Solti benannten Kammermusiksaal der Liszt-Akademie, wo Pianistin Petra ­Somlai ­Beethoven am Hammerflügel interpretiert, was sowohl der „Mondscheinsonate“ als auch der „Pathétique“ eine andere Aura verleiht – sofern man bereit ist, sich bei diesen Dauerbrennern des Klavierrepertoires von modernen Hörgewohnheiten freizumachen. Leichter ist der Zugang da schon bei der Haydn Sonate in D-Dur Hob XVI:42 oder ­Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, bei dem sich offenbar auch Tenor Zoltán ­Megyesi immer mehr von den Qualitäten des weicheren Originalinstruments überzeugen lässt und im Zuge dessen auch seinen dramatisch gestählten Stimmbändern lyrischere Nuancen abtrotzt.

Mit seiner reichen Theaterszene, architektonischen Sehenswürdigkeiten und der gehaltvollen Küche ist Budapest das ganze Jahr über eine Reise wert. Doch für entdeckungsfreudige Klassikfans empfiehlt es sich angesichts solch ambitionierter musikalischer Entdeckungstouren durchaus, den nächsten Besuch vielleicht einmal mit dem Spielplan dieses kleinen, aber feinen Festivals zu synchronisieren.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023

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Von künftigen Träumen

Klassik-Shootingstar Äneas Humm im Gespräch

Klassik-Shootingstar Äneas Humm im Gespräch

„Wunderkind“ und „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“: Der junge Schweizer Bariton Äneas Humm hat sich mit gerade einmal 27 Jahren auf dem hart umkämpften Sängermarkt etabliert. Ein Gespräch über Erwartungsdruck, eine Generation im Lockdown-Modus, die Liebe zum Lied und zur Heimat – und die ­Schattenseiten einer nach außen hin weltoffenen Branche

Interview Florian Maier

Mit nur 19 Jahren widmete Ihnen das Schweizer Fernsehen eine Reportage: „Ein Wunderkind wird ­erwachsen“. Ein Titel, mit dem Sie sich wohlfühlen?
Ich finde, da ist nichts Wahres dran. Wenn man „Wunderkind“ hört, dann denkt man an Mozart oder an ­Schubert – und von denen bin ich kilometerweit entfernt. (lacht) Das eigentliche Wunder war, dass ich eine so reiche Ausbildung genossen habe als Kind, angefangen bei meiner Zeit als Zürcher Sängerknabe bis hin zu Jugendmusikwettbewerben. Da steckt harte Arbeit dahinter. Und viel Glück. Deshalb finde ich es so wichtig, Kinder und Jugendliche musikalisch zu fördern, sei es im Pop oder in der Klassik. Das öffnet so viele Türen im Leben.

Und doch war da immer der Erwartungsdruck „Weltkarriere“. Wie geht man damit um?
Gar nicht – ich denke immer von Vorstellung zu Vorstellung.

Sie haben die harte Bühnenrealität in einem Alter kennengelernt, als andere noch neben der Schule ihre Freizeit genossen haben. Hieß das oft auch zurückstecken?
Als Sänger steckt man immer zurück: nicht feiern, nicht trinken, nicht zu viel Spaß haben. Aktuell habe ich fünf Vorstellungen mit drei Partien hintereinander. Das schafft man nur mit einem durchgetakteten Plan und Disziplin. Aber die Musik gibt einem so viel und das ist das Schöne.

Bleibt da noch Zeit für Hobbys?
Seit etwa einem Jahr treibe ich sehr viel Sport. Das Auspowern tut mir auch für die Bühne unglaublich gut. Und natürlich besuche ich sehr gerne meine Familie und treffe Freunde. Das ist ja das Tolle als Musiker: Egal wo man hinkommt, man kennt eigentlich immer jemanden.

Väterlicherseits bringt Ihre Familie seit Generationen Künstlerpersönlichkeiten hervor: Schriftsteller, ­Maler und Bühnenbildner, Schauspieler, Keramiker. War Ihr Weg quasi vorgezeichnet?
Geprägt hat mich das auf jeden Fall. Wobei selbst mein Großvater Ambrosius Humm, der in ganz Europa Bühnenbilder entworfen hat, nie sonderlich opernaffin war – da bin ich tatsächlich der Erste. (lacht) Aber natürlich wurde mir durch meine Familie sehr früh ganz generell der Zugang zu Theater, Kunst und Musik eröffnet.

Ein Plan B kam nie infrage?
Doch, aber der ist auch künstlerischer Natur. Ich denke jetzt noch nicht ans Aufhören, finde es aber wichtig sich zu fragen: Was würde ich machen, wenn es plötzlich nicht mehr weitergehen sollte mit dem Gesang? Dann würde ich eines Tages gern die Seiten wechseln, weil ich mich wahnsinnig für künstlerische Planung, Operndirektion und Casting interessiere.

Schätzen Sie Ihre Laufbahn in dieser Hinsicht als Vorteil ein?
Eigene Bühnenerfahrungen halte ich bei Casting-Direktoren nie für verkehrt. Jemand plant ganz anders, wenn er weiß, wie es ist, so oft aufzutreten, und welche Regenerationszeiten man beachten sollte.

Die Opernhäuser dürfen für die nächsten Jahrzehnte also schon mal ihre Kalender zücken?
Sehr gerne. (lacht)

Von künftigen Träumen zurück zum aktuellen Aufbau Ihrer Karriere: Wurde diese durch Corona ausgebremst?
Ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen das Glück, während all der Lockdowns fest engagiert gewesen zu sein. Aber der größte Rückwurf passierte tatsächlich während meiner Zeit in Weimar, als mich der damalige Operndirektor anrief: „Äneas, es tut mir leid, aber wir müssen die ‚Così‘ komplett absagen.“ Ich habe das erst nicht realisiert, dachte, es ginge um zwei oder drei Vorstellungen. Ein paar Minuten später meldete er sich direkt noch einmal: „Achja, ‚Ariadne‘ ist abgesagt, ‚West Side Story‘ auch – es ist alles abgesagt.“ Da habe ich ihn gefragt, was ich denn jetzt bitte noch machen soll. Und er meinte nur: „Ich weiß es auch nicht. Fahr nach Hause …“

Und dort?
Ich habe versucht, meine Stimme fit zu halten, viel geübt, über Zoom Unterricht bei meinem Lehrer genommen.

Und Sie sind mitten in der laufenden Spielzeit 2019/20 nach Karlsruhe gewechselt.
Genau. In Weimar wurde alles abgesagt und was in meiner zweiten Saison gekommen wäre, war überhaupt nicht klar. Ich habe also um Vertragsauflösung gebeten und konnte in Karlsruhe an einem größeren Haus den nächsten Karriereschritt mit sehr schönen Partien machen: „Die Zauberflöte“, „Don Pasquale“, „Die schweigsame Frau“, Schumanns „Faust“-Szenen. Abgesehen von „Don Pasquale“ musste zwar wieder ­alles abgesagt ­werden, aber das Einstudieren hat sich auf jeden Fall gelohnt.

In der laufenden Spielzeit ist Äneas Humm Ensemblemitglied am Theater St.Gallen und dort unter anderem als Dr. Falke im Johann-Strauss-Klassiker „Die Fledermaus“ zu erleben (Foto Ludwig Olah)

Erst Weimar, dann Karlsruhe, jetzt St. Gallen: sehr schnelle Schritte in Ihrem jungen Alter.
Ganz unabhängig von der Pandemie bin ich eigentlich immer wegen der mir angebotenen Partien gewechselt. Es gibt natürlich Stimmen, die meinten: „Das sieht nicht gut aus, dass du schon so oft das Haus gewechselt hast.“ Aber wegen Corona sind zwei Jahre verstrichen, in denen wichtige Erfahrungen ausgeblieben sind und das für eine sängerische Laufbahn nötige Rollenpaket nicht wirklich erarbeitet werden konnte. In zehn Jahren wird man das in vielen Lebensläufen merken, wenn man die nächsten Schritte nicht jetzt plant. Als dann der St. ­Galler Operndirektor Jan Henric Bogen mit dem Angebot auf mich zukam, eine Spielzeit hier Ensemblemitglied zu werden und unter anderem den Papageno und Dr. Falke zu singen, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.

Und was kommt danach?
Ab der kommenden Saison werde ich freischaffend sein. Eine Entscheidung, die ich in den letzten Wochen gefällt habe. Man hat in einem Festvertrag das Glück, „durchbezahlt“ zu werden, aber natürlich auch die Verpflichtung, immer auf Abruf zu sein. Das ist mit einer Karriere, die sicherlich zur Hälfte konzerttätig ist, sehr schwer zu vereinbaren. Im Sommer gebe ich meine Debüts beim Heidelberger Frühling und beim Lucerne Festival und kehre dann als Agrippa in John Adams’ neuester Oper „Antony and Cleopatra“ ans Gran Teatre del Liceu zurück – Adams selbst dirigiert. Daneben sind Hausdebüts an der Staatsoper Hamburg und dem MusikTheater an der Wien sowie einige schöne Liederabende und Konzerte geplant. Ich freue mich also auf diverse neue Herausforderungen.

Sie sprechen es an: Abseits der Opernhäuser trifft man Sie auch regelmäßig in den Konzertsälen an, wo Sie sich dem Lied widmen. Ihre zweite Leidenschaft?
Absolut! Wenn man so jung anfängt zu studieren wie ich, ist der ganze Körper ja noch im Wachstum. Und man selbst immer ein bisschen „in Warteschleife“, weil man nie weiß, wann sich die Stimme wirklich gesetzt hat und man endlich richtig loslegen kann. Viele Arien waren in dieser Zeit einfach noch nicht möglich, Lieder aber schon. Daraus hat sich dann eine langjährige Liebe entwickelt.

Die jetzt mit einem OPUS Klassik als „Nachwuchskünstler des Jahres“ für Ihre CD „Embrace“ – ein klug konzipiertes Programm mit Liedern von Fanny ­Hensel, Franz Liszt, Viktor Ullmann und Edvard Grieg – belohnt wurde. Waren Sie überrascht?
Mich haben zuvor ein paar befreundete Intendanten angerufen, die meinten: „Du bist in drei Kategorien nominiert, da gewinnt man immer eine.“ Ich wollte mir trotzdem nicht zu viele Hoffnungen machen. Man kennt den OPUS als die große, abendfüllende, opulente Sendung, bei der immer bekannte Gesichter ausgezeichnet werden. Als dann mein Label anrief und mir die Nachricht mitgeteilt hat, habe ich nur gefragt: „Was? Ich? Haben die meine CD auch wirklich gehört?“ (lacht)

Seine Liebe zum Liedgesang brachte Humm 2022 die Ehrung als „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“ ein (Foto Markus Nass)

Gibt es gesangliche Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Eines meiner größten Vorbilder ist Renée Fleming. Sie hat eine Karriere gemacht, wie sie im Buche steht: alle Genres, immer gepflegt, immer wunderbar gesungen. Oder auch Hermann Prey. Der hatte eine ganz andere Stimme als ich und ich will ihn überhaupt nicht kopieren. Aber ich finde es wahnsinnig beeindruckend, wie eine so schwere Stimme auch so liebevoll klingen kann.

Nun treffen wir uns hier gerade in St. Gallen, Ihrer aktuellen Wirkungsstätte. Und nicht einmal 200 km weiter wird Regula Mühlemann am Theater Basel im Januar ihre erste Gilda singen. Bleiben Schweizer Klassikstars denn gern daheim?
(lacht) Ich bin jemand, der es liebt, daheim zu sein. Das ist auch etwas, was ich an diesem Leben nicht mag: das ständige Unterwegs-Sein. Regula geht es da vielleicht ähnlich. Und das Publikum freut sich, weil sie Leute sehen, die sie kennen. Was vielleicht bei all den leidigen politischen Diskussionen um Subventionskürzungen für die Kultur auch einen positiven Identifikationseffekt haben kann.

Sind denn die Folgen der Pandemie kulturpolitisch auch hier schon spürbar?
Leider ja. Gerade bei kleinen Veranstaltern, aber auch bei den großen Häusern sinken die Etats und damit auch die Gagen für die Musikerinnen und Musiker. Als Beispiel: Die St.Galler Festspiele finden künftig nur noch alle zwei Jahre im Stiftsbezirk statt, dazwischen in kleinerer Form außerhalb der Stadt – warum auch immer. Meiner Meinung nach sollten wir gerade jetzt in Kultur investieren und sie dem Publikum durch günstigere ­Tickets zugänglicher machen …

Auf Ihren Social-Media-Kanälen haben Sie kürzlich auch die Vorurteile angeprangert, Sie seien „zu schwul“ und zu „groß“ für die Oper. Diese Aussagen haben mich überrascht, weil sich doch gerade die Theaterbranche sehr weltoffen gibt und nach außen immer für Toleranz eintritt. Haben Sie da andere Erfahrungen gemacht?
Man erlebt leider sehr viel – auch Kritik, die über das Fachliche hinausgeht … Es gab immer wieder Personen in Vorsingen, die wegen meiner sexuellen Ausrichtung zu mir gesagt haben: „Sie müssen lernen, wie ein Hetero-­Mann über die Bühne zu laufen.“ Oder: „Sie sind zu groß, Sie werden nie einen Papageno singen“ – nur weil ich eine Körpergröße von 1,96 m habe. Als ich mich in unserer Inszenierung von Joseph Bolognes „L’amant anonyme“ in Frauenkleidern auf der Bühne bewegen sollte, dachte ich nur: Zum Glück habe ich nicht auf diese Leute gehört. Als junger Mensch ist solche vorurteilsbehaftete Kritik nicht leicht wegzustecken – Gott sei Dank habe ich es geschafft, zu mir selbst zu stehen!

Sind das Einzelfälle oder würden Sie die Klassikszene als verkappt diskriminierend einstufen?
Ich glaube, in jeder Branche steckt das traurige Poten­zial zu Diskriminierung. Dazu gehören die Menschen, die darin arbeiten, bis zu denjenigen, die von außen dazustoßen. Die Oper ist in meinen Augen gerade wirklich in einem Wandel, wo Diskriminierung endlich immer mehr hinter uns gelassen wird. Aber es braucht Intendantinnen und Intendanten, die vehement gegen so etwas vorgehen und ein diverses Ensemble auf die Bühne und damit auch in die Gesellschaft stellen, sodass wir uns selbst in den Opern und Theatern wiedererkennen können.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023

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Zum Tod von Franz Hummel

Musikalischer Nachruf auf einen, der in keine Schublade passen wollte

Musikalischer Nachruf auf einen, der in keine Schublade passen wollte

Generell bieten die Sinfoniekonzerte der Meininger Hofkapelle viel Zeitgenössisches. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Werken, die hohen kompositorischen Standard mit Vorliebe für tonale und freitonale Strukturen vereinen. Zum Beispiel Kompositionen von Thomas Adès, Peter Ruzicka, Peter Leipold oder Detlev Glanert, dessen „Frenesia“ aus dem 2. Sinfoniekonzert „Leidenschaften“ zu Beginn dieser Spielzeit herausgenommen wurde. Denn am 20. August 2022 war der durch Opern wie „Gesualdo“ (Kaiserslautern 1996), „Der Richter und sein Henker“ (Erfurt 2008) oder „Zarathustra“ (Regensburg 2010) bekannte Komponist und Pianist Franz Hummel im Alter von 83 Jahren gestorben. Nun galt es, ihn mit einer Programmänderung zu würdigen.

Jens Neundorff von Enzberg, als Intendant 2021 vom Theater Regensburg an das Staatstheater Meiningen gekommen, schätzte in Hummel einen intelligenten und experimentierfreudigen Grenzgänger zwischen Stilen und Genres, dessen Musical „Ludwig II. – Sehnsucht nach dem Paradies“ er in Regensburg erstmals an ein Subventionstheater gebracht hatte. Auch den Kompositionsauftrag zum 2016 vom Philharmonischen Orchester Regensburg uraufgeführten Klavierkonzert Nr. 2 „Krieg und Frieden“ hatte Neundorff von Enzberg erteilt. Hummels Stiefsohn Yojo Christen spielte den Solopart nach Regensburg auch in Meiningen, die Witwe und künstlerische Nachlassverwalterin Susan Oswell besuchte das Konzert.

Hummels Opus, das im Titel mit der an den Beginn gesetzten Ouvertüre zu Sergej Prokofjews Tolstoj-Oper „Krieg und Frieden“ korrespondiert, stand zwischen zwei queeren Klangikonen des Konzertrepertoires: dem schon lange zum Kultstück gewordenen Adagio für Streicher op. 11 von Samuel Barber und Tschaikowskis sechster Sinfonie h-moll op. 74. Christen verbarg die beträchtlichen Schwierigkeiten von Hummels Partitur hinter spielerischer Leichtigkeit und artistischer Bravour. Den letzten Satz des halbstündigen Konzertstücks hatte Christen selbst komponiert und diesem so einen nur vermeintlich burlesken Abschluss gegeben, der Ernst mit Exaltation camoufliert. Hummels Einstieg in den Kopfsatz „Patriotischer Aufmarsch und Schlacht“ flirtet unverhohlen mit dem Beginn von Tschaikowskis b-Moll-Klavierkonzert, nimmt danach allerdings ganz andere Wendungen. Die Streicher eilen mit Fluten und Böen durch die fülligen und scherzo-artigen Attacken. Der Piano-Part durchmisst alle Affekte fast ohne Innehalten und wendet sich mit fintenreicher Hymnik an die Hörer. Die Meininger Hofkapelle unter GMD Philippe Bach nahm die gestenreiche wie dramatisch sprunghafte Partitur als leichtfertige Leistungsschau und lässig bewältigten Präzisionsnachweis. Das hätte auch Franz Hummel gefallen.

Roland H. Dippel

Ein ausführliches Porträt zu Franz Hummel erscheint in unserer Ausgabe Januar/Februar 2023.

No Business Like Show Business

Der Musical-Studiengang der Theaterakademie August Everding feiert sein 25-jähriges Jubiläum

Der Musical-Studiengang der Theaterakademie August Everding feiert sein 25-jähriges Jubiläum

von Tobias Hell

Ein Ort der Begegnung und des künstlerischen Austauschs: Das war es, was August Everding bei der Gründung der mittlerweile nach ihm benannten Theaterakademie vorschwebte. Keine Ausbildung in der eigenen Blase, sondern ein praxisnahes Arbeiten von insgesamt acht Studiengängen, vereint unter dem Dach des Münchner Prinzregententheaters. Fester Bestandteil ist seit mittlerweile 25 Jahren auch das Genre ­Musical, das trotz der Prägung durch Schauspiel-Legende Fritz ­Kortner oder Everdings Regiearbeiten an der New ­Yorker Met und bei den Bayreuther Festspielen stets zu dessen heimlichen Leidenschaften zählte.

Ein Erbe, das die frisch von Berlin nach München gewechselte, neue Präsidentin der Theaterakademie Prof. Dr. Barbara Gronau weiter pflegen will: „Ich bin ein großer Fan des Musicals, weil es eine Theaterform ist, die zu großen Emotionen verführen kann.“ Auf gängige Klischees lässt sich das Genre Musical längst nicht mehr reduzieren. Denn auch das Schauspiel hat die Musik als Gestaltungsmittel entdeckt, was die Grenzen zwischen den Gattungen immer durchlässiger werden lässt. „Unsere Studierenden sind eine neue Generation mit eigener Prägung und eigenen Ideen, die wir dazu ermutigen wollen, das Theater der Zukunft aktiv mitzugestalten.“ Das setzt natürlich eine solide Basis voraus, ebenso wie den Dialog mit denen, die bereits im Beruf stehen. „Was mir hier in München besonders auffällt ist, dass die Theaterakademie eine unglaublich starke Alumni-Arbeit quer durch alle Studiengänge leistet. Dadurch ist ein Netzwerk entstanden, das nicht zu unterschätzen ist. Vor allem im Musical, das meist kein fester Bestandteil der Staats- und Stadttheater ist.“

Prof. Dr. Barbara Gronau und Marianne Larsen
Prof. Dr. Barbara Gronau (links) und Marianne Larsen wollen die Studierenden mit einer praxis­nahen Ausbildung fit fürs Berufsleben machen (Fotos Marie-Laure Briane, Christian Hartmann)

Trotzdem oder gerade deswegen fällt auch die Bilanz von Musical-Studiengangsleiterin Marianne Larsen durchaus positiv aus. Die aus Dänemark stammende Sängerin, die in ihrer Karriere stets souverän zwischen Oper, Operette und Musical pendelte und den Theaterbetrieb von beiden Seiten kennt, war seit Gründung des Studiengangs als Dozentin aktiv und übernahm schließlich 2012 in Nachfolge von Georg Malvius und Vicki Hall die Leitung. „Ich besuche beruflich viele Premieren in ganz Deutschland und treffe dort fast immer bekannte Gesichter. Ich bin sehr froh zu sehen, dass viele unserer Leute noch immer gut im Geschäft sind. Oder teilweise auch ‚schon‘ im Geschäft – gerade die beiden letzten Jahrgänge, die durch Corona schwer geschädigt wurden. Aber selbst da sind viele inzwischen bis weit ins nächste Jahr hinein ausgebucht. Das beruhigt sehr.“

Von neuem Mut und Privilegien

Grund dafür mag sein, dass auch an so manchen Staats- und Stadttheatern inzwischen ein Umdenken stattgefunden hat. Denn wo früher eher Klassiker wie „My Fair Lady“ oder „Cabaret“ auf dem Spielplan standen, die sich zur Not auch achtbar mit Opernsängerinnen und Schauspielern besetzen lassen, sind viele Theater mittlerweile bei der Stückauswahl etwas mutiger geworden.

Was aber noch wichtiger ist: Die Theater holen dafür endlich auch Musical-Profis. Und dies nicht nur als Gäste, sondern zuweilen sogar als Allzweckwaffen im Ensemble. Von ihren ehemaligen Schützlingen nennt Marianne Larsen unter anderem Patrizia Unger, die am Salzburger Landestheater neben Musical-Rollen auch im Schauspiel überzeugte, oder die frisch ans Theater Regensburg verpflichtete Fabiana Locke.

Armin Kahl
Armin Kahl (Foto Alexander Moitzi)

Das gleiche gilt für Armin Kahl, der 2004 seinen Abschluss machte und nach zahlreichen Long-Runs in Wien, Hamburg oder Stuttgart aktuell zum Ensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz zählt und damit in seine alte Münchner Wahlheimat zurückkehrte. Wenn Kahl sich an seine Studienzeit erinnert, kommt auch bei ihm schnell die Rede auf die von Marianne Larsen als Wendepunkt bezeichnete „On the Town“-Inszenierung von Regisseur Gil Mehmert. „Das war schon eine Hausnummer. Es war eine der ersten großen Produktionen, bei der mein Jahrgang damals mit auf die große Bühne durfte. Und das fand ich immer mega an der Theaterakademie, dass man hier ein Haus wie das Prinzregententheater hat und dazu noch das kleinere Akademietheater. Da gab es unglaublich viele Spielmöglichkeiten, um sich auszuprobieren.“ Ergänzt durch regelmäßige Kooperationen mit Häusern wie den Theatern von Nürnberg, Fürth, Augsburg, Bamberg oder Erfurt, an denen sich Kahl und die anderen Studierenden im professionellen Umfeld beweisen mussten. „Es ist ein Privileg, wie berufsnah man hier arbeiten kann und darf. Das hat mir auch geholfen, als ich unmittelbar nach dem Studium ein Engagement als Sky bei ‚Mamma Mia!‘ in Stuttgart bekam. Da hat mich das riesige Haus nicht ganz so erschlagen wie manch andere, die auch frisch von der Schule kamen. Weil ich eben das ‚Prinze‘ gewohnt war.“

Frischer Wind und viele Ziele

Nach fast zwei Jahrzehnten im Beruf merkt auch Armin Kahl, dass sich viel in der hiesigen Musical-Szene getan hat. Waren es auf Seite der Lehrenden früher meist Quereinsteiger aus Oper, Ballett und Schauspiel oder Profis aus England und den USA, ist mittlerweile eine Generation deutscher Darstellerinnen und Darsteller herangewachsen, die genau wie er eigene Erfahrungen in Workshops an den Nachwuchs weitergeben. „Unsere Ausbildung an der Theaterakademie war sehr breit gefächert. Und darauf kann man mit Recht stolz sein, weil einem leider oft immer noch die alten Vorurteile begegnen, dass man als Musicaldarsteller zwar alles ein bisschen, aber nichts richtig kann. Gerade wenn man mit Opernleuten arbeitet. Aber wenn die Proben dann erst einmal laufen, kommt meistens doch schnell ein wertschätzendes ‚Cool, was ihr da macht‘. Man muss einfach auf beiden Seiten offen sein und anderen mit Respekt begegnen.“

Musical ist ein breit gefächertes Genre. Mal steht der Tanz im Vordergrund, mal muss eine Geschichte ganz ohne Dialoge einfach nur durch Songs erzählt werden. Und wo das eine Stück stimmlich einen klassischen Background verlangt, haben andere ihre Wurzeln im Punkrock oder im deutschen Schlager. Will man sich da behaupten, ist in der Ausbildung vor allem Vielseitigkeit gefragt. Aber auch die Förderung individueller Stärken, wie Marianne Larsen bekräftigt. „Natürlich ist es bei der Aufnahmeprüfung wichtig, dass man ein gewisses Potenzial erkennt. Aber manchmal merkt man danach eben erst im Laufe des Studiums, wohin die Reise geht und welche anderen Talente womöglich noch in einem Menschen stecken.“

Und so findet sich unter den Musical-Alumni der Theaterakademie neben TV-Kommissar Tom Beck, Chansonnier Valdimir Korneev oder Schlager-Sängerin Ella Endlich auch Miriam Clark, die nach ihren Musical-Anfängen inzwischen bei Bellinis „Norma“ angekommen ist und international mit Partien von Giuseppe Verdi oder Richard Strauss reüssiert. Natürlich aber vor allem zahlreiche Namen, die heute aus der deutschen Musical-Szene nicht mehr wegzudenken sind. Größen wie Roberta Valentini, Milica Jovanović, Patrick Stanke oder eben Armin Kahl.

on the town
„On the Town“ war 2002 eine Bewährungs­probe für den Münchner Musical-Nachwuchs und wurde schließlich zum umjubelten Highlight der Ära von Vicki Hall (Foto Lioba Schöneck)

Vom Geheimtipp zum Coup

Auch die Produktionen des Studiengangs sind längst mehr als ein Geheimtipp in der Szene. Nicht zuletzt, weil Marianne Larsen immer wieder auf Stücke abseits des Standardrepertoires setzt, stets zugeschnitten auf die Stärken des jeweiligen Jahrgangs. Und das Können ihrer Studierenden scheint auch bei den Verlagen angekommen zu sein. Sie vertrauten der Theaterakademie unter anderem die deutschen Erstaufführungen von Rodgers & Hammersteins „­Cinderella“ oder Andrew Lippas „Big Fish“ an, wobei letztere Produktion im Anschluss an die Münchner Premiere noch am Musiktheater im ­Revier Gelsenkirchen mit ähnlichem Erfolg gezeigt wurde.

Für die Jubiläumssaison ist Larsen mit der kontinentaleuropäischen Premiere von Shaina Taubs gefeierter Shakespeare-Vertonung „Twelfth Night“ nun erneut ein echter Coup gelungen. „Ich freue mich sehr, dass wir damit ein Musical einer spannenden jungen Komponistin zeigen können. Vor allem, weil das Stück nicht nur gute Musik hat, sondern mit dem Geschlechtertausch auf der Bühne gleichzeitig auch die aktuelle Diskussion um Gender und Diversity aufgreift.“ Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass sich Unterhaltung und Tiefgang im Musical keineswegs ausschließen und auch in diesem Genre die Grenzen immer wieder neu ausgelotet werden.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2022

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