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Rezensionen

30. September 2024

Tosca on Stage

Erfurt / Theater Erfurt (September 2024)
Ein Perspektivenwechsel für Puccinis Oper

Erfurt / Theater Erfurt (September 2024)
Ein Perspektivenwechsel für Puccinis Oper

Das Erfurter Theater wirbt mit dem Konzept „Tosca on Stage“ für seine neue Inszenierung. Es bietet daran zumindest eine passive Zuschauer-Teilnahme, und die 75 Plätze im Bühnenhalbrund sind fast alle besetzt. Diese Zuschauer, die zuvor Einblick in die Bühnentechnik erhalten, sehen die Vorstellung von der Hinterbühne aus und bilden einen Teil der Bühnenkulisse, so die Idee von Regisseur Stephan Witzlinger und Bühnenbildner Hank Irwin Kittel.

Auch in seiner Inszenierung entwickelt Witzlinger eine eigene Sichtweise auf das höchst dramatische Werk. Seine Schlüsselfigur ist der dämonische Scarpia (Máté Sólyom-Nagy), der – selbst mit einigen Ticks behaftet – den satanischen Plan schmiedet, Tosca das Messer zu überlassen, in dem grausamen Wissen, dass er am Ende der tödliche Sieger sein wird. Um diesen dramaturgischen Kniff gestaltet Witzlinger seine auf die Drehbühne gerichtete Regie. Die Ortswechsel übernehmen wenige Gegenstände und der Chor. Alles wird von einer pointierten Lichtregie unterstützt, die diese Fokussierung intensiv ausleuchtet. Witzlinger versteht es, die Charaktere überzeugend herauszuarbeiten, und betreibt eine sehr agile Personenführung. Die Einzel- und Gruppenhandlungen besitzen eine hohe Intensität und ziehen die Zuschauer von beiden Seiten in das Geschehen hinein. Auch die Kostüme von Hank Irwin Kittel unterstreichen die Handlungsstränge intensiv.

Die Sängerinnen und Sänger überzeugen insgesamt mit hoher stimmlicher Qualität. Jérémie Schütz präsentiert einen stimmlich emotional aufwühlenden Cavaradossi, Claire Rutter als Tosca steht ihm stimmlich nicht nach. Beide Gäste singen mit viel Volumen. Als Scarpia betritt Máté Sólyom-Nagy einen dramaturgisch eigenen Weg, den er teils mit sensiblem und teils mit sehr robustem Schauspiel ausfüllt. Gesanglich fehlt ihm manchmal die grausame Konnotation, aber er überzeugt mit seinem „teuflischen Spiel“. Eine echte Freude in der Inszenierung ist Kakhaber Shavidze. Er spielt nicht einen zurückgenommenen und unscheinbaren Küster, sondern glänzt durch freundlich organisierendes Benehmen und amüsiert das Publikum mit seinem verschmitzten Auftritt. Auch Borislav Rashkov als Angelotti und Tristan Blanchet als Spoletta können darstellerisch überzeugen.

Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Clemens Fieguth. Es gelingt ihm, Tempi und Dynamik mit dem Philharmonischen Orchester Erfurt und den Sängern gut umzusetzen. Zwischen dem Orchester und Tosca gibt es bisweilen Temposchwankungen. Doch das Zusammenspiel mit dem Opernchor des Theaters Erfurt fasziniert das Publikum. Auch der Kinderchor bildet eine spannende Klangfacette im musikalischen Gesamteindruck. Unvergesslich ist das Glockenspiel zu Beginn des dritten Aktes.

Larissa Gawritschenko und Thomas Janda

„ Tosca“ (1900) // Melodramma von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Theaters Erfurt

16. September 2024

Rätselhaft

Bremerhaven / Stadttheater Bremerhaven (September 2024)
Puccinis „Turandot“ im Drogenrausch

Bremerhaven / Stadttheater Bremerhaven (September 2024)
Puccinis „Turandot“ im Drogenrausch

Die drei Rätsel, die Prinzessin Turandot stellt, werden von Prinz Calaf zwar gelöst, rätselhaft aber bleibt in der Inszenierung von Philipp Westerbarkei trotzdem vieles. Das beginnt mit dem Schauplatz: Von einem China aus märchenhaften Zeiten ist nicht viel zu sehen, eher weht mit einem Art-déco-Stil der 1920er Jahre ein Hauch von „Babylon Berlin“ über der Szenerie. Bevor die eigentliche Oper mit ihren wuchtigen Orchesterschlägen beginnt, erklingt die Melodie von „Nessun dorma“ am Klavier. Eine junge Frau räkelt sich lasziv und setzt sich einen Schuss Rauschgift. Es ist Turandot, die die gesamte Handlung offenbar nur im Drogenwahn durchlebt. Die meist dunkel gehaltene Bühne (ebenfalls von Westerbarkei) wandelt sich durch Vorhänge und Lichtstimmungen. Im Bühnenhintergrund erscheint eine riesige, fahle Mondscheibe. Bei den Kostümen (Tassilo Tesche) dominiert Schwarz. Nur Turandot trägt zeitweilig ein blaues Gewand und einen üppigen Federkopfputz. Immer, wenn Calaf ein Rätsel gelöst hat, legt sie ein Kleidungsstück ab: ihren Federputz, ihren Umhang und später sogar die Perücke.

Die drei Minister sind skurrile Figuren. Warum sie sich zwischendurch entkleiden und neckische Spielchen vollführen, ist unklar. Auch die Frage, warum Calaf am Ende der Oper wie tot am Boden liegt, bleibt offen. Zumindest sieht es nicht nach einem Happy End aus. Aber wenn die Handlung nur als Traum oder Rausch gesehen wird, sind die Gesetze der Logik ohnehin außer Kraft gesetzt. Da kommt es vor allem auf eine spannende Personenführung an. Und die ist Westerbarkei durchaus gelungen.

Langweilig ist diese „Turandot“-Inszenierung in keinem Moment. Dafür sorgt schon die packende musikalische Leistung. Mit Thomas Paul steht ein hervorragender Calaf auf der Bühne. Seine kraftvolle und strahlende Tenorstimme kommt ohne Mühe über das Orchester. Sein schönes Timbre verfärbt sich auch nicht in extremer Lage. „Non piangere, Liù“ und natürlich das bravourös geschmetterte „Nessun dorma“ werden zu Höhepunkten der Aufführung. Auch Agnes Selma Weiland kann in der Titelpartie überzeugen. Sie hat die für diese Rolle notwendige Durchschlagskraft und sichere, fast schneidende Höhe. In leiseren Passagen verliert ihre Stimme nur geringfügig an Substanz. Victoria Kunze ist eine der vielseitigsten Sängerinnen im Bremerhavener Ensemble. Als Liù trifft sie mit ihrem beseelten Gesang mitten ins Herz. Ihre Selbstopferung aus Liebe ist überzeugend und berührend.

Einen überwältigenden Eindruck hinterlassen die von Mario Orlando El Fakih Hernández und Edward Mauritius Münch bestens einstudierten Chöre. Und Marc Niemann am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven musiziert einerseits so wuchtig und andererseits so fein differenziert, dass keine Wünsche offenbleiben. Seine dynamische und stimmige Interpretation verdeutlicht einmal mehr, zu welchen Höchstleistungen ein kleines Haus wie Bremerhaven fähig ist. Intendant Lars Tietje sollte sich fragen, ob der zurzeit schwelende Konflikt mit dem Orchester wirklich nötig ist.

Wolfgang Denker

„Turandot“ (1926 posthum) // Dramma lirico von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Stadttheaters Bremerhaven

14. August 2024

Kamera aus!

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2024)
„Hoffmanns Erzählungen“ scheitern am Cinemascope-Format

Wenn Mariame Clément mit Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ eines konsequent gelingt, dann, der „Opéra fantastique“ gehörig die Fantasie auszutreiben. Ihre Inszenierung bei den Salzburger Festspielen soll die Grenzen zwischen Kunst und Künstler verschwimmen lassen: Ihr Hoffmann ist ein sensibler, überspannter Regisseur, der seine Erzählungen an diversen Filmsets mit der Kamera einfängt. Speziell im Antonia-Akt wechselt die Perspektive zwischen „Action!“ und Backstage gefühlt sekündlich – man fragt sich des Öfteren, ob Clément eigentlich selbst noch im Blick hat, was im emotionalen Straucheln der Titelfigur wirklich „echt“ und was Drehbuch ist.

Das gibt der Produktion einen extrem verkünstelten, unnötig verkopften, pseudo-intellektuellen Touch. Und nimmt der Geschichte einen beträchtlichen Teil ihres Zaubers, nicht zuletzt auch durch aschgraue Bühnentristesse (Ausstattung: Julia Hansen). Schade, hält doch gerade Offenbachs posthum uraufgeführter Klassiker eigentlich ein wahres Füllhorn an Inspiration bereit. Übermäßiges Gewusel (Stichwort Filmset) und fade gezeichnete Nebenfiguren tun diesmal aber das Übrige, um die wenigen originellen Momente (etwa ein tänzelnd-konfuser Albtraum in Rot im Giulietta-Akt) schnell vergessen zu machen.

Leider erweist sich auch der Orchestergraben als Problem. Marc Minkowskis Zugriff trägt über weite Strecken zur Nicht-Stimmung bei, die Wiener Philharmoniker fahren unter seiner Leitung lange (viel zu lange!) auf Sparflamme. Das Dirigat klingt dadurch in den ersten Akten arg uninspiriert, zu wenig verspielt und magisch – es fehlt das Ohr für die französische Seele der Partitur. Mit der aufkommenden Dramatik der späteren Akte scheint sich Minkowski wohler zu fühlen, wenn er diese stellenweise auch zu dick aufträgt und dadurch rein lautstärketechnisch insbesondere dem Protagonisten der Titelrolle im Wege steht.

Das macht Benjamin Bernheim zu schaffen. Sein Hoffmann gerät im Großen Festspielhaus zum Drahtseilakt: Feine Lyrismen und der schwärmerische Grundton der Partie sorgen summa summarum zwar für feindosierten Hörgenuss – was aber fehlt sind Ecken und Kanten, die beißende Verbitterung und desillusionierte Härte eines mehrfach traumatisierten und letztlich abgestürzten Künstlers.

Gut, wenn man da eine Muse wie Kate Lindsey an seiner Seite hat. Sie ruft eine unaufgeregte, aber solide Leistung inklusive charmanter Ironie ab und weiß ihre Momente zum Glänzen zu nutzen, etwa in der traumwandlerischen Apotheose der Kaye-Keck-Fassung, wenn ihre Stimme mit einem famosen Solo gleichsam schwerelos über der stilsicheren Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) schwebt. Die drei Geliebten werden von Kathryn Lewek verkörpert. Unterm Strich kann sie drei Erfolge verbuchen, wenn auch mit deutlicher Tendenz zur Olympia, deren herrliche Koloraturen wie mühelos fließen. Ebenfalls gestaltwandlerisch präsentieren darf sich Christian Van Horn, dessen Bassbariton jedoch zu blass bleibt – von seinen Widersachern macht Dr. Miracle noch am meisten Eindruck.

Bleibt die ewige Fassungsfrage. Minkowski entscheidet sich für die orchesterbegleitenden Rezitative und hält mit selten gespielten Arien für Nicklausse und Dapertutto gleich noch ein paar musikalische Raritäten bereit. Und doch täuscht auch das nicht über einen Festspielabend weit unter den Erwartungen hinweg.

Florian Maier

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881 posthum) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

kostenfreier Stream ab 16. August 2024 auf ARTE Concert

22. Juli 2024

Vergessenes Juwel

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2024)
Verdis Südamerika-Oper „Alzira“

Im Rahmen ihrer beeindruckenden Serie der frühen Verdi-Opern zeigen die Opernfestspiele Heidenheim in diesem Sommer die selten gespielte „Alzira“, eines der Werke aus den vom Komponisten selbst so bezeichneten „Galeerenjahren“. Die Oper wurde 1845 uraufgeführt, das Sujet nach Voltaire war zu dieser Zeit bereits über 100 Jahre alt.  

Regisseur Andreas Baesler hat auch die Bühne gestaltet und lässt das koloniale Spannungsfeld, das durch die Spanier in Peru entstand, mit relativ wenigen Mitteln, aber sehr intensiv in Einklang mit Verdis kraftvoller Musik aufleben. Damit wirft das Stück auch seine Schatten auf die Zeit der spanischen Kolonisation in den übrigen Andenstaaten Südamerikas und in Mexiko. Man fühlt sich bei der Intensität des Geschehens manchmal an die Geschichten um Pizarro und seine blutige Invasion im damaligen Inkareich erinnert.

Das Bühnenbild enthält auch Assoziationen an das peruanische Ambiente. So wird Machu Picchu angedeutet und immer wieder sieht man Maisfelder. Tanja Hofmanns Kostüme verbinden geschickt moderne und historische Elemente und setzen den stählernen Brustpanzern der Spanier die bunten Inka-Gewänder mit den Knotenschnüren entgegen. Die Handlung ist durchaus dramatisch. Zamoros Ringen um Alziras Liebe mit dem sie ebenso stark begehrenden, aber zunächst keineswegs zimperlichen Gouverneur Gusmano beherrscht das Stück und lässt den interessanten politischen Hintergrund verschwimmen. Dennoch hat Verdi dazu eine zeitweise hochdramatische und das Seelenleben der Protagonisten intensiv ausleuchtende Musik geschrieben. Marcus Bosch interpretiert sie mit seiner Cappella Aquileia eindrucksvoll, das Prädikat „Vergessenes Juwel“ ist durchaus angemessen.

In beeindruckenden Tableaus glänzt wieder einmal der bewährte Tschechische Philharmonische Chor Brünn unter Leitung von Petr Fiala. Marian Pop überzeugt als Gusmano mit einem klangvollen, farbigen Bariton. Er spielt die Rolle ausdrucksstark zunächst hart und rücksichtslos, im Sterben gibt er dann aber auch den großmütigen und gnädigen Machthaber. Sung Kyu Park stellt Inkahäuptling Zamoro mit einem gegenüber dem Vorjahr stark verbesserten Spinto-Tenor, kraftvollen Spitzentönen und authentischem Spiel auf die Bühne. Ania Jeruc ist eine sehr gute lyrisch-dramatische Alzira mit leuchtendem Sopran und hoher Emotionalität. Zurückhaltend gibt Julia Rutigliano mit warmem Mezzo ihre Vertraute Zuma. Auch alle anderen Rollen sind bestens besetzt. Eine Rarität, die man öfter erleben möchte.

Dr. Klaus Billand

„Alzira“ (1845) // Tragedia lirica von Giuseppe Verdi

21. Juli 2024

Hosenrolle neu gedacht

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2024)
Rossinis Frühwerk „Tancredi“ im Festspielhaus

Sein viertes Musikdrama „Tancredi“ zählt zu den weniger bekannten ernsten Opern Rossinis, die außer beim Festival in Pesaro selten aufgeführt werden. Allemal achtbar hat sich Regisseur Jan Philipp Gloger der dankbaren Aufgabe angenommen, das Stück auf die Bregenzer Festspielbühne zu bringen, wo solche Raritäten in kammermusikalischer kleinerer Besetzung traditionell ihren Platz finden.

Eine junge Frau namens Amenaide soll in diesem Stück einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Ihr Vater – hier ein Mafioso im Drogengeschäft – drängt sie dazu, um den Zusammenhalt mit einer verfeindeten Familie zu stärken, die sich vom selben Feind bedroht sieht. Amenaide aber trägt bereits eine andere tiefe Liebe im Herzen: Tancredi ist ihre Geliebte. Geliebte? Ist der Titelheld denn nicht ein Mann? Eigentlich schon, allerdings in Hosenrolle. Warum also sollte die vorgesehene Mezzosopranistin nicht einmal als Frau erscheinen, womit die Liebe, um die es hier zentral geht, eine gleichgeschlechtliche ist, auch wenn die Geschichte mit einem männlichen Tancredi genauso gut funktioniert hätte? Wer will, kann diese Variante als das Bemühen deuten, Oper vielfältiger, diverser oder woker zu machen, oder auch einfach nur einem lesbischen Publikum Identifikationsfiguren zu bieten, die das Musiktheater anderweitig nicht hergibt. Jedenfalls funktioniert die Geschichte ohne Verrenkungen und radikale Eingriffe, die Rossini zuwiderlaufen würden. Ben Baurs Bühne zeigt eine gelungene Kombination alter Architektur und moderner Möblierung, mit antiken Rundbögen eines alten Palazzos und heutig eingerichteten Wohnräumen samt Küche und Fitnessstudio.

Wie Amenaide um ihre Liebe kämpft und sich bemüht, der Geliebten bis zum tragischen, tödlichen Ende ihre Treue zu beweisen, singt und spielt Mélissa Petit mit ihrem schlank geführten, höhen- und koloraturensicheren Sopran ausgezeichnet. Anna Goryachova in der Titelrolle steht ihr mit ihrem fülligen, warmen Mezzo in nichts nach. Unweigerlich leidet man mit, wie sie über so lange Strecken unnötig leidet, in der festen Überzeugung, die Freundin würde sie hintergehen.

Nicht minder exquisit sind die männlichen Hauptpartien besetzt: Antonino Siragusa gefällt mit seinem hellen, in allen Lagen agilen, geschmeidigen Tenor als lange Zeit gnadenloser Vater. Andreas Wolf gibt mit seinem Bassbariton überzeugend einen höchst rüden Freier Orbazzano. Als Amenaides Vertraute Isaura ist in kleinerer Rolle Mezzosopranistin Laura Polverelli eine der schönsten Arien in der Oper mit einem bezaubernden Klarinettensolo vorbehalten. Auch sie verfügt über eine große Stimme, allerdings auch über ein orgelndes Vibrato.

Leider wackelt es häufig zwischen Bühne und Graben, vor allem bei Übergängen und auf Strecken endlos langer Koloraturen. Selten einmal sind der Prager Philharmonische Chor und die Sänger mit den Wiener Symphonikern auf den Schlag zusammen, was auf Dauer von drei Stunden ermüdet und zeigt, dass es der so leichtfüßig daherkommende Rossini doch ziemlich in sich hat. Zudem feilt Dirigentin Yi-Chen Lin zu wenig an der Dynamik, an farblichen Schattierungen und am Ausdruck, sodass die Musik sehr gleichförmig erscheint. Die schönsten Momente in der Musik bescheren rundum die erstklassigen Bläsersolisten, die der Reihe nach ihren Auftritt haben.

Kirsten Liese

„Tancredi“ (1813) // Melodramma eroico in der Ferrara-Fassung

11. Juli 2024

Haus der Blinden

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024)
Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel

„Ich fühle mich krank hier“, gesteht Mélisande zögernd ein. Man kann es ihr in der Münchner Neuproduktion von Claude Debussys einziger Oper in jeder Sekunde nachempfinden. Von den ersten Takten an zieht sich im Prinzregententheater die Dunkelheit zusammen, musikalisch, bühnenästhetisch, emotional. Regisseurin Jetske Mijnssen sperrt die Natur konsequent aus und verortet die Geschichte ausschließlich in den Innenräumen von Schloss Allemonde – kein Wald, kein Park, keine Felsengrotte wie im Original. Ben Baurs Ausstattung ist entsprechend reduziert: dunkler Parkettboden, eine Chaiselongue, zwei Kerzenleuchter, Bett, Tisch, Stühle, steif-konventionelle Kleidung – und nach hinten zu pechschwarzes Nichts, umrahmt von kaltem Neonlicht. Den verrätselten Symbolismus dieser hermetisch abgeriegelten Welt, der schon Maurice Maeterlincks Dramenvorlage berühmt machte, übersetzt Mijnssen konsequent in die großbürgerliche Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende – 1902 wurde Debussys Oper in Paris uraufgeführt.

Der Mief eines stumm an sich selbst erstickenden Familienclans tritt in dieser Lesart ungeschönt und mit fein gearbeiteten Gesten hervor, ohne auf überzogen soapige Effekte zu setzen. Das würde auch gar nicht passen zu „Pelléas et Mélisande“, diesem leisen, traumverlorenen „Drame lyrique“. Inmitten der subtilen Märchenanklänge im Libretto steckt im Kern die Tragödie einer aus vier Generationen bestehenden Familie – und genau auf die kommt es Mijnssen auch an, mit all dem nur zwischen den Zeilen zu Lesenden, das am Esstisch unausgesprochen bleibt.

Alles andere als erstickender Mief wird in dieser zweiten Premiere der Münchner Opernfestspiele von einem überragenden Ensemble aufgeboten. An erster Stelle zu nennen ist Christian Gerhaher, auf den die ganze Produktion wie zugeschnitten zu sein scheint: Sein Golaud ist eine Charakterstudie sondergleichen, ein getriebener, überspannter, abgründiger Choleriker, der nicht weiß wohin mit seinen jähzornigen Ausbrüchen, die sich in intensivst aufbrodelnder und doch nie eindimensionaler Gesangskunst Bahn brechen. Sabine Devieilhe zeichnet Mélisande, die ihm an den eigenen Bruder entgleitende Frau, nicht nur mit kristalliner Anmut, sondern kratzt immer wieder auch an den brennenden Narben der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihrer Partie. Pelléas, der Dritte im Bunde, kann sowohl mit einem Tenor als auch einem Bariton besetzt werden. Mit Ben Bliss hat sich die Bayerische Staatsoper für Ersteres entschieden, was dank dessen leichtfüßiger Jugendlichkeit und seinem schlanken, betörenden Timbre nicht zuletzt der Abgrenzung der beiden Brüder zugutekommt.

Der erhabene Bass von Franz-Josef Selig als greises Familienoberhaupt Arkel und die bei aller Etikette empathische Geneviève von Sophie Koch tun das ihre zu einem absolut runden Gesamteindruck. Unbedingt zu erwähnen ist auch Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor, der Golauds Sohn aus erster Ehe – ein verschüchtertes, misshandeltes, stumm leidendes Kind – in seltener Knabensopran-Qualität und mit exzellentem Schauspiel darstellt.

Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht Hannu Lintu. Er verlässt sich nicht allein auf das träumerisch-wogende Schillern in Debussys Partitur, sondern steuert auch auf gezielte musikalische Eruptionen hin, was dem dramaturgischen Spannungsaufbau im Wechselspiel sehr guttut.

Das Element Wasser zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch die Inszenierung, die „Quelle der Blinden“ mündet im letzten Akt in einem die ganze Bühne flutenden Wassersteg – die Brücke ins Jenseits? Dass Jetske Mijnssen nicht krampfhaft versucht, auf all die Fragezeichen von Maeterlinck und Debussy gekünstelt Antworten zu konstruieren, macht diesen Abend zu einem Höhepunkt des laufenden Festspielsommers.

Florian Maier

„Pelléas et Mélisande“ (1902) // Drame lyrique von Claude Debussy

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

3. Juli 2024

Wagner’sche Lesarten à la Balkan

Sofia / Sofia Opera (Juni 2024)
„Lohengrin“ mit eindrucksvoller Sängerriege

Sofia / Sofia Opera (Juni 2024)
„Lohengrin“ mit eindrucksvoller Sängerriege

Sofias Wagner-Festival geht in diesem Jahr in die zweite Runde und Generaldirektor Plamen Kartaloff setzt auf eine Neuinszenierung von Wagners „Lohengrin“ – an zwei ausverkauften Abenden mit zwei Besetzungen jeweils ein großer Erfolg. Das Bühnenbild-Team, bestehend aus Hans Kudlich, Nela Stoyanova und Christian Stoyanov – und besonders die fantastisch-illuminierte „Gerichtseiche“ von Gudrun Geiblinger – sind nicht unerheblich „schuld“ an diesem Erfolg.

Regisseur Kartaloff legt einmal mehr besonderen Wert auf seine Vision Wagner’scher Lesart, die ein authentisches Erzählen der Geschichte in den Mittelpunkt stellt. Für das wenig Wagner-erfahrene, aber interessierte bulgarische Publikum ein wunderbarer Einstieg in sein Werk. Mit großem dramaturgischem Einfallsreichtum kommt die Geschichte des Schwanenritters als zeitloses, zauberhaft-mystisches Märchen daher – nicht ohne moderne technische Mittel der Theaterkunst, auf die Kartaloff ebenfalls zurückgreift.

Sein „Lohengrin“ beginnt während der Ouvertüre mit dem Schlussbild des „Parsifal“ – und der Artusrunde, aus der Parsifal langsam heraustritt: Er hat den Ruf Elsas gehört! Ab diesem Zeitpunkt ist das gesamte Geschehen der großen Eiche auf der Bühne zugeordnet, ihre Farben und die Einbindung in die Handlung bilden den Subtext der Erzählung. Der Chor mit über 80 Sängern ist gewaltig – bisweilen etwas zu sehr und auch etwas statisch im Hinblick auf das sonst bewegte Bühnengeschehen. Mario Dices Kostüme sind vielfältig, allerdings fragt man sich manchmal, ob sie wirklich thematisch passen, wie etwa beim in Kutten gewandeten Herrenchor.

Erwähnenswert ist eine durch die Bank spannende Solistenriege: So gibt Bariton Thomas Weinhappel – 2017 als erster Österreicher für seine künstlerische Leistung als Hamlet mit dem begehrten „Thalia Award“ ausgezeichnet – sein Haus- und Rollendebüt als Telramund. Stimmlich klangvoll und außergewöhnlich ausdrucksstark im Spiel, ist er sicher die Überraschung des Abends. Für ihn und seine adäquate bulgarische Partnerin Gabriela Georgieva, einer Ortrud auf fast Weltklasse-Niveau, gibt es mehrfachen Szenenapplaus im zweiten Akt.  Das „nächtliche Zwiegespräch“ wird dadurch zu einem Höhenpunkt des Abends.

Radostina Nikolaeva singt die Elsa mit ihrem klangschönen und den dramatischen Passagen voll gerecht werdenden Sopran. Ihr Spiel wirkt etwas verhalten, aber dem Rollenprofil durchaus angepasst. Bjarni Thor Kristinsson ist ein souveräner König Heinrich mit ausdrucksstarkem Bass, wenn auch nicht immer ganz intonationsrein. Simon O’Neill gibt einen Lohengrin von internationalem Format, mit kraftvollem und technisch gut geführtem hellem Tenor. Ab und an würde man sich eine etwas differenziertere Nuancierung wünschen. Unbedingt erwähnt werden sollte auch der von Atanas Mladenov ausgezeichnet gesungene Heerrufer.

Evan-Alexis Christ leitet den „Lohengrin“ mit engagiertem, in entsprechenden Momenten auch expressivem Dirigierstil und ständigem gestischen Feedback, was von den Musikern im Graben und auf der Bühne sichtbar goutiert wird. Dass das Orchester der Oper Sofia in mittlerweile 14 Jahren Arbeit Wagners Werk verinnerlicht hat, ist deutlich zu hören. Insgesamt also eine sehr interessante Aufführung, die szenisch und musikalisch aufhorchen lässt.

Dr. Klaus Billand

„Lohengrin“ (1850) // Romantische Oper von Richard Wagner

1. Juli 2024

Kompaktkurs in Jenseitskunde

Hof / Theater Hof (Juni 2024)
Uraufführung von Patrick Cassidys „Dante“-Oper

Hof / Theater Hof (Juni 2024)
Uraufführung von Patrick Cassidys „Dante“-Oper

Ein fast 50-seitiges Kompendium zu Dante Alighieris für die europäische Religions-, Geistes- und Kulturgeschichte zentralem Epos „Die Göttliche Komödie“ hat Dramaturg Thomas Schindler geschrieben – als Einführung zur Opernuraufführung des Theaters Hof. Diese Mühe hätte er sich sparen können. Denn die 95-Minuten-Partitur des Film- und Melos-erfahrenen Komponisten Patrick Cassidy (*1956) auf den Text von Operndirektor (und Intendant ab 2024/25) Lothar Krause ist selbst nichts anderes als die kompakte, didaktisch blendende und auf rationalen Zeitgeist getrimmte Multimedia-Einführung zum metaphysisch-spirituellen Kosmos Dantes aus dem 14. Jahrhundert.

Diese Uraufführung ist ein mustergültiges Projekt für die konsequent leistungsstarke Linie des Theaters Hof. In zwölf Spielzeiten hat der hier nochmals inszenierende Intendant Reinhardt Friese alles Machbare mit stabilem Publikumszuspruch ausgereizt: ambitionierte Musical-Produktionen, stark auf die Gegenwart ausgerichtetes Schauspiel und Krauses ambitionierten Opernspielplan von Philip Glass’ „Der Prozess“ bis zu David Carlsons „Anna Karenina“. Im für einen der heißesten Abende des Jahres gut besuchten Großen Haus zeigt sich das Publikum begeistert von dem beherzt komprimierten Gang Dantes durch Hölle, Fegefeuer und Paradies zu Beatrice, seinem Idol von irdischer und himmlischer Liebe. Dantes Gleichgewichtigkeit der Stadien im Epos von je 33 Gesängen für Hölle, Fegefeuer und Paradies wird in dem schwarzen, makabren, kannibalischen Spektakel mit vollem Chor (Leitung: Lucia Birzer) und Ballett (Choreografie: Barbara Buser) gebührlich aufgemotzt: Fast eine Stunde für die – zugegeben – thrillenden Höllensensationen, 25 Minuten Läuterungsberg, je zehn Minuten für Beginn und paradiesische Apotheose.

Annette Mahlendorf übernahm – assistiert von Kristoffer Keudels Videografie – die Ästhetik von Thriller-Bestsellern und „Da-Vinci-Code“ mit zackigen Reliefs um blutige Lettern, Sensenmann-Symbolik, Marionetten-Skeletten und einer klaren Zeichenhaftigkeit mit viel Schwarz, Rot und etwas Weiß. Die an diesem Abend von Michael Falk dirigierte Partitur Cassidys ist (erweiterte) Tonalität pur: ein wirkungsvolles und packendes Gemisch aus Puccinis fallenden Arienlinien, Philip Glass’ suggestiven Repetitionen und Begleitfiguren à la Johann Sebastian Bach, wenn es am Ende Richtung spirituelle Reinigung und Erlösung geht. Das hat einen gewissen Sog und bewegt sich durch die erkennbar kalkulierte Struktur dieser szenischen Opernkantate doch nicht zur dialektischen Reibung aus irdischer Erdenschwere und metaphysischer Entgrenzung, wie sie Dante in seinem den Papst getreuen Geisteskosmos darstellte.

Dante ist ein soldatisch gekleideter Jedermann und Beobachter, besetzt mit dem erstklassigen „Haustenor“ Minseok Kim: ein Wanderer von gleichmütiger Neugier auf der Reise zum Ich, zu seiner Geliebten im roten Kleid und zum hier nachtschwarzen Paradies. Inga Lisa Lehr glänzt mit persönlichkeitsstarkem Sopran so blendend wie vor wenigen Wochen als Anna Karenina. Den altrömischen Nationaldichter Virgil, Dantes Begleiter durch Hölle und Fegefeuer, gestaltet Stefanie Rhaue mit weißer und damit angemessen geheimnisvoller Aura. In zahlreichen Episoden-Partien machen Andrii Chakov, Thilo Andersson, Yvonne Prentki und alle anderen guten Eindruck. Nicht zuletzt ist diese aussagekräftige Intendanz-Stabübergabe von Reinhardt Friese an Lothar Krause auch ein ehrliches Bekenntnis für ein starkes Ensemble-Theater.

Roland H. Dippel

„Dante – From Inferno To Paradise“ (2024) // Oper von Patrick Cassidy

Infos und Termine auf der Website des Theaters Hof

26. Juni 2024

Schachmatt in vier (Auf-)Zügen

Halfing / Immling Festival (Juni 2024)
Verdis „Aida“ stellt das Seelendrama ins Zentrum

Halfing / Immling Festival (Juni 2024)
Verdis „Aida“ stellt das Seelendrama ins Zentrum

Giuseppe Verdis „Aida“ taugt auch jenseits von Freilichtspektakeln zum hochdramatischen Kammerspiel. Es scheint schlüssig, damit in eine Festspielsaison zu starten, die sich dem Motto „mitmenschlich“ stellt. In der Regie von Intendant Ludwig Baumann triumphiert ein überzeugendes Ensemble, kreativ ausgestattet (Nikolaus Hipp und Camilla Wittig) und atmosphärisch-fantasievoll ausgeleuchtet (Arndt Sellentin und Maximilian Ulrich). Das hochmotivierte Festivalorchester Immling marschiert im Takt, den Cornelia von Kerssenbrock auch dem hauseigenen Chor souverän vorgibt. Und mit der mexikanischen Yunuet Laguna erobert eine stimmlich sensationelle Aida das Publikum, das elektrisiert ist und am Ende alle Mitwirkenden mit euphorischem Beifall würdigt. 

Viel zu häufig müsse man gegenwärtig, so Baumann in seiner Begrüßung, Defizite in puncto Menschlichkeit auch im analogen Umgang wahrnehmen. Das Theater kann dies trefflich spiegeln – im Spiel auf der Bühne und im Schachspiel erst recht. Schwarz-weiß und doch im opulenten Farbrausch von Verdis kompositorischer Gestaltungskunst begegnen sich auf dem kriegerischen Spielfeld im Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien die einschlägig bekannten Figuren. Angetrieben allesamt von ihren unterschiedlichen Stärkeverhältnissen, sehr persönlichen Zielen und der Gunst der Götter Ptah, Isis und Co. sowie deren hohepriesterlichen Stellvertretern auf Erden: Schach steht explizit für strategisches Denken, für Ambition, Meister-, Herr- und Leidenschaft, impliziert jede Menge Selbstdisziplin, Rivalität, Siegeswillen und „tödliche“ Niederlagen. Alles auch in der „Aida“ zu finden – Schachmatt in vier Aufzügen!

In aller Konsequenz beflügelt das rigide Machtspiel das Regiekonzept, das bewusst die seelischen Erschütterungen ins Zentrum stellt, die sich aus der toxischen Konstellation „Radamès zwischen Aida und Amneris“ ergeben. Natürlich geizt Baumann weder mit visuellen Bühnen- noch mit körperlichen Schleuder-Effekten, wie sie etwa die akrobatisch versierten Tänzerinnen und Tänzern der Kraiburger Narrengilde beisteuern.

„Kein Ding auf Erden erzeugt einen solchen Druck auf die menschliche Seele als das Nichts.“ Dieser Satz aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“ schwebt über der Produktion und lässt im Zusammenklang mit dem bittersüßen Preludio schon früh ahnen, wie schwer dieses Nichts wiegt. Erbarmungslos, fern jeglicher Mitmenschlichkeit führen die auf Erden nicht lösbaren Loyalitätskonflikte zwischen Liebe und Vaterlandstreue, Feldherrenruhm und persönlicher Ehre, vereitelten Ausflüchten, Rache und Demütigung bei lebendigem Leib ins Grab.

In der Partie des Radamès debütiert der 1992 im Libanon geborene Joseph Dhadha. Er betört mit tenoraler Noblesse, stark in der Mittellage, wohingegen die Höhe in der fraglos kommenden Weltkarriere zu sichern bleibt. Wo Intrige, Rivalität, (Selbst)-Verliebtheit und Kränkung so plakativ ausgestellt werden wie von der zu manieriert, exaltiert, fast im Stil von Stummfilmdiven agierenden Amneris von Darina Gapitch, geht auch sängerischer Glanz bald unter. Dafür hat Immling mit Bariton Theo Magongoma und mit Yuneut Laguna, der in allen emotionalen Ausnahmesituationen ein funkelnder, substanzvoller, natürlicher, berührender Sopran zur Verfügung steht und die hier ein fulminantes Europa-Debüt feiert, ein in allen Facetten ideal besetztes Vater-Tochter-Gespann Amonasro-Aida engagiert, das die „Nilszene“ intensiv und zum Höhepunkt ausgestaltet. Mehr als solide „schlagen“ sich auch die Bässe Zaza Gagua (König) und Giorgi Chelidze (Ramfis). Sie führen ins himmlische Licht der Ewigkeit, in der sich anders als im Diesseits die im Frieden vereinten Liebenden als Gewinner behaupten.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Immling Festivals

25. Juni 2024

Aufforderung zum Tanz

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2024)
„Adriano in Siria“ und „„Le Mariage forcé“ im Schlosstheater

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2024)
„Adriano in Siria“ und „„Le Mariage forcé“ im Schlosstheater

Tango in der Friedenskirche, Tarantella auf den Orangerie-Terrassen, Klavierwalzer im Palmensaal und eine Folk-Barock-Party auf dem alten Markt: Die Potsdamer Musikfestspiele 2024 fordern an allen Ecken und Enden zum „Tanz“ auf. Natürlich dürfen auch Bühnenwerke nicht fehlen.

Im Schlosstheater Neues Palais Sanssouci steht die Opera Seria „Adriano in Siria“ von Carl Heinrich Graun, Hofkapellmeister unter Friedrich dem Großen, als Eröffnungspremiere auf dem Programm. Gewählt wurde das Stück, weil bei der Uraufführung 1746 die Mitwirkung der Starballerina „La Barberina“ eine Ballettomanie auslöste. Als Reminiszenz an die Historie tritt in der aktuellen Inszenierung – der ersten seit dem 18. Jahrhundert – Valerie Lauer in die Fußstapfen der Tanzlegende. Ihre Darbietung zwischen den Akten und im Finale, für die Massimiliano Toni eigens eine folkloristisch anmutende „Barberina-Suite“ komponierte, ist orientalisch inspiriert, passend zum Handlungsort, dem heutigen Syrien. Der dort siegreiche römische Kaiser Hadrian (Adriano) verliebt sich in Emirena, Tochter des unterlegenen Partherkönigs, obwohl er bereits mit Sabina liiert ist und die Begehrte mit dem Fürsten Farnaspe. Nach innerem Ringen entscheidet sich der Regent doch für Sabina und wird für seinen Großmut gefeiert.

Syrien liegt in Domenico Franchis Ausstattung hinter einer Doppelreihe von Jalousien. Auf Prospekten sind wechselnd Landschaften, Paläste und im Finale Gebäudetrümmer zu sehen. Sie stellen den Bezug zum gegenwärtigen Bürgerkrieg her, analog zu vorne stehenden Koffern und Rucksäcken. Die Rollläden sind das beherrschende Element in Deda Cristina Colonnas Inszenierung: Das Solo-Ensemble, malerisch in antike Gewänder gehüllt, muss sie ständig hoch- und runterziehen. Mehr an Aktion ist der Regisseurin und Choreografin zu den Beziehungskonflikten nicht eingefallen und so erklingen Grauns ausgedehnte Da-capo-Arien vorwiegend statuarisch.

Dadurch konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Gesang und der ist vom Feinsten. Countertenor Valer Sabadus als Adriano spinnt edle Melodiebögen, Sopranist Bruno de Sá zelebriert erlesene Liebesbekundungen und Federico Fiorio, sein Kollege im gleichen Stimmfach, profiliert sich als intriganter, auch in Sabina verliebter Adjudant durch mimische wie vokale Wendigkeit. Im Kampf um ihre Männer reizen die Sopranistinnen Roberta Mameli und Keri Fuge alle stimmlichen Affekte aus, der Bassist David Tricou steuert tiefe Farben und sonore Virtuosität bei. Den Geist der Aufführung aber trägt vom Orchestergraben aus Dorothee Oberlinger. Sie kitzelt aus ihrer famosen Instrumentaltruppe 1700 alles an spielerischer Flexibilität und Vitalität heraus und greift in der „Barberina-Suite“ auch selbst zur Blockflöte – im köstlichen Dialog mit dem Nay-Spieler Mohamad Fityan und der Cembalistin Olga Watts.

Auf Grauns erhabene Oper folgt das Comédie-ballet „Le Mariage forcé“ von Molière und Jean-Baptiste Lully. Drei französische Spezialensembles – „Le Concert Spirituel“, „Les malins Plasisirs“ und „La Compagnie de Danse l’Éventail“ – haben sich für die genretypische Mixtur aus Schauspiel, Ballett und Gesang zusammengetan und servieren sie in einem naiven Bühnenbild als freches Spektakel mit barocken, zirzensischen und modernen Elementen. Es ist ein fröhlicher Rausschmiss, bevor das Schlosstheater Neues Palais Sanssouci 2025 erneut für Sanierungsarbeiten schließen muss.

Karin Coper

„Adriano in Siria“ (1746) // Dramma per musica von Carl Heinrich Graun
„Le Mariage forcé“ (1664) // Comédie-ballet von Molière und Jean-Baptiste Lully