Wie soll man objektiv bleiben bei einer Opern-Uraufführung, deren reale Begleitumstände ähnlich ans Herz gehen wie das tragische Schicksal der Titelheldin? Ursprünglich geplant war die Premiere von Oleksandr Rodins „Kateryna“ in Odessa bereits für den 27. März 2022 – ein Unterfangen, das durch den russischen Angriffskrieg vereitelt wurde. Nicht zuletzt, weil zahlreiche Beschäftigte des Theaters sich freiwillig zum Militär meldeten. Andere Mitwirkende erzählen in den sozialen Medien Geschichten von Bombenangriffen, vor denen man in einem Bunker unterhalb des Theaters Schutz suchte. Drei Monate blieb es geschlossen, ehe man im Juni den Spielbetrieb allen Umständen zum Trotz wieder aufnahm. Die nachgeholte Uraufführung von „Kateryna“ am 17. September 2022 grenzte so fast schon an ein Wunder und war ein kleines Stück Normalität im Wahnsinn des Krieges. Vielmehr: Es wurde zum wichtigen Dokument ukrainischen Musiktheaters, von dem man sich nun auf digitalem Wege selbst ein Bild machen kann. Jetzt, zum Jahrestag des offiziellen Kriegsbeginns am 24. Februar, ging bei ARTE Concert die Aufzeichnung einer Folgevorstellung auf Sendung, abrufbar für drei Monate.

Die Geschichte hinter der Geschichte ist dabei natürlich nur schwer auszublenden. Schon die literarische Vorlage zu „Kateryna“ erzählt unterschwellig von der alles andere als unbelasteten Vergangenheit der beiden Länder. In seinem gleichnamigen Gedicht erzählt Taras Schewtschenko von einer jungen Ukrainerin, die sich in einen russischen Soldaten verliebt und später dessen Kind zur Welt bringt. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ist er schwer gezeichnet und weist Kateryna schroff zurück, die seine Reaktion als Verrat empfindet, daran zerbricht und schließlich Selbstmord begeht.

Komponist Oleksandr Rodin (*1975) verarbeitet dieses ebenso packende wie berührende Schicksal mit viel folkloristisch anmutendem Lokalkolorit, großen polyphonen Chortableaus und urwüchsig tönenden Naturbildern. Passend zur idyllischen Mitsommernacht, deren unwirkliche Stimmung in der eingängigen Partitur ebenso eingefangen wird wie die damit verbundenen heidnischen Rituale – in der Tradition der großen slawischen Komponisten Seite an Seite mit christlichen Motiven. Eine mehr als dankbare Aufgabe für Dirigent Vyacheslav Chernukho-Volich, der mit seinen Musikerinnen und Musikern im Graben einen großen emotionalen Bogen spannt, dabei hin und wieder auch die Grenzen zum Kitsch überschreitet, mit diesen bewusst ins Überlebensgroße gesteigerten Momenten aber stets der Geschichte treu bleibt.

Die größte Produktion des Hauses seit der Ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 (Foto Odessa National Opera/Dmytro Skvortsov)
Die größte Produktion des Hauses seit der Ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 (Foto Odessa National Opera/Dmytro Skvortsov)

Nachdem sich der Vorhang öffnet, beschwören flirrende Streicher, begleitet von Glockenspiel und Harfenakzenten eine geradezu traumhafte Atmosphäre herauf. Ergänzt um einige vom Komponisten selbst gebaute Instrumente, mit denen er Klangphänomene wie das Schmelzen von Eis hörbar machen will. Zugewiesen sind diese überwiegend den klassischen Figurentypen des Wandertheaters, das in der Ukraine unter dem Namen „Vertep“ bekannt ist. Und so begegnet man in der ebenfalls heimatverbundenen Inszenierung von Oksana Taranenko zunächst einer fahrenden Truppe, die Katerynas Geschichte zur Aufführung bringt. Wobei sich neben dem tragischen Protagonisten-Paar auch Engel, Teufel, eine Hexe und die allegorische Figur des Todes gesellt, dem Christian Nikulytsya die notwendige Autorität verleiht. Dreh- und Angelpunkt des homogen besetzten Ensembles bleibt dabei immer Titelheldin Yulia Tereshchuk, die mit ihrem markant timbrierten Sopran ein anrührendes Rollenportrait zeichnet und Kateryna keineswegs nur als Opfer, sondern als ebenso vielschichtige wie selbstbewusste Frau auf die Bühne gestaltet.

Eine wichtige Produktion mit Signalwirkung, die eindrucksvoll beweist, über welches künstlerische Potenzial Odessa und die Ukraine verfügen. Gleichzeitig aber auch eine Ermahnung, dass der fast schon zum Alltag gewordene Krieg mit seinen Schreckensszenarien auf gar keinen Fall zur neuen Normalität werden darf. Mit den Worten von Taras Schewtschenko: Слава Україні!

Tobias Hell

kostenfreier Stream bis 26. Mai 2023 auf ARTE Concert