Registrierung
Kategorie

Beiträge

Bauen für die Kunst

Im Gespräch mit dem Theater-Architekten-Ehepaar Emanuela Hualla Achatz und Walter Achatz

Im Gespräch mit dem Theater-Architekten-Ehepaar Emanuela Hualla Achatz und Walter Achatz

Interview Iris Steiner und Dr. Wolf-Dieter Peter

Von „einstürzenden Neubauten“ muss nicht direkt die Rede sein, aber von der weltweit beneideten Infrastruktur: Eine steigende Zahl der über 80 derzeit bespielten Theaterbauten benötigt dringend eine grundlegende Sanierung und Renovierung, teils mit Umbau und Erweiterung – etwa von Berlin über Köln, Frankfurt und Darmstadt bis Stuttgart, von Coburg über Würzburg, Nürnberg bis Augsburg. Das Atelier Achatz in München ist dafür eine der renommierten Adressen: Das federführende Ehepaar kann auf die fertiggestellten Münchner Kammerspiele, das Cuvilliéstheater, das Gärtnerplatztheater und die derzeitigen Großbaustellen Augsburg und Darmstadt verweisen. Dabei ist das „Bauen“ nur ein Aspekt, der das Gespräch lohnt.

Müssen „Frau&Mann“ Oper und Theater lieben, um dafür und darin als Architekten tätig zu sein?
Walter Achatz: Kein „Muss“, aber wir sind beide profunde und langjährige Theaterliebhaber. Und es ist einfach schön, nicht an einem profitorientierten Projekt zu arbeiten, dafür aber meist mit den kreativen Menschen, die in diesen Bauten ja arbeiten, in Kontakt zu stehen. Und zum Endergebnis sage ich vielleicht am Schluss unseres Gespräches etwas …

Wir sprechen ja über aktuelle und kommende „Problem-Bauten“ und zunehmend gilt auch der Begriff „Nachhaltigkeit“.
Walter Achatz: Für unsere alten Theaterbauten, die nicht durch die beiden Kriege zerstört wurden, galt pauschal eine Nutzungsdauer von rund 100 Jahren. Das hat sich dann speziell auch durch die Entwicklung der Theatertechnik etwa auf 50 Jahre reduziert und derzeit geht man eher von höchstens 30 Jahren aus …
Emanuela Hualla Achatz: … dann erfordern hauptsächlich Brandschutz und Technik, aber auch die gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüche an so einen „kulturellen Fest-Raum“ eine weit- und dann oft weitergehende Überarbeitung.

Das Cuvilliés-Theater, Münchens ältestes Opernhaus, erhielt beim Umbau 2008 ein filigranes Glasdach über dem ursprünglich offenen Foyer (Foto Bayerische Schlösserverwaltung, Achim Bunz, München – www.schloesser.bayern.de)

In Architektur-Artikeln spukt dann neben der „Nachhaltigkeit“ der Begriff „Beton-Gold“, also die Nutzung der im Material vorhandenen Qualität.
Walter Achatz: Wir sprechen lieber von „grauer Energie“, die wir erneut nutzen können – bis zu einem bestimmten Maß. Denn allein der Brandschutz in diesen Gebäuden hat sich enorm ausgeweitet. Als Theaterfreund weiß man ja von diversen verheerenden historischen Bränden mit vielen Toten – bis hin zu den aktuellen Katastrophen in Clubs. Daher nur ein Satz: Für uns steht der bestmögliche Brandschutz ohne Diskussion an erster Stelle – also von Verhütung bis zur „Entfluchtung“. Viel öffentlichkeitswirksamer ist dann etwas zu lesen, wenn neue Licht-, Fahr- und Tontechnik in ein Theater eingebaut wird: Da ist meist einiges zu sehen und zu hören. Ein paar unsichtbare Fakten: Allein im Probengebäude der Münchner Kammerspiele mussten 640 km Elektro-Kabel verlegt werden, Vergleichbares im Gärtnerplatztheater. Dazu kommt die aufwendig gewordene Medientechnik, Ton und Video etc. Für die ­gesamte Haustechnik waren das im Gärtnerplatztheater vor der Sanierung rund 1.000 m2 Technik, jetzt mussten wir 4.000 m2 Platz schaffen.
Emanuela Hualla Achatz: Dazu kommen Anforderungen wie die „Betriebsoptimierung“ für den Theateralltag, von den Werkstätten bis zur Kantine; die Einlagerung der aktuellen Spielzeit sowie dann moderne Logistik zur eventuell unumgänglichen Auslagerung. Und das große Thema Barrierefreiheit: Das ist nicht nur eine schon länger formulierte Forderung der bayerischen Politik, es ist auch unter dem Gesichtspunkt „Inklusion“ zu sehen und dazu der Anspruch auf einen gewissen Komfort. Und schließlich der gesellschaftliche Aspekt: das Theater nicht nur abends, sondern auch tagsüber als Begegnungsstätte anzubieten, ohne den Probenalltag zu behindern.

Steht über allem nicht das Denkmalamt?
Walter Achatz: Ja, berechtigterweise, da vor allem die Werkstätten des Theaters im Alltagsbetrieb ohne größere Rücksprache und Rücksicht auf die vorhandene Substanz fleißig weitergebaut, oft gut gemeint zu optimieren und zu verbessern versucht haben – bis hin zu „Wildwuchs“ …

Grundsätzlich müssen doch Zuschauerraum, Lifte, Garderoben, Toiletten, Foyer, Orchestergraben, Bühnenraum, Probebühne, Technik, Werkstätten, Kantine, Chor- und Orchesterprobenräume, Fundus neu und erweitert „zusammengebaut“ werden.
Emanuela Hualla Achatz: Und speziell durch Corona sind die Anforderungen an den Komplex „Lüftung“ enorm gewachsen. Wenn im Theater Tänzer auftreten, müsste eigentlich aufgrund deren rein körperlicher Tätigkeit die Lüftung das Mehrfache leisten. Das ist oft baulich nicht umzusetzen und auch ein Kostenfaktor.

Fünf statt der geplanten drei Jahre dauerte die Sanierung des 1865 erbauten Münchner Gärtnerplatztheaters, das 2017 wiedereröffnet wurde. Gesamtkosten: 121,6 Millionen Euro – gut 50 Millionen Euro höher als kalkuliert (Foto Christian POGO Zach)

Einschub zum „Wir“: Wie fanden denn Architektin und Architekt zusammen?
Emanuela Hualla Achatz: Ich kam als Praktikantin in das Büro eines meiner damaligen Professoren, wo Walter als Werkstudent tätig war. Aber mit Figaro: „Il resto nol dico“ – „das Weit’re, das Weit’re verschweig’ ich“ … Zur Familie Achatz gehören mittlerweile zwei erwachsene Kinder.

Wie ist jetzt Ihr Arbeitsprozess? Der Herr für den ­Beton, die Dame für Innenausstattung, Farbe, Dekor – oder ist das zu banal rollentypisch?
Emanuela Hualla Achatz: Sehr gerne die Innenausstattung, auch mal das Intendantenzimmer, die Auswahl der Materialien und Farben – das alles in enger Abstimmung speziell mit der Denkmalpflege. So ist es uns etwa im Münchner Cuvilliéstheater gelungen, das historische Erscheinungsbild in den Foyers hochleben zu lassen, Neues einzufügen wie die Überkuppelung, die Theken und Garderoben – doch alles zu verbinden, sodass es ein Kontinuum gibt, das sichtbar und erlebbar wird. Einerseits ein „Da hat sich ja nichts geändert“, andererseits „Das ist aber neu und passt“. Und ansonsten bin ich hier die „Bodenstation“.
Walter Achatz: Zum weiteren Alltag unserer Arbeitsteilung: Ich mache überwiegend die Acquisition und die aktive Umsetzung der Projekte; meine Frau ist ein wichtiges Korrektiv im kreativen Prozess, weil sie den fachlichen Blick hat und ihre Nachfragen und Einwände eben fundiert sind. Eine tragende Säule sind heute rund 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die über die Jahre zu Spezialisten geworden sind. Zusätzlich braucht man bei Projekten dieser Art auch eine Vielzahl an Fachplanern, die den Architekten mit ihrem Wissen unterstützen und begleiten – darum ist Theaterarchitektur neben dem Krankenhausbau eine der größten Herausforderungen.

Auch für die nächsten Jahre bleibt der Vorhang im Zuschauersaal des Staatstheaters Augsburg noch geschlossen. Die von der Stadt als „Jahrhundertprojekt“ bezeichnete Generalsanierung des denkmalgeschützen Gebäudes von 1877 steht wegen der hohen Baukosten vielfach in der Kritik (Foto Florian Waadt)

Dauert deswegen so eine Generalüberholung oft deutlich länger – und wird meist auch deutlich teurer?
Walter Achatz: Technisch haben wir ja jetzt dazu schon vieles genannt. Hinzu kommen meist nicht öffentlich kommunizierte Änderungswünsche – wir sind jetzt in Augsburg bei einer bemerkenswerten Vielzahl von Änderungsanträgen … Und damit ist ein Wort gefallen: Kommunikation. Am besten von Anfang an: Da gibt es eine Ausschreibung nach der VgV, der Vergabeverordnung, mit einer Zahl für die Kosten. Erstes Problem: Das ist keine wirklich realistische, sondern eine „politische Zahl“, eine „Bürgermeisterzahl“. Wenn Sie heute gleich zu Anfang die wahrscheinlichen Kosten öffentlich nennen, ist der ebenfalls öffentliche Protest so groß, dass das Vorhaben nicht zustande kommt. Dann folgt ein Wettbewerb. Wenn Sie da – aufgrund Ihrer Einschätzung der realen Bauanforderungen – zu weit über der „Bürgermeisterzahl“ liegen …
Emanuela Hualla Achatz: Nenn das Beispiel Coburg: Dort waren 68 Millionen Euro als Obergrenze angegeben …
Walter Achatz: … heute wird über 190 Millionen Euro diskutiert – und ich sehe eine deutlich höhere Endsumme. Wir sind in Coburg übrigens bei der Bewerbung ausgeschieden. Zurück zum Ablauf: Sie gewinnen den Wettbewerb; Auftraggeber ist der Staat, das Bundesland oder die Stadt, beispielsweise Augsburg. Bauherr ist dann das Stadtbauamt, der Bauamtsleiter. Und jetzt wieder das Stichwort „Kommunikation“: die Pressestelle der Stadt plus die Pressestelle des Bauamts plus die Pressestellen der zuvor genannten Ämter plus die Presse … Dann leben wir in einer lebendigen Demokratie: Im Verlauf des Bauvorhabens gibt es Wahlen – und plötzlich haben Sie andere, neue Amtsinhaber vom Bürgermeister abwärts bis zum Intendanten und dem Technischen Direktor des Theaters. So geschehen in Augsburg: eine fast komplette personelle Veränderung auf allen Posten. Da werden von den neuen Amtsinhabern gern eigene „Akzente“ gesetzt, öffentlich kommuniziert, diskutiert – und wir sollen sie bauen.
Emanuela Hualla Achatz: Dazu das Gegenbeispiel Cuvilliés­theater. Bauherr war der kunst- und theaterbegeisterte Finanzminister Faltlhauser. Der kam regelmäßig zu den Sitzungen, ließ sich die nächsten Schritte erklären, äußerte Wünsche, fragte nach – und entschied dann: „Das nicht, aber so und so machen wir das!“ Kein Durchsetzungsproblem, die Kosten liefen nicht aus dem Ruder – so geht das auch.
Walter Achatz: Noch ein kleiner Seitenblick: Wir bauen parallel auch „Theater des kleinen Mannes“ – Kinos zwischen Island und Wladiwostok. Im gleichen Zeitraum von den Kammerspielen bis jetzt Augsburg und Darmstadt haben wir weit über hundert ­Kinos gebaut.

Welcher andere Beruf käme für Sie infrage? Gibt es den überhaupt?
Walter Achatz: (zu seiner Frau) Darf ich für uns beide antworten? Architektur ist kein Job oder nur Profession, sondern unsere Berufung. Wir arbeiten einfach gerne mit und für diese kreativen, leidenschaftlichen Theatermenschen. Und was gibt es Schöneres, als anonym in einem von uns sanierten Theater zu sitzen und Sätze zu hören wie „Ah, das schaut ja aus wie immer!“ oder „Oh, das ist aber schön geworden!“. Das ist Erfüllung.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2021

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Unspektakuläre Meisterschaft

Zum Tod von Bernard Haitink

Zum Tod von Bernard Haitink

von Dr. Wolf-Dieter Peter

So geht es in unseren Zeiten des Spektakulären, Grellen, Sensationellen erfreulicherweise auch: einfach Können. Doch das auf höchstem Niveau. Und noch einmal erfreulich: einfach solide und „künstlerisch gesund“ gewachsen. Das prägt den Gesamteindruck der internationalen Dirigentenpersönlichkeit Bernard Haitink. Prompt sagte ihm der damals führende englische Musikkritiker: „Sie sind viel zu vernünftig für einen Dirigenten.“

Schritt für Schritt zur Weltkarriere

Der 1929 in Amsterdam geborene Haitink absolvierte erst nach dem Violin-Studium eine zweijährige Dirigier-Ausbildung. Als prägende Persönlichkeit nannte er später immer wieder Ferdinand Leitner. Der bot ihm eine Stelle in Stuttgart an und half dann bei Haitinks Entscheidung: Zweiter Dirigent beim Niederländischen Radioorchester. Laufbahn-typisch: 1956 ein Einspringen für Carlo Maria Giulini beim Royal Concertgebouw Orchestra, weitere Engagements über acht Jahre hinweg und dann 1964 Künstlerischer Direktor dieses Elite-Ensembles. Ihm blieb er lebenslang verbunden – mit kritischen, nie persönlichen, immer künstlerisch motivierten Bruchstellen: Einmal wendete seine Kündigungsdrohung drastische finanzielle Kürzungen ab, die 23 Instrumentalisten ihre Stellung gekostet hätte; Jahre später konnte ein Streit über schon gestrichene Assistenten-Stellen durch einen Sponsor beigelegt werden. Im Juni 2019 dirigierte er in Amsterdam das erste seiner weltweiten Abschiedskonzerte.

Dazwischen liegt viel musikdramatischer Lexikon-Stoff: immer mehrjährige Phasen, denn Haitink liebte es, im Team zu arbeiten, so mit dem London Philharmonic Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, der Staatskapelle Dresden, dem London Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra samt regelmäßiger Dirigate in Wien und Paris sowie als Ehrendirigent der Berliner Philharmoniker. 1987 folgen fünf Jahre als Musikdirektor der Royal Opera Covent Garden. Haitinks Sinn für dramatische Mahler-Interpretationen führte dazu, dass das hochrenommierte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ihn zu einer Gesamtaufnahme von Wagners „Ring“ nach München holte, ergänzt durch viele andere Einspielungen. Insgesamt ist seine Weltkarriere durch eine wahre Fülle an Aufnahmen und Mitschnitten dokumentiert. Er selbst schätzte im Interview den Wechsel zwischen Podium und Graben: Oben reizte ihn, mit zweitausend Augenpaaren im Rücken, diese „einsam-gemeinsame“ Verantwortung von ihm und Orchester, im Moment des Musizierens die Komposition zu verwirklichen; unten liebte er im Zusammenwirken von ihm, Orchester, Solisten und Bühne das Entstehen von emotionaler Dramatik, die es sonst nirgendwo zu erleben gab.

60 Jahre Routine?

Um Haitink war kein Glitter & Glamour, dafür aber der Atem für den großen Bogen und frisch wirkende Authentizität: Er dirigierte nie aus seinen alten Partituren, sondern kaufte bei der Wiederbegegnung mit einem Werk eine neue Taschenbuch-Ausgabe und suchte mit jedem neuen Orchester im anderen Saal eine Interpretation abseits der Routine. So wurde er als stilsicherer Interpret des großen klassischen Repertoires geschätzt, das von Mozart und Beethoven bis zu Strauss reichte. Doch er griff auch zurück auf Haydn, dirigierte andererseits den Zeitgenossen Turnage und las ständig neue Partituren. Ihn freute, „Parsifal“ dirigiert – und er bedauerte, „Tristan“ „versäumt“ zu haben.

Einem nicht öffentlich breitgetretenen Privatleben – immerhin vier Ehen – entsprach eine skandalfreie Karriere von fast 60 Jahren. Mit feinem Lächeln sagte er einem Kritiker der New York Times „Auch Dirigenten haben ihr Verfallsdatum“ – und zog sich mit einer fast weltweit gespannten Kette von Abschiedskonzerten 2019 vom Podium zurück. Nun ist er von seinem Londoner Zuhause aus in den Musikolymp aufgestiegen.

Mit Spannung erwartet

„Fire Shut Up in My Bones“ an der Met

„Fire Shut Up in My Bones“ an der Met

Ganz besonders hinweisen möchten wir auf eine historische Premiere: Als erste Oper eines afroamerikanischen Komponisten geht „Fire Shut Up in My Bones“ in die 138-jährige Aufführungsgeschichte der Metropolitan Opera in New York ein. Der amerikanische Jazzkomponist und Trompeter sowie sechsfache Grammy-Gewinner Terence Blanchard beschert seinem Werk breite musikalische Monologe, Gospelchöre und unvorhersehbare Melodien. Berühmt wurde er mit kraftvollen Filmmusiken, die er für die Spielfilme von Spike Lee schrieb.

Das Libretto von Kasi Lemmons erzählt die anrührende und tiefgründige Geschichte eines jungen Mannes, der seine Stimme erst findet, nachdem er sich mit seiner schmerzhaften Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Verkörpert wird die Hauptrolle des Charles von Bariton Will Liverman, einem aufregenden jungen Opernsänger der Gegenwart. Die Starsopranistinnen Angel Blue und Latonia Moore übernehmen die weiblichen Hauptrollen. Als Dirigent für die Adaption der bewegenden Memoiren von Charles M. Blow konnte der musikalische Direktor der Metropolitan Opera, Yannick Nézet-Séguin, gewonnen werden.

„Fire Shut Up in My Bones“ setzt aber noch einen weiteren Meilenstein: Camille A. Brown, die bei dieser Neuinszenierung gemeinsam mit James Robinson Regie führt und damit die erste schwarze Regisseurin ist, die jemals eine Bühnenproduktion an der Met inszeniert. Sie zeichnet auch für die Choreografie verantwortlich. Die umjubelte Uraufführung 2019 am Opera Theatre of Saint Louis wurde von der New York Times als „kühn und berührend“ und „subtil kraftvoll“ gewürdigt.

Unsere Autorin Gabriela Scolik wird die Übertragung der Produktion im Rahmen von „Met Opera live im Kino“ am 23. Oktober besuchen und anschließend im „orpheus“ ausführlich darüber berichten.

zur Website von „Met Opera live im Kino“

Grüner Hügel ohne roten Teppich

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

von Roberto Becker

Nach einem Jahr Zwangspause ist vieles anders in ­Bayreuth: Katharina Wagner brauchte nach den ausgefallenen Festspielen des Vorjahres und wegen der pandemiebedingten Einschränkungen sicherlich jede Menge Nerven und Gelassenheit. Immerhin darf der Zuschauerraum in diesem Jahr im Schachbrettmuster zur Hälfte bevölkert werden. Genau 911 statt knapp zweitausend Besucher können das Haus mit dem „mystischen Abgrund“ besuchen.

Unzählige Tests, die Auslagerung in Zelte von allem, was nicht unbedingt im Opernhaus selbst sein muss, und eine ungewöhnliche Lösung für den Chor (eine Hälfte singt im Probensaal, die andere spielt lautlos auf Bühne) ermöglichen ein Corona-konformes Hygienekonzept. Das auf bayerische Strenge getrimmte Einlasspersonal sorgt für Sicherheit: Ohne buntes Gesundheitsbändchen und Maske kommt niemand durch. So gibt es zur Eröffnung zwar diesmal keinen roten Teppich für den Aufmarsch der Prominenten, dafür aber ein Polizeiaufgebot, das nicht nur böse Buben, sondern wohl auch gleich noch jedes einzelne Virus abschrecken soll. Dieser inszenierte Ausnahmezustand legt sich dann aber wieder.
Damit nicht genug: Günther Groissböcks Rücktritt als Wotan nach der Generalprobe (!) für die aktuelle „Walküre“ und gleich darauf auch für den kompletten neuen „Ring“ im kommenden Jahr muss in Windeseile mit Einspringer Tomasz Konieczny aus der Welt geschafft werden.

Das Publikum erlebt mit Barrie Koskys und Philippe ­Jordans „Meistersingern“ sowie Tobias Kratzers und (jetzt) Axel Kobers „Tannhäuser“ zwei bewährte Regiewürfe letztmalig beziehungsweise als erste Wiederaufnahme, die obendrein exzellent besetzt sind. Festspiel-Liebling Klaus Florian Vogt und Lise Davidsen, das Stimmwunder aus dem Norden, sind als Stolzing und ­Elisabeth nicht nur in verschiedenen Inszenierungen mit dabei, sondern stehen in der konzertanten ­„Walküre“ als überzeugendes Geschwisterpaar ­Siegmund und Sieglinde auch gemeinsam auf der Bühne.

Rausch der Farben und Drachentöten für alle

Dieser populäre „Ring“-Teil ist das Zentrum jenes besonderen Projektes der Reihe „Diskurs Bayreuth“, das unter dem Titel „Ring 20.21“ gleichsam als Platzhalter für den um zwei Jahre auf 2022 verschobenen neuen „Ring“ fungiert. Für den dafür vorgesehenen Dirigenten Pietari Inkinen ist diese „Walküre“ ein Testlauf. Man kann nur hoffen, dass er die Erfahrung nutzt, um seine Interpretation vor allem hinsichtlich innerer Spannung, Dichte und Tempo nachzubessern. So kann dann auch aus dem „Walkürenritt“ noch das mitreißende Stück Brachialmusik werden, auf das man wartet.

Es passt in die offene Dramaturgie des „Diskurs Bayreuth“, dass Katharina Wagner der musikalischen Seite eine besondere Dimension hinzufügt und dem Wiener Aktionisten-Altmeister Hermann Nitsch die Bühne für seine Farbvisionen zu Wagners Musik überlässt. Dreimal transferieren zehn Helfer, „dirigiert“ von Nitsch, die weißen Leinwände im Hintergrund und auf dem Boden zu farbiger Opulenz. Bunt jedenfalls ist es jedes Mal. Am Ende natürlich blut- beziehungsweise feuerrot. Für den Zusammenhang mit der Musik findet wohl jeder Zuschauer sein eigenes Maß.

Eine weitere Reminiszenz der bildenden Kunst ist ­Chiharu Shiotas Installation „The Thread of Fate“, die mit ihren verschlungenen Schicksalsfäden die „Götterdämmerung“ vertritt. Rotes Garn verbindet sechs gigantische Ringe als Symbol für Wagners großes Werk. Wer will, kann in den Pausen der Aufforderung des US-amerikanischen Video- und Performancekünstlers Jay Scheib „Sei Siegfried“ folgen – und an einem Stehpult mit 3D-Brille im Festspielhaus mit einem fiktiven Schwert in der Hand einen Drachen wie aus dem Märchenbuch erlegen.

Der Abschluss des Ersatz-„Rings“ zeigt, was nach der „Götterdämmerung“ bleibt: Die Uraufführung der einstündigen Auftragsoper „Immer noch Loge“ von ­Gordon Kampe findet vormittags am und im Teich des Festspielhausparks statt. Loge wird nach dem großen Weltenbrand, den die drei Rheintöchter und ebenjener Feuergott überlebt haben, von Urmutter Erda der Prozess gemacht (Libretto: Paulus Hochgatterer). Dass er am Ende mittels Sprengstoffgürtel in Flammen aufgehen soll, ist für einen Feuergott oder -teufel schon eine aparte Pointe. Daniela Köhler, Stephanie Houtzeel und Günter Haumer haben allerhand Text zu bewältigen – manchmal gibt es für eingeweihte Hörer hübsche Aha-Effekte. Puppenvirtuose Nikolaus Habjan führt Regie und setzt seine gewaltige Klappmaul-Erda in einen Rollstuhl. Die Puppen-Alter-Egos der Rheintöchter und bald auch Daniela Köhler stecken bis zum Hals in der Teichbrühe. Das alles hat Atmosphäre und passt hierher. Die Musik zwischen begleitendem Parlando und großer Geste ist weit genug von Wagner entfernt, um nicht in platte Vergleichsnähe zu geraten. Immer mal wieder aufblitzende Zitate machen richtig Spaß.

Starke Frauen und ein Kleinstadtkrimi

Eröffnet werden die Festspiele aber mit der Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“, bei der vor allem Askmik Grigorian mit ihrem Senta-Debüt überwältigt. Oksana Lyniv, die erste Frau am Bayreuther Pult, erhält einhelligen Beifall für ihren Umgang mit der Hausakustik gerade bei Wagners Frühwerk und die Überwindung pandemiebedingter Zusatzhürden: Ein stummer Chor steht auf der Bühne, der Chorgesang selbst erschallt aus Glaskästen im Probensaal.

Euphorisches Debüt: Asmik Grigorian als Senta (Foto Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath)

Bei Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov ist das Echo geteilt: In karger Kleinstadtkulisse erzählt er eine parallel verlaufende Geschichte, die dann doch nicht ganz zur Vorlage passen will. Dass der ­Holländer als Kind miterleben muss, wie seine Mutter nach einem Fehltritt (womöglich mit Daland) in den Selbstmord getrieben wird, und er nun zurückkommt, um sich zu rächen, liest sich schlüssiger, als es beim Publikum ankommt. Glaubt man dem Holländer doch, dass er bei einem gemeinsamen Abendessen an der gedeckten Tafel in Dalands und Frau Marys Wintergarten ernsthaft um Senta wirbt. Warum er am Ende wahllos in die Menge schießt, ist mit seinem Kindheitstrauma jedenfalls nicht restlos zu erklären. Und dass Frau Mary den Holländer erschießt, auch nicht.

Senta hingegen will mit jeder Faser ihres Körpers vor allem weg, ist mit jeder Geste die pure Revolte – und Grigorian dafür eine Idealbesetzung. Der Vater (Georg Zeppenfeld ist als Daland ein vokaler Fels in der Brandung) will diese Göre unter die Haube bringen. Marina Prudenskaya wertet die Figur der Frau Mary vokal und darstellerisch auf. John Lundgren scheint mit seinem Holländer jenseits des Dämonischen noch etwas zu fremdeln, liefert aber ein vokal eindrucksvolles Rollenporträt.

Fazit: Bayreuther Festspiele der besonderen Art. ­Katharina Wagner bewährt sich dabei als umsichtige und kreative Hügelchefin. Gesichert ist trotz des zweiten Corona-Sommers das längst wieder übliche musikalische Festspielniveau. Mit bewährten Künstlern – Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld, Axel ­Kober, ­Philippe Jordan und natürlich Christian Thielemann, auch wenn der „nur“ mit dem konzertanten „Parsifal“ glänzt. Mit einigen, die zum wiederholten Male Furore machen – wie Lise Davidsen, Michael Volle oder Tobias Kratzer. Aber auch mit anderen, die mit vielversprechenden Debüts aufwarten wie Asmik Gregorian und Oksana Lyniv. Mit angepasster Programmgestaltung samt Einbeziehung bildender Künstler und der Nutzung des „Diskus Bayreuth“ holen die Festspiele für die Zuschauer heraus, was in diesem Pandemie-Sommer herauszuholen ist.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Pionier im Schatten großer Meister

Zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck

Zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck

von Maike Graf

Am 27. September denken wir einmal ganz fest an den Komponisten, der sein fünftes Kind nach der Titelheldin von Wagners „Fliegendem Holländer“ Senta nennt, wenige Monate nachdem er das Werk zum ersten Mal in Bayreuth sieht. Vielleicht würde Humperdinck auch ein ganzes Gedenkjahr gerecht werden, ist er doch der Erfinder jener Sprechnotenschrift, für die dann später ­Arnold Schönberg als revolutionär gefeiert wird. Für sein „gebundenes Melodram“ notiert Humperdinck bereits jene Kreuzchen an den Notenhälsen, die die Sprech­höhe angeben.

In den letzten 30 Jahren wird in Wissenschaft und Musik mit sehr viel Leidenschaft versucht, das märchenverklärte Bild von Engelbert Humperdinck realistischer zu zeichnen. Lange führt die Feder dabei seine Enkelin Eva Humperdinck, dieses Jahr wird sein Schaffen neu beleuchtet von Biograf Matthias Corvin. Zum 100. Todestag wollen auch wir uns an einige von Humperdincks musiktheatralen Kompositionen erinnern.

Der „Parsifal“-Effekt und eine Frage der Ehre

Eine von Humperdincks ersten Kompositionen für die Opernbühne ist eine kleine Erweiterung der Verwandlungsmusik im ersten Akt von Wagners ­„Parsifal“, die der 28-Jährige seinem Meister schreibt, um dessen Umbauvision zu ermöglichen. Nein, es müssen keine Urheberrechte auf den Produktionsassistenten ­Humperdinck übertragen werden, der an einem Steingraeber-­Flügel die Skizzen Wagners abschreibt und für den Druck präpariert. Aber dass diese „Parsifal-Flicke“ tatsächlich den Bayreuther Orchestergraben erreicht, ist für ­Humperdinck der „höchste Preis in der Komposition“, obwohl er sogar durch das Mozart- und Meyerbeer-­Stipendium gefördert wird.

Durch diesen Moment ist Humperdinck für immer mit dem Namen Wagners verbunden. Schon zu seinen Lebzeiten kommt die Rezeption nicht ohne die Wagner-Verweise aus. Und natürlich ist diese verbissene Suche nach Parallelen zwischen dem Wagner-Epigonen und seinem Meister nicht nur naheliegend, sondern auch gerechtfertigt. Wer sucht, der findet – beispielsweise die Leitmotivik in Humperdincks Oper „Königskinder“, einen ausgeprägten Hang zum Horn, zu gerne auch als rhythmische Fanfare, oder einen düsteren Solokontra­bass durchsetzt mit unterschwelligen Pauken, wie im Prelude zum zweiten Akt seiner Komischen Oper „Die Heirat wider Willen“. Das könnte auch das Vorspiel zum zweiten Aufzug von Wagners „Siegfried“ sein. Noch viel tiefere Wurzeln werden sichtbar, wenn man das inhaltliche Fass öffnet. In ­Humperdincks „Ausstattungsstück mit reichlich Musik“ „Dornröschen“, irgendwo zwischen Schauspiel und Singspiel angesiedelt, macht sich der Prinz auf die Suche nach dem von einem Zwergenkönig hergestellten, erlösenden Ring, ganz wie man es aus Wagners „Ring“ kennt.

Ausflug in die Welt der Komischen Oper: Partiturausschnitt aus „Die Heirat wider Willen“ (1905) (Foto Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main)

Doch gerade weil der Wagner-Humperdinck-Knoten über die Jahre so festgezurrt ist, sind Vergleiche aus anderen Richtungen rar, wenn doch nicht weniger fruchtbar: „Mozart war es, den ich mir zum Vorbild genommen“, sagt Humperdinck über frühe Kompositionen. So findet sich ein bisschen Mozart beispielsweise in dem frisch entdeckten Klavierstücklein „Erinnerung“, in dem eine süße Melodie über einfacher Basis trällert. ­Humperdincks Melodram und auch die folgende Volloper „Königskinder“ folgen dem gleichen Ansatz wie ­Claude Debussy, bei dem sich Ideal, Sprache und Musik näher aneinanderschmiegen, weshalb Debussys ­„Pelléas et Mélisande“ auch eine Literaturoper genannt wird. ­Felix Mendelssohn-Bartholdys „Sommmernachtstraum“-­Ouvertüre möchte man in den zauberhaften Holzbläsern von „Dornröschen“ heraushören, oder aber Hugo Wolfs Liedbegleitungen in den Orchesterbegleitungen von Humperdincks Liedern aus den „Königskindern“.

Volksnahe Komposition und meisterhafte Bearbeitung

Humperdinck und das Lied – sei es Volkslied, Kinderlied oder nur die liedhafte Geste – sie haben sich eingehakt, um den Milchtopf bis zum Zerbrechen zu umtanzen: „Rundherum, es ist nicht schwer.“ Lieder als „Keimzellen der Komposition“, Lieder als „Lyrische Inseln“, Lieder für den „Schein des Bekannten“ – so nennt die Rezeption Humperdincks Vorliebe für liedhafte Einschübe, die er besonders in seinen Musiktheaterwerken auslebt. Lieder sind der maßgebliche Teil von Humperdincks Personalstil. Er soll wohl immer zunächst die Liedstellen vertont und in der Verarbeitung der daraus gewonnenen Themen das große Ganze komponiert haben. Die Parallelen zum Volkslied mit seiner einfachen Strophen-, Bogen- und Barform und den hyper-eindringlichen ­Melodien im Volkston sind dabei nur allzu deutlich.

Humperdinck ist ein Meister der Umarbeitung, das beweist er mit zahlreichen Wagner-Transkriptionen oder der Opernüberarbeitung „Das eherne Pferd“, welche seine ersten kompositorischen Glanzleistungen sind. Ob eigene Liedkompositionen oder traditionelle Lieder wie „Tochter Zion, freue dich“ für seine Pantomime „Das Mirakel“: Humperdinck nimmt das Bekannte, das Lied her und legt es zum Strahlen in ein größeres musikalisches Konzept, anstatt es wie verlorene Brotkrumen in den Wald zu streuen. Natürlich ist Humperdinck dabei durchaus bewusst, dass es genau diese Verschränkung mit dem Vertrauten ist, die gerade seine Märchenopern so beliebt macht.

Auf ewig der „Märchenonkel“? Karikatur von Oscar Garvens, 1919 (Foto Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main)

Eine andere Eigenart des Humperdinck’schen Komponierens ist das Ideal der „innigesten Verbindung“ von Musik und Sprache, die den Komponisten zum Erfinder des „gebundenen Melodrams“ macht. Die Schauspielenden werden in ihrer Sprachmelodie an die Musik gebunden, Orientierung gibt die neu erfundene Sprechnotenschrift. Aus seiner Arbeit am Melodram „Königskinder“, der Vorform zur gleichnamigen Volloper, kennt ­Humperdinck bereits das Spannungsfeld um den Theaterrealismus, noch bevor er mit Max Reinhardt zahlreiche Schauspielmusiken erarbeitet – beispielsweise zu Shakespeares „Der Sturm“, „Was ihr wollt“ und „Der Kaufmann von Venedig“ oder Maurice ­Maeterlincks „Der blaue Vogel“. Während Humperdincks Komposition für Orchester und melodramatischen Sprachgesang die Bühne untermalt und spiegelt, setzt sie zugleich, wie schon im Melodram, der Literaturvorlage die Krone auf und folgt treu dieser Königin. Im „Kaufmann von Venedig“ malen Oboen auf Streicherbett oder Klarinetten über Harfenarpeggien eine Liebesszene wie Monets Blumengarten.

Schatten und Licht

Um Humperdinck gerecht zu werden, muss noch die Komische Oper einen kleinen Hexenritt unternehmen. Der Komponist will eigentlich mit seinen Komischen Opern Karriere machen. „Die Heirat wider Willen“ schreibt er 1905 – in dem Wunsch, ein zweiter Albert Lortzing zu werden und eine Gegenbewegung zum pathetischen Stil des Verismo zu bilden. Die Sagen und Mythen seien durch Wagner sowieso schon abgearbeitet. Beim Blick auf die Spielpläne aber wird klar, dass ihm dieser Traum wohl versagt bleibt. Schon damals wird die deutsche Operette als lustiger und unterhaltsamer und Strauss’ „Rosenkavalier“ als innovativer empfunden. Dabei hat Humperdincks „Heirat wider Willen“ mit seiner leitmotivischen Fanfare mindestens genauso viel Ohrwurmcharakter wie die Lieder seiner Märchenopern.

„Die sieben Geißlein“, „Dornröschen“, „Schneewittchen“, „Königskinder“, „Hänsel und Gretel“ – kein Wunder, dass Engelbert Humperdinck heute als „Märchenonkel“ bekannt ist. Harmonien zum Versinken treffen auf Lieder zum Mitsingen. Dezidierte Polyphonie windet sich in zarten, auch naturalistischen Leitmotiven, die sich wiederum in Wolken der Abschnittsmotivik tummeln. Dazu kommt eine niedrigschwellige musikalische Charakterbildung von Gut und Böse – in den „Sieben Geißlein“ plakativ durch Dur und Moll, in den „Königskindern“ durch tiefalterierte Noten für die verführende Hexe und in hochalterierten Noten für die reine Gänsemagd. All das zusammen in den Ofen und man backt sich die knusprige Märchenoper „Hänsel und Gretel“, die Jahr für Jahr die Massen in die Opernhäuser zieht – schon seit 1970 auch in japanischer Übersetzung. Besonders zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck wollen wir aber keinesfalls vergessen, dass er viel mehr an Musiktheater komponiert hat.

Empfehlung

Wer sich näher mit Engelbert Humperdinck beschäftigen möchte, dem sei wärmstens die Biographie „Märchenerzähler und Visionär“ von Matthias Corvin empfohlen. Der Musikwissenschaftler hat eine fundierte, dabei anregend zu lesende Lebensschilderung vorgelegt, die eine wahre Fundgrube an Wissenswertem über den Komponisten und sein Schaffen darstellt. Darin integriert sind detaillierte, gut verständliche Analysen seiner Werke. Ergänzt wird der biographische Teil durch journalistische Texte Humperdincks und einen umfangreichen Anhang mit einer Quellenauflistung, dem Werkverzeichnis und einer Zusammenfassung aller diskographischen und bibliographischen Veröffentlichungen, darunter allein zwölf Seiten über „Hänsel und Gretel“. Was das Buch zusätzlich attraktiv macht, ist die geradezu verschwenderische Fülle an persönlichen Fotos, Szenenbildern von historischen Aufführungen und abgedruckten Titelblättern von Partituren, Klavierauszügen und Programmheften. 

Karin Coper

Matthias Corvin:
„Märchenerzähler und Visionär.
Der Komponist Engelbert Humperdinck“
292 Seiten, Schott Verlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2021

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Kultur bei Würth

… und ein Abend mit Juan Diego Floréz

… und ein Abend mit Juan Diego Floréz

von Iris Steiner

Seit 2017 gibt es die auf Initiative des Unternehmers Reinhold Würth ins Leben gerufenen Würth Philharmoniker – ein Orchester, das unter der Leitung seines Chefdirigenten, Celibidache-Schüler Claudio Vandelli, bereits mit zahlreichen internationalen Stars zusammenarbeitete. Neben einer Kunstsammlung von Weltrang verfügt der kleine schwäbische Firmenstandort Künzelsau jetzt also auch über einen äußerst veritablen Klangkörper, eine Veranstaltungshalle mit 2.500 sowie einen Kammermusiksaal mit 600 Plätzen. „Kultur und Gemeinschaft als integralen Bestandteil des Firmenlebens im Herzen des Unternehmens verankern“, beschreibt Stararchitekt David Chipperfield die Vision des 86-jährigen Würth, der inmitten unverstellter Hohenloher Landschaft in direkter Umgebung zur Firmenzentrale ein modernes, 2017 eröffnetes „Begegnungszentrum“ baute.

Gleich der Auftakt zur äußerst hochkarätigen Kunstsaison 2021/22 – in schwäbischer Bescheidenheit lediglich überschrieben mit „Kultur bei Würth“ – erweist sich weitaus weniger bescheiden. In direkter Umgebung zu Kunstgegenständen von Weltrang nicht ganz unerwartet, titelt ein geschmackvoll gestaltetes, umfangreiches (!) Programmheft mit „Sommerzeit!“ und lädt zum Arienabend mit Startenor Juan Diego Flórez samt großem Orchester. Pandemiebedingt nur vor kleinem Publikum, fühlt sich dieser launige Abend mit von allen Plätzen unverstellter Sicht auf den Opernstar beinahe an wie ein exklusives Kammerkonzert. Die Programmauswahl zwischen Best-of-Rossini und -Lehár tut ihr Übriges, um das Livemusik-entwöhnte Publikum zu Beifallsstürmen hinzureißen. Eine sehr charmante Zugaben-Idee: südamerikanische Lieder, bei denen sich Floréz selbst nur auf der Gitarre begleitet. Nach dem Konzert: die weite Hügellandschaft beim Sonnenuntergang direkt vor dem Eingang in voller Schönheit. Na also, geht doch!

Das Carmen Würth Forum (Foto Arsart / Ufuk Arslan)

„Musik ist imstande, kulturelle, soziale und sprachliche Barrieren zu überwinden und universelle Gemeinschaften entstehen zu lassen.“ Eine Überzeugung, mit der das Unternehmerpaar Würth ihr großes Engagement nun auch für die Musik begründet. Neben dem eigenen Orchester am Standort Künzelsau verfügt die 2008 gegründete Musikstiftung noch über zwei wertvolle Violinen, die momentan als Leihgaben von den beiden Geigerinnen Veronika Eberle und Ksenia Dubrovskaya gespielt werden.

„Weitblick – Reinhold Würth und seine Kunst“ lautet der Titel eines großen Bildbandes über das direkt an die Veranstaltungsräume angegliederte Museum Würth 2. Dem ist nichts hinzuzufügen …

Die Nachtigall 2020

Ehrenpreis für Brigitte Fassbaender

Ehrenpreis für Brigitte Fassbaender

von Iris Steiner

Am Rande der Premierenfeier ihrer „Rheingold“-Produktion für die Tiroler Festspiele Erl ehrte die Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik Kammersängerin Brigitte Fassbaender mit der „Nachtigall“ – dem Ehrenpreis für Künstlerinnen und Künstler, die über alle Grenzen hinweg unser Musikleben nachhaltig beeinflusst haben. Die Trophäe, eine Bronzeskulptur von Daniel Richter, konnte pandemiebedingt erst ein Jahr später überreicht werden. PdSK-Juryvorsitzende Eleonore Büning würdigte in ihrer Rede die vielschichtige, facettenreiche Karriere der unverwechselbaren Jahrhundertstimme, die nach ihrem Abschied von der Bühne 1985 eine zweite erfolgreiche Laufbahn als Regisseurin und Opernintendantin begann. In diesem und den Folgejahren wird Fassbaender den gesamten „Ring“ für die Tiroler Festspiele Erl neu inszenieren.

Mit Augenmaß

Im Gespräch mit Jonathan Tetelman

Im Gespräch mit Jonathan Tetelman

Schwarze Mähne, trainiert-schlanke 1,93-Figur. Ein Bild von einem Mann! Äußerlich erfüllt Jonathan Tetelman fast alle „Latin Lover“-Klischees und bringt eine heute unumgängliche TV-Smartness auf die Bühne und vor die Kamera: „The guy is a total star“, schrieb die New York Times über ihn. Und gerade jetzt, nach dem Berliner Erfolg in Riccardo Zandonais „Francesca da Rimini“, kommt ihm seine angeborene Bodenhaftung und der nüchterne Blick für gefährliche Angebote besonders zugute: Folglich will er „kürzertreten“ – und so fand sich Zeit für ein ruhiges Gespräch.

Interview Dr. Wolf-Dieter Peter

Was ist derzeit die größte Gefahr für Sie?
„Zu viel zu früh“-Rollen, die vom „Spinto“ ins Heroische reichen – so etwas wie der Bandit Dick in „La fanciulla del West“ oder Florestan. Auch nach Lohengrin wurde ich schon gefragt – und habe abgelehnt. Man kann einmal im Jahr etwas riskieren, aber mit Überlegung und Planung: kein zu großes Haus, kein blind fordernder ­Dirigent …

Viele Kollegen sagen, dass nach viel Italianità Mozart dann immer wieder eine Schulung und Erholung sei …
Leider gibt es da nicht so viel für mich. Auch im italienischen Fach: Die Tessitur etwa von Nemorino passt nicht so recht. Also arbeite ich viel an Farben in der Stimme – ich denke schon mal an Pollione in „Norma“ und befasse mich mit dem frühen Verdi. Gerade erarbeite ich „Stiffelio“, eine komplexe, schwierige Rolle, aber mit die schönste Musik, die Verdi geschrieben hat und deutlich unterschätzt wird. Hoffentlich im Herbst …

Nach diesem Ausblick einmal zurück: Ihre Anfänge?
Ich bin auf einer Insel in Südchile geboren, mit sechs Monaten von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert worden und dann in Princeton, New Jersey aufgewachsen. Dort kam ich in der American Boychoir School als Knabensopran in den Chor und liebte es. Nach dem Stimmbruch begann ich als Bariton am Mannas College of Music, traf auf sehr gute Lehrer, die sagten „Kommen Sie wieder als Tenor“ – und mit ­Rossini war ich noch nicht auf meinem Weg. Ich nahm also nicht die übliche „middle-­life-“ (lacht), sondern eher eine „Viertellebens-Krise“ und arbeitete drei Jahre als DJ … so von Paycheck zu Paycheck. Das war es dann auch nicht, wie sich herausstellte. Da war ich 26 und entschloss mich innerlich, mich ernsthaft und mit Disziplin aufs Singen zu konzentrieren. Tenorlage.

Gab es Vorbilder?
Natürlich hörte ich viel Caruso, dann di ­Stefano, del ­Monaco, auch Franco ­Corelli. Und der junge Jonas Kaufmann war ein aktuelles Beispiel, wie man seinen Weg zum voll entwickelten lyrischen Tenor geht.

Und ein Carlo Bergonzi?
Der kam später – eben mit dem und für das Stilgefühl.

An der Seite von Nadja Mchantaf als Rodolfo in Puccinis „La bohème“ an der Komischen Oper Berlin (2019) (Foto Iko Freese/drama-berlin.de)

Gab es dazu dann auch den richtigen Stimmlehrer für diesen Weg?
Man ist anfangs sehr allein. Es ist nicht leicht, jemanden zu treffen, der einen über alles Vokale hinaus auch als Person und Mensch versteht. Ich habe ihn in Mark Schnaible gefunden und bin auch jetzt noch immer wieder mit ihm in Kontakt.

Sie als junger, angehender Sänger in den USA – was bedeutete das musikalische Europa für Sie?
Ich wusste sehr wenig. Aber als ich dann nach erfolgreichem Vorsingen das erste Mal im London Coliseum stand, wurden mir die Tradition und allmählich auch die ganze Breite klar: Dass es dort verstreut viele Opernhäuser gibt, die älter als die USA sind, dass diese Räume meist so gebaut wurden, dass sie unsere Stimmen tragen und man ohne Mikrofon singen kann …

Wie war es mit der Sprach-Ausbildung? Ist die nicht ausgezeichnet im US-Musikstudium?
Leider nicht. Ich lernte Italienisch sozusagen entlang des jeweiligen Werkes. Das geht bei uns leider nicht in die Tiefe. Natürlich kann man es studieren, aber das wird dann in den USA sehr teuer.

Oh – und ich lese den „Fledermaus“-Eisenstein in ­Ihrem Repertoire und denke, wir können Deutsch sprechen …
Leider nein. Wir machten das herrliche Stück komplett auf Deutsch, mit allem Dialog, zwei Monate Einstudierung – und ich glaube, mein Deutsch war wirklich gut. Aber dann kam nichts mehr und ich habe alles vergessen … (lacht)

Gibt es englischsprachige Rollen – auch Werke, die wir hier nicht kennen –, die Sie gerne singen?
Nichts, was ich jetzt präsent hätte. Ich habe „The Dream of Gerontius“ von Elgar gesungen – eine herausfordernde Rolle, die ich liebte und gerne wieder singen würde.

Sie kamen dann auch an deutsche Opernhäuser und begegneten dem, was in der konservativen Opern-Sponsoren-Szene der USA oft als „German Trash“ bezeichnet wird: dem deutschen „Regietheater“. Sie sangen Rodolfo an der Komischen Oper Berlin in der Inszenierung von Barrie Kosky – eine Erfahrung der anderen Art?
Ich mag grundsätzlich beides, eine historisch genau angesiedelte Szene wie auch eine ganz neue Sicht. Bei Kosky war es diese Idee mit den alten Fotografien, die dann in der Imagination der Zuschauer zum Leben erwachen sollten. Das hat wunderbar geklappt und diesen anderen Zugang bestätigt: dass die Phantasie in der Oper angeregt wird und sie eben nicht nur ein festes Stück ist. Speziell junge Zuschauer hat das sehr angesprochen.

Und dann Riccardo Zandonais wenig bekannte ­„Francesca da Rimini“ unter der Regie von Christof Loy. Eine Erfahrung der noch einmal ganz anderen Art?
Ja, Christof Loy, das war besonders. Er kam und besprach mit uns eingehend, dass er die zeitlose Gültigkeit der Inhalte zeigen will. Er hatte alles verstanden und im Kopf, die „Hausarbeit vor der Arbeit“ gemacht. Er gab uns den Subtext, die Umgebung zu jedem Charakter und entwickelte daraus diese vielen kleinen Spielzüge. Man muss die Aufführung sicher mehrmals sehen, um alles zu entdecken. Selbst wenn man gerade nicht singt, muss man auf der Bühne mit(er)leben und reagieren – und dann atmete Loy mit und verstand, dass man jetzt in der Lage sein muss, den Ton zu produzieren, zu singen. Bemerkenswert und selten, dieses Vorgehen. Ich habe verstanden, dass es wichtiger und expressiver ist, als in einem tollen Kostüm dazustehen.

Als Paolo il Bello in Zandonais „Francesca da Rimini“ an der Deutschen Oper Berlin, mit Sara Jakubiak in der Titelpartie (2021) (Foto Monika Rittershaus)

Von dieser sicher herrlichen Erfahrung einmal zu den Schattenseiten des Sängerberufs …
So sehr ich es liebe, in vielen verschiedenen Häusern zu singen: Man reist viel und ist oft allein. Ich vermisse meine Eltern oft und habe viele Freunde von früher verloren, einfach weil wir nichts mehr zusammen machen und erleben können. Das muss man akzeptieren und eben Konzentration und Ernsthaftigkeit mitbringen, nie Mittelmäßigkeit akzeptieren. Ja, ich sage sogar ein bisschen „blood, sweat and tears“ gehört dazu, eben die Leidenschaft für diesen Beruf.

Das klingt, als bliebe keine Zeit für ein Hobby.
Wenig. Ich interessiere mich für alte Uhren und sammle ein bisschen. Ich radle und mache etwas Fitnesstraining. Entdeckt habe ich die alten Kirchen in Europa, dafür fahre ich auch hin und wieder ein wenig umher. Sie waren ja auch in der Pandemie-Zeit meist offen. Im Gegensatz übrigens zu den Restaurants während meiner Proben in Frankreich – ausgerechnet!

Nochmals in die gesangliche Zukunft: Gibt es Rollenwünsche für die kommenden Jahre? Vielleicht in ­Corellis Fußstapfen Andrea Chénier?
Oh ja, Chénier wäre etwas – und wenn der Name ­Corelli schon gefallen ist: diese Einspielung von „Adriana ­Lecouvreur“ mit ihm, Magda Olivero, Ettore ­Bastianini und Giulietta Simionato … wunderbar! Ich hatte übrigens bereits ein Angebot für diese Oper, aber mit nur zwei Wochen Proben, das fand ich nicht angemessen. Man muss wie in diesem epochalen Mitschnitt auf ­„Größe“ zielen und dem Komponisten sozusagen „Ehre erweisen“.

Und dann wartet der schwerere Verdi ja auch … Gibt es für die kommenden Jahre eine Richtschnur für Sie?
Einen Satz von Daniel Barenboim habe ich verinnerlicht: „Never let ambition cloud talent“ – lass nie deine Ambitionen über das hinausschießen und eintrüben, was und wo du bist. Sei dir immer ganz bewusst, wo du stehst.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Ku’damm 56

Eine ZDF-Erfolgsserie wird zum Musical

Eine ZDF-Erfolgsserie wird zum Musical

Ein neues Projekt von UFA Fiction und BMG wirft in Berlin seine Schatten voraus, die Produktionsfirma Stage Entertainment stellt das Theater des Westens zur Verfügung – geplante Premiere ist im November.

von Claus-Ulrich Heinke

„Ich habe noch nie in meinem Leben so schnell Ja gesagt. Ich kann das richtig schnell, wenn’s drauf ankommt“, lacht ­Peter Plate. Das „Ja“ war seine Antwort auf die Anfrage, ob er zufällig Lust habe, für ein neues Musical mit dem Titel „Ku’damm 56“ die Musik zu schreiben. Gemeinsam mit seinem Freund Ulf Leo Sommer verpasste er keine Folge der gleichnamigen ZDF-Serie. „Ulf und ich waren Riesenfans und haben die wirklich ‚gesuchtet‘, wie die jungen Leute heutzutage sagen.“

Seit 2016 lockten drei Staffeln rund um eine Berliner Familiengeschichte zwischen 1956 und 1963 Millionen Menschen vor den Bildschirm. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Tanzschule ­Schöllack am Ku’damm, in der Mutter Caterina ein strenges, immer nach Perfektion strebendes Regiment führt. Auch ihre drei Töchter Eva, Helga und Monika versucht sie zu lenken – möglichst in den Hafen der Ehe. Das gelingt nur bedingt, denn alle drei arbeiten sich mit viel Psychodynamik heraus aus der mütterlichen Dominanz und dem Muff der fünfziger Jahre. Bei Monika, fast widerwillig verheiratet mit dem schwerst-neurotischen Fabrikantensohn Joachim Franck, spielt dabei die Begegnung mit dem KZ-Überlebenden Freddy Donath die entscheidende Rolle. Der ist Musiker und bricht mit Rock ’n’ Roll-Musik aus den engen Schranken des damaligen Lebens und den Traumata seiner Seele aus. Die zweite Tochter Helga muss erkennen, dass ihr Mann, der Staatsanwalt ­Wolfgang von Boost, schwul ist. Sie befreit sich auch durch eine Affäre mit Tangolehrer Amando Cortez aus dieser Ehe. Eva, ähnlich pragmatisch wie ihre Mutter, erreicht ihr Ziel eigener Unabhängigkeit durch die kühl kalkulierte Verbindung mit dem sehr viel älteren Chefarzt Prof. Dr. Jürgen Fassbender. Innerhalb dieses Geflechts familiärer Auseinandersetzungen gelingt es der Serie vor dem Hintergrund damaliger gesellschaftspolitischer Entwicklungen, reale Zeitgeschichte mit einer spannenden Familiengeschichte zu durchleuchten.

Der Erfolg des Sujets hat mehrere Gründe. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer erkennen die eigene Geschichte wieder, die von guten Schauspielerinnen und Schauspielern in den unterschiedlichen Charakteren überzeugend vermittelt und durch eine gekonnte Regie auf Basis des überzeugenden Drehbuchs von ­Annette Hess glaubhaft erzählt wird. Es gehört zu den herausragenden Fähigkeiten dieser preisgekrönten Autorin, authentische Geschichten mit glaubhaften Menschen zu erzählen. „Bei der Hauptfigur Monika wurden Erzählungen meiner Mutter über die Tochter einer Freundin lebendig. Und das Wesen der Tanzschul-Chefin ­Caterina Schöllack, der strengen Mutter von ­Monika, Helga und Eva, spiegelt Erinnerungen an meine Oma wider, deren Persönlichkeit vom Krieg und der Zeit danach hart geformt wurde.“

»Das Eindampfen hat mir Spaß gemacht

Was im Film funktionierte, soll nun auch als „Ku’damm 56 – Das Musical“ auf der Bühne Erfolg haben. Auch hier stammt das Buch von Annette Hess. „Der Vorschlag der UFA gefiel mir sehr. Denn schon beim Schreiben des Drehbuches dachte ich, dass sich die Geschichte auch für ein Musical eignen könnte“, meint sie. Obwohl sie Musicals eigentlich gar nicht mag, wie sie lachend gesteht.

Dieser Bann wird zum Glück gebrochen, als sie zur Vorbereitung mit den beiden Musikern Peter Plate und Ulf Leo Sommer die Musicalszene im Londoner Westend durchstreift. „Besonders das Stück ‚Every­body’s Talking About Jamie‘ machte mir klar: Man kann auch im Musical Geschichten differenziert und mit Tiefgang erzählen und gleichzeitig unterhaltsam sein.“ (Zur Orientierung: Das Erfolgsmusical erzählt vom Coming-out eines 16-Jährigen als Dragqueen.) Wie aber macht man aus 300 Seiten Drehbuch ein Musical-Libretto von 80 Seiten? „Das Eindampfen hat mir Spaß gemacht. Das kenne ich auch aus der Filmarbeit. Schwieriger war es, so zu schreiben, dass Leute auch ohne Kenntnis der TV-Serie das Stück verstehen.“ Vollkommen neu ist für sie, wie unmittelbar ein Text beim Schreiben für die Bühne auf der Probe umgesetzt, ausprobiert und eventuell rasch verändert werden kann. „Dieses ‚working in progress‘ mit den Darstellern ist eine spannende Erfahrung, die ich schätze“, berichtet die Autorin von der frühen Phase, als der Entwurf für das Musical entstand und noch vor dem ersten Lockdown Ende 2019 vor ca. 150 Menschen erstmals ausprobiert wurde.

Ulf Leo Sommer und Peter Plate (Foto Olaf Blecker)

Die in ihrer Vielschichtigkeit authentischen Persönlichkeiten der TV-Geschichte bleiben auch in der musikalischen Fassung erhalten. So wird man das schmerzvolle Coming-out des schwulen Juristen erleben, teilhaben am Vater-Sohn-Konflikt des Fabrikantensohnes und mitbekommen, wie explosiv es sein kann, damals als Rock ’n’ Roll-Musiker zu leben.

Das alles gefällt auch Regisseur Christoph Drewitz. Er wurde für dieses Projekt verpflichtet und hat bereits Musicals wie „Fack ju Göthe“, „Rocky“, „Ghost“ oder auch „The Last Five Years“ seine erfolgreiche Handschrift verliehen. Mit seiner Arbeit an „Ku’damm 56“ möchte er einen Bezug zur Gegenwart herstellen: „Wo sind heute die Brüche zwischen den Generationen und was treibt heute junge Leute um?“ Vor allem die Songs sollen diese Verbindung schaffen, für die Peter Plate die Texte schreibt und sie gemeinsam mit Ulf Leo Sommer vertont. „Peter Plate ist ein begnadeter Texter“, lobt Annette Hess. „Er nimmt den Fluss meines verfassten Dialogs sensibel auf und lässt sich davon für die Songs inspirieren.“ „Es ist im Prinzip unsere Interpretation der Fünfziger“, ergänzt Teampartner Ulf Leo Sommer. „Man wird immer unsere Handschrift hören.“

In die Arbeit am neuen Musical werden auch Erfahrungen einfließen, die der Künstler und Produzent Peter Plate gemeinsam mit Sängerin AnNa R. als Deutschpop-Duo „Rosenstolz“ sammelte. Die Zusammenarbeit mit Max Raabe, DJ Ötzi, Michelle und Sarah ­Connor ist ebenfalls ein wertvoller Hintergrund für die neue Herausforderung, die beide Musiker auch als kreative Chance empfinden: „Das Schöne an einem Musical: Wir sind nicht in das Zweieinhalb-Minuten-Format eingezwängt, sondern können uns austoben. Bei ‚Ku’damm 56‘ trifft auch Rumba auf Rock ’n’ Roll
– ­alles unter dem Obertitel Popmusik. Wir fühlen uns freier, wenn wir so eine Musik machen dürfen.“ Begeistert erzählt ­Plate, dass dieses Musical der Stoff ist, auf den Sommer und er gewartet haben – ihn reizen die Themen der Geschichte. „Was ist passiert mit der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg? Warum sagte meine Mutter – Jahrgang 1946 – sie könne mit den Großeltern nicht reden? Mich interessieren aber auch die Generationskonflikte, die es immer geben wird.“

David Jakobs und Sandra Leitner als Freddy und Monika (Foto Jordana Schramm)

Von Rock ’n’ Roll bis Hip-Hop – nach den Sternen greifen!

In den fünfziger Jahren spielte dabei der Rock ’n’ Roll eine entscheidende Rolle. Später ist es dann Hip-Hop oder Techno-Musik, wobei jetzt im Vorfeld noch nicht verraten wird, ob diese Musik auch im Musical eine Rolle spielen wird. Lediglich einen Song hat man quasi als „Appetithäppchen“ vorab veröffentlicht – er soll die Titelmelodie des neuen Musicals werden und trägt deutlich erkennbar die Handschrift von Plate und Sommer: „Berlin, Berlin, du meine Braut …“. Die verraten dann aber doch noch ein wenig mehr: „Wir haben versucht, dass dieser Generationenkonflikt, der ja eigentlich die ‚hook‘ ist vom Stück, auch in der Musik rüberkommt. Die ältere Generation ist ein bisschen konservativer in den Fünfzigern verankert und operettenmäßig. Die Mutter zum Beispiel hat meine Lieblingsnummer im Stück, sie heißt ‚Früher‘ und ist eine große Opernnummer. Dagegen dann Monika, Joachim, Wolfgang und die Schwestern – die sind eher poppiger von der Stimme.“ Und dann kommt Plate ins Schwärmen: „Meine Lieblingsfigur ist Mutter Caterina. Ein ziemliches Biest, aber da ist so viel Leid und auch so viel Humor in der Rolle. Immer, wenn Caterina auf der Szene ist, geht mein Herz auf – das war schon in der Serie so.“

Das Kreativteam versichert, dass auch große getanzte Rock ’n’ Roll-Nummern zum Musical gehören werden. Hier ist der Produktion ein hochkarätiger Coup gelungen: Der zuletzt mit den Elton-John-Musical „Rocketman“ erfolgreiche Londoner Choreograf Adam Murray kommt an die Spree, um den „Ku’damm 56“-Cast in Bewegung zu bringen. Nicht ohne Stolz meint Ulf Leo ­Sommer: „Wir haben ‚Rocketman‘ gesehen und hatten dann den großen Wunsch, Adam Murray zu kontaktieren und zu fragen, ob er nicht vielleicht auch für uns die Choreografien macht. Wir schrieben ihm eine E-Mail und dachten, da kommt bestimmt nicht mal eine Antwort. Zwei Tage später war sie dann tatsächlich schon da: ‚Ich habe Lust dazu. Ich würde Euch gern mal treffen.‘ Da haben wir gelernt: Man muss einfach manchmal nach den Sternen greifen, dann passiert das Unmög­liche. Und jetzt ist Adam dabei.“

Bleibt noch zu erwähnen, dass für die Hauptrolle der Monika Schöllack mit Sandra Leitner eine bereits erfolgreiche Newcomerin gewonnen werden konnte – und Musicalstar David Jakobs ihren Partner Freddy spielen wird. Die Premiere ist für 28. November 2021 geplant. Danach soll „Ku’damm 56 – Das Musical“ bis 24. April 2022 im Theater des Westens zu sehen sein.

Weitere Infos und Tickets auf der Website von Stage Entertainment

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2021

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen

Als es in Teheran noch Oper gab

Auf den Spuren der Mezzosopranistin Evlin Baghcheban

Auf den Spuren der Mezzosopranistin Evlin Baghcheban

von Pejman Akbarzadeh und Iris Steiner

Nach der Islamischen Revolution von 1979 in Persien wurde das Opernhaus in Teheran geschlossen und sein Archiv von den Revolutionären zerstört. 40 Jahre nach der Revolution begann eine Kampagne zur Wiederbelebung der Geschichte dieses Theaters in Europa, indem man zunächst gedrucktes Material und Audiofragmente aus privaten Archiven von überall zusammenführte. Die Sammlung „Als es in Teheran noch Oper gab: Ein Tribut an Evlin Baghcheban“ ist das Ergebnis dieser Initiative.

Cover des Buches „The Days Tehran had Opera: A Tribute to Evlin Baghcheban“

Das, was man landläufig und auch in der Klassik „Westliche Musik“ nennt, kam Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals nach Persien. Während seiner Reisen durch Europa lernte Kaiser Nāser ad-Din Schāh (1831-1896) Militärmusik und Militärkapellen kennen, war fasziniert davon und wünschte sich diese Musik auch für sein eigenes Land. Folglich wurden Musiker aus Italien und Frankreich in den heutigen Iran eingeladen, um Ausbildung und Gründung von Kapellen voranzutreiben. Aus der „Abteilung für Militärmusik“ des Teheraner Polytechnikums (Dāro’l-Fonūn) wurde im 20. Jahrhundert ein unabhängiges Konservatorium für westliche klassische Musik. Gleichzeitig entstand ein mit der Stadtgemeinde verbundenes Symphonieorchester in der Hauptstadt. 1960 gründete sich zur Förderung von Opernmusik darüber hinaus ein „Opernrat“, der in Teheran einige Opernproduktionen realisierte. Anlässlich der Krönung von Schah Moḥammad-Reża Pahlavī und Kaiserin Faraḥ Dībā wurde 1967 die Tālār-e Rūdakī („Rudaki-Halle“, benannt nach dem gleichnamigen persischen Dichter des 10. Jahrhunderts) als prestigeträchtiger Ort für die darstellenden Künste eingeweiht. Hier arbeitete ab diesem Zeitpunkt die „Tehran Opera Company“ zum ersten Mal an einem festen Ort, die Tālār-e Rūdakī wurde bekannt als Opernhaus von Teheran. Zur Eröffnung spielte man die eigens dafür komponierte Oper „Delāvar-e-Sahand“ („Der Held von Sahand“) des iranischen Komponisten ­Ahmad Pejman, von der leider keine Aufnahmen erhalten sind.

In den folgenden Jahren gab es an der Teheraner Oper nicht nur Aufführungen von berühmten Werken wie „Il barbiere di Siviglia“ und „Il trovatore“ in Originalsprache, sondern – um eine engere Verbindung zum lokalen Publikum zu schaffen – erstmals auch übersetzte Versionen von „Le nozze di Figaro“. Star dieser Zeit: die Mezzosopranistin ­Evlin Baghcheban (1928-2010), eine der bekanntesten Opernsängerinnen im Iran mit internationaler Karriere und Schlüsselfigur des persischen Opernlebens. Sie stammte aus einer französisch-assyrischen Familie in der Türkei und heiratete den persischen Komponisten Samin Baghcheban. 1950 zog sie mit ihm nach Teheran, um Gesang am dortigen Konservatorium zu unterrichten. Als Gründungsmitglied des neuen Opernrates stand sie ab 1960 auch selbst auf der Bühne. Zwischen 1967 und 1972 war sie tragende Stütze des Opernhauses von ­Teheran, sang viele große Partien in hauseigenen Produktionen und leitete als ausgebildete Musikdozentin auch den Opernchor. Doch bereits 1972 folgte der Bruch – einigen ihrer Briefe aus dieser Zeit ist zu entnehmen, dass sie den Verantwortlichen Missmanagement und Vetternwirtschaft vorwarf. Sämtliche Soloauftritte bis 1978 absolvierte sie danach nur noch am Stadttheater Teheran.

Evlin Baghcheban mit Kaiserin Faraḥ Dībā im Anschluss an eine Vorstellung von Mozarts „Così fan tutte“ in der Tālār-e Rūdakī. Im Hintergrund Premierminister Amīr ‘Abbas Hoveyda und Kultur­minister Mehrdad Pahlbod (Foto Persian Dutch Network)

Kurze Blütezeit mit abruptem Ende

Das internationale Wirken Evlin Baghchebans – als Sängerin und Chorleiterin des „Farah Choirs“, benannt nach Kaiserin Faraḥ-e Pahlawī – trug entscheidend dazu bei, dass dem Opernleben im Iran während seiner kurzen Blütezeit auch internationale Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die Frau, die schon anlässlich der Krönungszeremonie des Schahs 1967 für die Chormusik verantwortlich war, wurde noch 1978 – kurz vor Beginn der politischen Unruhen im Land – mit dem „Farah Choir“ zu Plattenaufnahmen nach Wien eingeladen. Im Gepäck: Kompositionen persischer Volkslieder und Kinderstücke ihres Mannes Samin. Nach ihrer Rückkehr war das Ende des Opern- und klassischen Musiklebens im Iran beinahe schon besiegelt: Die Monarchie und der Schah wurden von der neuen theokratischen Regierung gestürzt und sämtliche westliche musikalische Aktivitäten – darunter auch die Oper und der „Farah Choir“ – verboten.

Obwohl das Augenmerk der Sammlung „Als es in Teheran noch Oper gab: Ein Tribut an ­Evlin ­Baghcheban“ auf dem Leben und Wirken der Operndiva liegt, liefern die einzigartigen Dokumente und Fotos wertvolle Informationen zum Opernleben in Persien in den sechziger und siebziger Jahren. Das Material stammt von Evlins Sohn Kaveh Baghcheban, der es nach dem Tod der Mutter sorgsam bewahrte. Die jetzige Veröffentlichung – unterstützt von der Toos Foundation in London – beinhaltet auch eine CD mit 17 Musikstücken, die als Originalaufnahmen der Teheran Opera Company nach der Zerstörung des Archivs zu wertvollen Zeitdokumenten wurden. Kaveh Baghcheban erklärte dazu in einem Interview mit dem persischen Dienst der BBC: „Die Stücke wurden ursprünglich mit einem normalen Mikrofon für private Zwecke aufgenommen. Wir dachten niemals daran, dass sie später einmal so wertvoll sein würden. Nun sind sie wenigstens noch ein Beweis dafür, dass wir ein aktives Opernhaus in unserem Land hatten.“

Poster der Teheran Opera Company aus den frühen siebziger Jahren (Foto Teheran Opera Company)

Nach der Revolution von 1979 verbannte die neue Regierung westliche Kultur aus dem Alltagsleben. Das Teheraner Opernhaus war eines der ersten Opfer – viele Sänger und Musiker zogen nach Europa oder in die USA, kurz darauf verbot die islamische Regierung Frauen auch das Singen in der Öffentlichkeit und das Solosingen. Lediglich der Chor der Tālār-e Rūdakī konnte seine Zusammenarbeit mit dem Tehran Symphony Orchestra in eingeschränkter Form fortsetzen.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2021

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen