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Opernkritik

Glänzender Hörgenuss im optischen Fluss?

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Opernpremieren per Stream sind verdienstvolle und ermutigende Vorhaben sowohl für das Ensemble als auch für das Publikum – so auch die „Zauberflöten“-Premiere des Salzburger Landestheaters. In der Regie von Christiane Lutz und unter der musikalischen Leitung von Leslie Suganandarajah agiert ein Ensemble, das sich vor allem hören lassen kann. Allen voran Alina Wunderlin, die mit wunderbarer Stimme und virtuosen Koloraturen die Königin der Nacht zwischen verzweifelter Mutterangst und vom Zorn übermannter Rachegöttin gestaltet. Laura Incko als Pamina und David Fischer als Tamino bringen als edles Liebespaar eine gute Mischung aus belcantischem Schmelz und schlanker Stimmführung mit. Laura Barthel mimt und singt mit koboldhaftem Charme die Papagena und George Humphreys kostet das komödiantische Potential der Papageno-Rolle stimmlich und darstellerisch mit Vergnügen aus. Die drei stimmschön singenden Damen Julia Moorman, Olivia Cosio und Verena Gunz fügen sich zu fein abgestimmtem Triogesang zusammen. Kammersänger Franz Supper verleiht dem Monostatos gefährliche, aber auch mitleidsvolle Töne. Sein Dienstherr Sarastro bekommt durch Andreas Hörl sonor klingende priesterliche Weihe. Und die Rollen der drei Knaben übernehmen tonsicher Mitglieder des Salzburger Festspiele und Theater Kinderchors.

Die Regie vermittelt den interessanten Eindruck, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen der Königin der Nacht und Sarastro um einen höfischen Machtkampf im Palast oder Tempel der Sarastro-Fraktion handelt. Es gibt zwar in dem sparsamen, gleichwohl variablen Bühnenbild von Christian Andrè Tabakoff Ausweitungen der Raumgestaltung. Aber letztlich konzentriert sich das Spiel um eine Art Planetenglobus, zentral im Tempelraum auf einer Stele stehend. Um diese Mitte herum entwickelt Christiane Lutz mit einer Menge kreativer Ideen ihre Vorstellungen des Werkes. Aber letztlich will sich das Ganze in der filmischen Umsetzung noch nicht zu einer Einheit fügen. Einerseits setzen die unterschiedlichen schauspielerischen Möglichkeiten des Ensembles der Umsetzung des Regiekonzepts Grenzen. Und die vielen Halbtotalen und Großaufnahmen der Kameras behindern den optischen Fluss des Gesamtgeschehens. Außerdem erfordern Großaufnahmen ein anderes Agieren der Darstellenden als Aufnahmen aus der Distanz. Nicht jeder, der auf der Bühne live überzeugend agiert, ist für das Spielen direkt vor der Kamera ausgebildet. Und die Großaufnahme legt das unerbittlich offen. So lange es Streams gibt, sollte sich die Videoregie darauf einstellen und mehr Distanz wahren. Oder aber camera-acting gehört zukünftig zur Opernausbildung.

Einige Koordinationsprobleme zwischen Orchester und Bühne mögen der Premieren-Anspannung geschuldet sein. Ansonsten spielte das Mozarteumorchester Salzburg gewohnt kenntnisreich mit einem Anflug von historisch orientierter Spielpraxis.

Insgesamt Respekt vor dieser Inszenierung, die im Vorfeld und bei der Durchführung sicher viele Pandemie-Probleme bewältigen musste.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zauberflöte“ (1791) // Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

Aufruf zum Diskurs

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Wir müssen reden. Darüber, wie man heute Opern umsetzt, deren Geschichten eine nicht-westliche Welt „verlangen“, deren Hauptcharaktere Menschen marginalisierter Gruppen „sein sollen“ und bei denen die hiesige Opernwelt versucht ist, in exotische Klischees zu stürzen. Wir müssen reden über „Carmen“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Otello“ und „Aida“, denn sie alle haben gemein, dass wir besonders als weiße Personen nicht mehr unkommentiert über ihre Problemzonen hinwegsehen dürfen. Darüber, dass die Kunstform der Oper einst ein starkes Mittel war, „das Andere“ und „das Exotische“ zu entwerfen, um den Kolonialismus zu legitimieren. Wir müssen darüber reden, wie Blackfacing an mancher Stelle als Werktreue und nicht als rassistische Geste gelesen wird. Die „Aida“-Inszenierung von Regisseurin Lotte de Beer an der Opéra national de Paris trägt den Aufruf zum Diskurs über genau diese Themen in jeder Szene mit sich.

De Beers Prämisse, Aida nicht von einer weißen Sängerin spielen zu lassen, sondern sie mit einer Puppe zu doubeln, ist ein genialer Spiegel für die Problematiken von Verdis Oper. Dieses Vorgehen übersieht nicht, dass die Rolle eine Äthiopierin „sein soll“, vermeidet aber, eine weiße Sängerin wortwörtlich in „Aidas Haut“ zu stecken, die sie allerdings jederzeit wieder ablegen könnte (eines der großen Probleme des Blackfacings). Damit die Gestalt der Puppe nicht exotischen Stereotypen zum Opfer fällt, wurde die simbabwische Künstlerin Virginia Chihota, wohnhaft in Äthiopien, beauftragt, die Vorlage zu der Puppe von Aida zu gestalten. Zusätzlich erscheint ihre düsterbunte Kunst, die sich mit dem marginalisierten schwarzen weiblichen Körper beschäftigt, immer wieder prominent auf der Bühne von Christof Hetzer.

Konzeptuell ist die Pariser „Aida“ eine werkkritische und damit sehr starke Inszenierung; leider ist ihre Umsetzung nicht lupenrein. Das Puppenspiel macht Probleme, denn immer wieder rutscht der Fokus von der Aida-Puppe zurück auf ihre Sängerin. Das Spiel von Sondra Radvanovsky, die immer wieder mit der Puppe interagiert, anstatt sich in den Hintergrund einzublenden, ist nicht sehr dienlich dafür, de Beers Prämisse zu schärfen. Dagegen steht allerdings der starke Mittelteil der Inszenierung mit dem gesanglichen Höhepunkt im Duett von Aida und ihrem Vater (Ludovic Tézier) und dem Triumphmarsch, bei dem die Statisterie berühmte Gemälde imperialer Macht nachstellt, was interessante und kritische Gedanken zum Spannungsfeld von Kunst und Imperialismus birgt.

Während in dem Bühnenmuseum mit düstergrünen Räumen die Kunst des Kolonialismus und die des Nationalstolzes aufeinanderprallen und das steinige Material der Puppen (Mervyn Millar) mit den strengen Uniformen der Ägypter schmackhaft konterkarieren (Kostüme: Jorine van Beek), ist der Abend auch musikalisch ziemlich voluminös. Jonas Kaufmann feuert seinen Radamès mit altvertrauter Kehligkeit in dramatische Höhen, Sondra Radvanovsky interpretiert die extremen Spitzen der Aida mit dünner Kopfstimme (was theatralisch, aber wirklich gut wirkt) und Ksenia Dudnikovas Amneris strahlt golden. Im leeren Theater beklatscht das Orchester sich selbst und ihren Dirigenten Michele Mariotti – nicht einmal geraten ihm der Graben und die Bühne musikalisch auseinander. Gemeinsam polieren sie den Abend auf den klassischen „Aida“-Hochglanz.

Maike Graf

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Die Inszenierung ist als Stream bis 20. August 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

Klassischer Verdi auf den Kanaren

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (Februar 2021)
„Il trovatore“ bei den Amigos Canarios de la Ópera

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (Februar 2021)
„Il trovatore“ bei den Amigos Canarios de la Ópera

Trotz eines angesichts sinkender Inzidenzen mittlerweile gelockerten mediterran-sanften Lockdowns gönnen sich die Amigos Canarios de la Ópera von Februar bis Juni ein ansehnliches Programm ihrer 54. Opernsaison von Gran Canaria mit Eigenproduktionen von Verdis „Il trovatore“, Cileas „Adriana Lecouvreur“, Rossinis „La Cenerentola“, Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Verdis „Macbeth“. In höchster Disziplin stellt sich das Publikum mit seinen infektionsfrei elektronisch gekauften Karten in Reih’ und Glied vor dem mondänen Auditorio Alfredo Kraus am Strand von Las Palmas an und lässt mit stoischer Ruhe die Temperatur-Messung über sich ergehen. Vor dem Haus „wacht“ eine Riesenstatue aus Bronze von Alfredo Kraus mit Blick aufs weite rauschende Meer über das Geschehen. Obwohl es auf der Insel ein wunderschönes Opernhaus gibt, das Teatro Pérez Galdós, wählte man das Auditorio, um mehr Zuschauer in der Corona-Krise unterbringen zu können – insgesamt etwa 650. Ähnlich wie im Teatro Real in Madrid hat man das Orchester auseinandergezogen, mit Nebenpodesten links und rechts für Harfe, Schlagwerk und einige andere Instrumente. Die Akustik im Saal war gleichwohl gut.

Carlo Antonio de Lucia inszenierte diesen „Trovatore“ in klassisch traditioneller Ästhetik mit ebensolchen Kostümen von Claudio Martín. Carlos Santos schuf ein einfaches, den Gegebenheiten des Auditoriums entsprechendes statisches Bühnenbild aus dreifach abfallenden Mauern zu beiden Seiten der Szene. Der eigentliche inszenatorische und damit gestalterische Effekt ergab sich durch das fantasievolle und stets zur jeweiligen Szene und Stimmung passende Videodesign von Graffmapping auf diesen Mauern und dem Szenenhintergrund, sowie aus der bestens abgestimmten Beleuchtung von Iban Negrín. Die stehenden Videos waren in der Tat oft sehr eindrucksvoll und wurden in zentralen Momenten auch bewegt, um die Intensität der Szene zu erhöhen – so bei den lodernden Flammen zu Manricos Stretta. Eine Personenregie gab es jedoch kaum, allenfalls eine stereotype. Die Sänger traten zu ihren jeweiligen Nummern noch nummernartiger auf und ab als sonst, und allzu oft kam es auch noch zu eigentlich unnötigem Rampensingen.

Arturo Chacón-Cruz, weithin bekannter mexikanischer Tenor, sang den Troubadour zunächst noch mit leichten Aufwärmschwierigkeiten, lief im weiteren Verlauf aber sowohl stimmlich wie darstellerisch zu starker und souveräner Form bei hoher Musikalität auf. So forderte das generell sehr beurteilungssichere Publikum eine Wiederholung der Stretta – er sang sie mit starkem und lang angehaltenem C – und bekam sie auch! Seit ihrem Auftritt als Odabella in „Attila“ bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala 2018 ist Saioa Hernández kein unbeschriebenes Blatt mehr. Mit einem leuchtenden, kraftvoll vorgetragenen Sopran meisterte sie fast alle Klippen der Leonora, abgesehen von einem Spitzenton in der ersten Arie „Tacea la notte placida“. Am schönsten und emotionalsten gelang ihr die Arie „D’amor sull’ali rosee“ zu Beginn des vierten Akts. Der italienische Bariton Massimo Cavalletti sang den Grafen Luna mit warm timbriertem Ausdruck und guter szenischer Präsenz. Erstklassig war aber die stimmliche Leistung der Mezzosopranistin Nancy Fabiola Herrera, die alle nur denkbaren vokalen und darstellerischen Dimensionen der Azucena eindrucksvoll ausleuchtete. Eine Weltklasse-Leistung, die auch mit dem größten Applaus bedacht wurde. Die weiteren Rollen waren ebenso gut besetzt, wie der von Olga Santana einstudierte Chor sang. Jordi Bernàcer dirigierte das Orquesta Filarmónica de Gran Canaria mit sicherer Verdi-Hand.

Klaus Billand

„Il trovatore“ („Der Troubadour“) (1853) // Dramma lirico von Giuseppe Verdi

Next Level Regietheater

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Luigi Rossi wiederzuentdecken, ist ja gerade der Trendsport in der Klassikszene. Erst kürzlich hat Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und in ziemlich prominenter Besetzung zahlreiche Rossi-Arien und -Duette ersteingespielt. Während sie sich noch penibel in historischer Aufführungspraxis versenkte, setzt die Opéra de Dijon lieber auf absolute Modernisierung. Die Oper „Il palazzo incantato“, 1642 im Barberini-Auftrag und in außergewöhnlich großer Besetzung komponiert, erhält nun die wohl größte Bühne derzeit: Die Plattform OperaVision streamt die publikumslose Aufführung für zwei Monate. Die Partitur soll dafür radikal reduziert worden sein (Leonardo García Alarcón), die Szene wiederum maximal erweitert (Fabrice Murgia), sei es durch moderne Charaktere, Kostüme, die aus den Läden von heute geklaubt sein könnten (Clara Peluffo Valentini), und natürlich: viel Hightech-Videoprojektion.

Das Schloss des Magiers Atlante hat die Kraft, allen seinen Besuchern den Kopf zu verdrehen, und er nutzt das, um diese Menschen seiner Macht zu unterwerfen. So simpel, so gut. Aber die Handlung mit ihren 33 Charakteren, die wiederum Kostüme wechseln, dann aber doch zeitweise von den gleichen Sängerinnen und Sängern verkörpert werden und in zahlreichen Räumen sowie Welten und szenischen Randepisoden auftreten, ist derartig schwer zu verstehen, dass die Rezensentin schlussendlich resümiert: Es geht gar nicht um die Handlung. Es muss um die Emotionen gehen. Und die transportiert diese Inszenierung wiederum absolut nachvollziehbar. Unbändige Liebe, absoluter Wahnsinn, tiefste Verzweiflung und düstere Depression werden von Videokameras eingefangen, die auf der unteren Bühnenhälfte herumgetragen werden und Close-ups auf die Leinwand darüber übertragen (was ziemlich genauso aussieht wie bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth). Das passiert hier mit derart kinematographischem und bildästhetischem Bewusstsein, dass man zeitweise vergisst, eine Oper und nicht eine Serie zu streamen. So zumindest im ersten Akt. Später gibt es noch dunkelstes, Verlies-artiges und grellstes himmlisch-magisches Bühnenbild (Vincent Lemaire). Dieses außergewöhnlich intensive Regietheater ist schon sehr beeindruckend.

Aus den Stimmen des Ensembles erleben wir, wie unterschiedlich brennende Herzen klingen können. Auch wenn wirklich der Großteil der Besetzung mit der barocken Klangsprache umgeht, als hätten sie nie etwas anderes gesungen (besonders eindrucksvoll Mariana Flores u.a. als Magique und Arianna Vendittelli, die ihre Koloraturen mal eben im Liegen meistert!), ist gerade die Addition von italienischem Pathos und moderner Exklamation bereichernd (sehr genossen bei Victor Sicard). Den ganzen Abend überstrahlt allerdings Mark Milhofer mit seiner Interpretation des Atlante. Seine Partie ist schon kompositorisch herrlich, aber er gestaltet sie auch noch mit kilometerweitem tonalen wie emotionalen Ambitus und einer Stimme, die in keiner Lage ihre Reichhaltigkeit verliert. Man kommt wohl in Dijons „Verzauberten Palast“, weil die Inszenierung einem die Abbildung des wirklich echten Lebens verspricht. Aber man bleibt für die Momente der Musik, in denen Rossis Händchen für Mehrstimmigkeit glänzt – poliert von Dirigent Alarcón, der seine Cappella Mediterranea und die Bühne absolut exakt zusammenhält.

Maike Graf

„Il palazzo incantato“ („Der verzauberte Palast“) (1642) // Azione in musica von Luigi Rossi

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 29. März 2021 kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Im trostlosen, brutalen Grenzgebiet

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Die fünfte Premiere der Wiener Staatsoper in dieser Saison zeigt Calixto Bieitos Inszenierung aus dem Jahr 1999, ursprünglich in San Francisco und Boston herausgebracht und nach 29 Theateraufführungen nun auch für Wien einstudiert. Der Regisseur will die menschlichen Begrenzungen in unseren Köpfen zeigen und führt uns zur spanischen Exklave Ceuta an die Grenze zwischen Marokko und der Iberischen Halbinsel mit viel aggressivem Realitätssinn und Perspektivlosigkeit. Das Bühnenbild von Alfons Flores zeichnet sich durch Leere und Düsternis aus. Im ersten Akt ist nur eine Telefonzelle zu sehen (aus der Carmen die „Habanera“ singt – mit wem sie telefoniert, bleibt ein Rätsel), ebenso eine Fahnenstange, an der eine Frau von der bestialischen Soldatenmeute malträtiert und aufgehängt wird. Danach befinden wir uns nicht in der Schenke von Lillas Pastia, sondern fünf ausrangierte Mercedes aus dritter oder vierter Hand dienen als einzige Requisiten. Auf ihnen wird ordinär und betrunken getanzt und hinter einem Auto wird erzwungener Oral-Sex dargestellt; außerdem zieren Campingsessel und ein Christbaum (?) das Bild des zweiten Aktes. Ein Mädchen (die Carmen der Zukunft oder vielleicht Mercédès’ Tochter?) spielt mit einer Barbie-Puppe am Souffleurkasten. Ein übergroßer Stier an der Rückwand thront im dritten Akt an der Rückwand und dominiert die leere Bühne. Und im Schlussakt sehen wir eine Bikini-Schönheit, die sich auf einem „Spanien-Badetuch“ eincremt – auf die Erklärung dazu wartet man noch?! Die Kostüme von Mercè Paloma wirken wie elende Hausfrauen-Kleider der siebziger Jahre und sollen wohl die Armut der Roma und Schmuggler darstellen. Praktisch alle Männer zeichnen sich durch Brutalität gegenüber den weiblichen Figuren aus – offensichtlich wollte der spanische Regisseur zeigen, welche Behandlung Frauen (als Vorbild dienten seine Großmütter) gewöhnt sind und wie ihr Leben in der Realität aussieht/aussah. Wer klassische Ästhetik und schöne, warme Farben liebt, wird der Zeffirelli-Inszenierung von 1978 nach 164 Vorstellungen nachweinen.

Als phänomenale Carmen erlebt man Anita Rachvelishvili mit großer Stimme und herrlichem Timbre – erstmals in dieser Rolle in Wien. Ihre ausdrucksstarke, intensive Darstellung einer Vollblutfrau, die ihren Körper bewusst einsetzt und die leidenschaftlich wie ein eruptierender Vulkan ist, zeichnet eine kraftvolle Studie der freiheitsliebenden Romni. Nach seinem Rollendebüt 2018 an der Wiener Staatsoper ist Piotr Beczała erst das zweite Mal in der Rolle des eifersüchtigen Brigadiers Don José zu erleben. Große Phrasierungskunst, samtiges Belcanto-Timbre und bombensichere Höhe gelingen dem Polen mühelos. Besonders das leidenschaftliche Liebesgeständnis der Blumenarie bleibt dauerhaft in Erinnerung. Als Hausdebütantin stellt sich Ensemblemitglied Vera-Lotte Boecker als Einspringerin vor. Ihre Micaëla ist kein blasses, unschuldiges Dorfmädchen, sondern eine rauchende Frau, die auch mit erotischen Attacken zu überzeugen versucht. Die Koloraturen erklingen lupenrein, nur zeitweise mischt sich unerwünschte Schärfe in die Stimme der Deutschen. Erwin Schrott präsentiert sich in Eleganz, Höhe und Tiefe gewohnt souverän und ist ein Bilderbuch-Escamillo. Auch Peter Kellner (Zuniga), Szilvia Vörös (Mercédès) und Slávka Zámečníková (Frasquita) aus dem Ensemble bieten starke Leistungen. Erstmals am Pult im Haus am Ring, darf Andrés Orozco-Estrada für Leidenschaft, Leichtigkeit und Emotionen sorgen.

Susanne Lukas

„Carmen“ (1875) // Opéra comique von Georges Bizet

Revolte der Phantasie

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Februar 2021)
Schorsch Kamerun zaubert mit zwei Stücken von Maurice Ravel – und spielt auch gleich selbst mit

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Februar 2021)
Schorsch Kamerun zaubert mit zwei Stücken von Maurice Ravel – und spielt auch gleich selbst mit

Die Staatsoper Stuttgart stellt die Verbindung zur aktuellen Zeit gleich in der Klammer nach dem Titel her und bezeichnet diese Premiere als „Preview“. Die Online-Premiere „Verzauberte Welt“ mit Werken von Maurice Ravel ist also nur ein Vorgeschmack auf die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in besseren Zeiten. Vorgesehen war die Haus-Premiere zuerst für Dezember 2020, dann für Februar dieses Jahres. Geworden ist aus beiden Terminen nichts.

In Stuttgart hat der renommierte Autor und Regisseur Schorsch Kamerun Maurice Ravels „Das Kind und die Zauberdinge“ („L’Enfant et les Sortilèges“) aus dem Jahre 1925 mit der Orchestersuite „Mutter Gans“ („Ma Mère l’Oye“) kombiniert. In die Umrahmung der Oper mit der Suite (in einer Fassung von Sebastian Schwab) hat der Regisseur eigene Songs und Texte integriert. Zusammen mit dem Opern-Hauptteil in der deutschen Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze bringt es der Abend auf kurzweilige und gut konsumierbare etwa 85 Minuten. In denen es nicht nur – wie in der Vorlage – um ein Kind mit Anpassungs- oder Vereinsamungsproblemen geht, sondern auch um den Zauber, zu dem das Theater in der Lage ist, wenn man es denn lässt. Heutzutage vom Homeschooling Betroffene werden wohl sofort einen Zugang zur kindlichen Revolte finden. Unversehens wird das Ganze zu einem Reflex der Grenzerfahrungen, die heutzutage Pandemie-bedingt gemacht werden. Neben Kamerun selbst sind 24 Stuttgarter Kinder dabei, wird die Revolte der Phantasie gegen die Zumutungen der Wirklichkeit zu einem generationsübergreifenden multiperspektivischen Kamera-Spektakel. Die Musik und die Bühne von Katja Eichbaum, die via Videos Foyer und den Bereich hinter der Bühne einbezieht, geben dabei die Atmosphäre vor.

Diana Haller fühlt sich vokal und im Habitus wunderbar präsent in das Kind hinein. Koloratursopranistin Maria Theresa Ullrich darf sich von der gestrengen Mutter über die chinesische Teetasse zur Libelle verwandeln. Hinreißend auch Charles Sy als altes Männchen, das die „Mathematik“ beschwört und sich damit nicht beliebt macht. Mit dem Kostüm, das Gloria Brillowska für Claudia Muschio kreiert hat, schießt diese als Prinzessin und Nachtigall mit ihrer lodernden Kostümpracht als Feuer den Vogel ab. Nach einem sozusagen systemsprengenden Wutausbruch rettet das Kind ein Eichhörnchen und kommt wieder zur Besinnung.

Der Spaß an der Verwandlung und die Freude am Spiel auf der Bühne und miteinander ist allen anzumerken. So wie dem ehemaligen Stuttgarter Generalmusikdirektor Dennis Russell Davies und seinen Musikern, die alle Darsteller auf Händen tragen und mit ihrem Ravel-Klang verzaubern.

Joachim Lange

„Verzauberte Welt“ // Maurice Ravels Oper „L’Enfant et les Sortilèges“ („Das Kind und die Zauberdinge“) (1925) und seine Orchestersuite „Ma Mère l’Oye“ („Mutter Gans“) (1910), ergänzt durch Songs und Texte von Schorsch Kamerun

Gesellschaftspolitische Attacke

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2021)
Milo Raus erste Opernregie: Dystopische Sicht auf Mozarts „La clemenza di Tito“

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2021)
Milo Raus erste Opernregie: Dystopische Sicht auf Mozarts „La clemenza di Tito“

Als Opernstadt hat bislang noch Zürich die Nase vorn. Doch unter Intendant Aviel Cahn positioniert sich auch Genf neben einer Fülle von Weltorganisationen zunehmend als Schweizer Haus von internationalem Rang. Dass einerseits 1920 hier der Völkerbund begann, andererseits heute das hinterfragenswerte internationale Bankengeschäft mit einem dubiosen „Freeport“ agiert, mag bei Cahns Engagement von Milo Rau an die Oper hereingespielt haben.

„Wenn für die Herrschaft … ein strenges Herz vonnöten ist, nehmt mir entweder die Herrschaft ab oder gebt mir ein anderes Herz. Wenn ich die Treue meiner Reiche nicht durch Liebe gewinnen kann, liegt mir nichts an der Treue, die eine Frucht der Angst ist.“ Das singt 1791 ein absolut Mächtiger, der in der Liebe Unglück hat, den der engste Freund verrät, der dessen tödlichem Anschlag und einem Putsch in der Hauptstadt gerade noch lebendig entkommt. Einer, der dennoch keine Todesurteile fällt, vielmehr allen verzeiht, weil er weiß, dass eben nur „geliebte“ Herrschaft künftig ergeben angenommen wird. Gegen alle Staatsräson siegen Lebensweisheit und Humanität. Diese Arie im Schlussteil von Mozarts „La clemenza di Tito“ entwirft eine faszinierende Utopie. Eine Herausforderung bis heute, weswegen schon im Brüssel Gerard Mortiers der Tito-Sänger gleichsam aus dem Bühnenbild heraustrat, vor dem sich schließenden Vorhang an einem Rednerpult stand – und eine „Grundsatzrede“ an uns Demokraten hielt.

Mozarts „Tito“ ist ein Werk mit hochpolitisch strahlendem Kern. Das mag für einen politisch ebenfalls hoch engagierten Regisseur wie Milo Rau die Brücke gewesen sein, über die er sich zu seiner ersten Opernregie locken ließ. Mit vielen bisherigen „freien“ und seit 2018 am belgischen Theater NTGent realisierten Werken greift Rau gezielt, herausfordernd bis provokativ ins reale Leben: von der Ceausescu-Hinrichtung über die Dutroux-Entsetzlichkeiten zum Ruanda-Völkermord, einem Kongo-Tribunal bis hin zum Film „Das neue Evangelium“, in dem ein farbiger Jesus für die Armen, Entrechteten und „Illegalen“ auf süditalienischen Gemüsefeldern eintritt. Zunehmend arbeitet Rau dabei mit Betroffenen, Zeitzeugen und gezielt auch Flüchtlingen zusammen.

Genau das ist auch Grundkonzept seiner „Tito“-Inszenierung. Von Bühnenbildner Anton Lukas hat er hinter einem vorderen Spielstreifen in der Bühnenmitte eine kleine Drehbühne bauen lassen. Sie zeigt aus Raus Sicht die zwei Seiten unserer Welt: einen edlen, hellen Raum, der sich am Ende als Saal einer Vernissage mit gutbetuchten Kunstfreunden entpuppt. Auf der Kehrseite die düstere Realität eines „unserer“ Flüchtlingslager – Notbehausungen aus Sperrgut, umherliegender Müll, eine brennende Öltonne, Schilder mit Protestparolen, ein Junge im Rollstuhl, fast durchweg Farbige – über allem ein (zu kleiner) Videoschirm. Und hier beginnt das Kernproblem der Aufführung. Mit Zustimmung des jungen Dirigenten Maxim Emelyanychev hat Rau Mozarts Werk drastisch zusammengestrichen: Eigentlich wären da die gegen die siegreiche „Weisheit“ und „Milde“ wie ein Feuersturm wütenden erotisch-eifersüchtig-rachelüsternen Verwicklungen um Freund Sesto, die ambitioniert verführerische, emotional furiose Vitellia, das junge Liebespaar Annio-Servilia und den gesetzesfixierten Staatsrat Publio. Allerdings: Ein Gutteil der Arien und ein Großteil der Rezitative wurden ersetzt durch gesprochene oder auf dem Bildschirm eingeblendete biographische Erzählungen dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Bedrohten, Gejagten und Gewaltopfer. Gleich am Anfang wird einem Theaterhandwerker das Herz herausgeschnitten und durch die zweieinhalbstündige Aufführung weitergereicht, bis es Tito zu seiner Arie in Händen hält. Davor war er – durch das Attentat tödlich verletzt – zu zwei Schamaninnen in ein notdürftiges Zelt gebracht und gerettet worden. Zwar zeigt uns ein Video-Einspieler seine Waschversuche, aber er bleibt ein Rotlehm-verkrustetes Gesicht. Im Verlauf wird auch die Erhängung zweier Dissidenten relativ bildgetreu vorgeführt, ohne dass die Parteiungen wirklich klar werden. Durchweg laufen Video-Kameraleute zur Live-Projektion durch die Szene und ihre eigenen Bilder. Dann lässt Rau seine 18 neuen Mitspieler auch einmal Géricaults „Floß der Verdammten“ nachstellen, den halbtoten Tito arrangiert er als Davids „Tod des Marat“. Genau das stellt sich auch als Haupteindruck ein: Die Spieler sind „arrangiert“ – in einem neuen Anklagestück angesichts unserer Welt – wie es der Science-Fiction-Film „Elysium“ eindringlich vorstellt. Raus Botschaft gipfelt im Vernissage-Ende mit dem Tod aller singenden Solisten vor einem Podest. Sie dürfen noch das Schlusssextett singen, aber davor wird auf dem Bildschirm eine kleine Geschichtsstunde von der Französischen Revolution bis zu Restauration projiziert. Zu den dystopischen Schlussbemerkungen und Fragen Milo Raus – etwa: wer wohl unsere fatale Geschichte erzählen wird – arrangieren sich die Unterdrückten dieser Erde um einen halbnackten Anführer zu Delacroixs „Die Freiheit führt das Volk“ – und einzig Vogelgezwitscher klingt durch das finale Dunkel.

Ach ja, musiziert und gesungen wird auch. Dirigent Emelyanychev führt das Orchestre de la Suisse Romande zu straffem, klar konturiertem Klang, doch nichtsdestotrotz wirkt Mozart alles in allem degradiert zur guten Begleitmusik der szenischen Fülle. Die Solisten um den Tito-Tenor Bernard Richter klangen alle sehr gut. Doch ihre von Mozart singulär gestaltete „Tour de Force“ durch wirklich alle Gefühlslagen ist in diesem Opus reduziert auf kleine vokale Statusmeldungen.

Wenn man – wie der Rezensent – nahezu alle Aspekte seiner dystopischen Weltsicht teilt, bleibt die Fundamentalkritik: Das ist nicht Thema in Mozarts „Clemenza di Tito“. Da ließen sich mehrfach weit besser kritische Protestsongs einspielen und eben ein neues Stück kreieren. Und Rau sollte selbstkritisch sehen, dass Personenregie einen unverzichtbaren Wert in der Neuinterpretation von Klassikern bildet – ein Anspruch, dem er nicht gerecht geworden ist. So bleibt eine Vermutung: Intendant Cahn und Regisseur Rau wollen mit einem Klassiker locken – um dann dem Publikum der reichen Finanzmetropole eine Art Moralpredigt zu servieren. Intention ehrenwert – aber Mozart missbraucht.

Wolf-Dieter Peter

„La clemenza di Tito“ (1791) // Opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart

Eisige Zeiten

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Was die Staatsoper Unter den Linden mit ihrer jüngsten Livestream-Premiere bietet, ist Janáček de luxe. Vor allem musikalisch. Aber „Jenůfa“ ist immer noch eine unmittelbar packende und aufwühlende Geschichte über Menschen in einer Gesellschaft, die von einer Moral beherrscht wird, in der die Frauen die Rechnungen für Liebe und Leidenschaft oft allein zahlen. Werden sie ohne den Segen der Kirche und einen angetrauten Mann schwanger, dann haben sie das Problem. Als sich die Stiefmutter der Titelheldin gegen die brutal-patriarchalischen Machtverhältnisse zur Wehr setzen will und dabei genauso brutal vorgeht, vernichtet sie sich gleich selbst. Sie schüttet im doppelten Wortsinn das Kind mit dem Bade aus beziehungsweise verbannt den kleinen unschuldigen Jungen ins Eis. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sonne diesen Kindsmord an den Tag bringt. Das Ergreifende an dieser Geschichte aus einer voremanzipatorischen Zeit liegt in der Kraft, die Jenůfa und Laca aufbringen, einander und auch der verzweifelten Küsterin zu verzeihen. Dass diese Geschichte immer noch funktioniert, sagt nicht nur etwas über die Genialität ihres Schöpfers aus, sondern ebenso über die Abgründe, die auch heute noch in der kollektiven Erinnerung oder im parallelgesellschaftlichen Halbdunkel verborgen sind. Dass „Jenůfa“ (leider) kein Märchen aus uralten Zeiten ist, wird deutlich, wenn man alles Historisierende der Ausstattung auf wenige sparsame Insignien reduziert. So wie es Paolo Fantin mit seinem transparenten Guckkasten und Carla Teti mit ihren unauffällig gestrigen Kostümen in Damiano Michielettos Inszenierung getan haben. Dieser macht aus dem Eis, von dem immer wieder die Rede ist, den einen optischen Coup. Ein spitzer Eisblock durchschlägt hier wie ein Meteor in Zeitlupe die Decke. Der große Rest besteht aus Psychologie und Kammerspiel.

Das funktioniert, weil Simon Rattle die Staatskapelle Berlin nicht nur gleichsam von innen leuchten lässt, sondern die hörbar große Lust hat, der Regie dabei zu folgen. Einen Spezialeffekt bietet der Chor, der im leeren Haus im Parkett und auf den Rängen verteilt ist – so sind wir zwar außen vor, aber doch irgendwie auch mittendrin.

Das Protagonisten-Ensemble auf der Bühne hat Referenzqualitäten. Das fängt an mit der wunderbaren, so lyrischen wie kraftvollen Camilla Nylund als glaubhafter Titelheldin und Stuart Skelton als einem Laca im Wagnertenor-Format. Es geht weiter über den markanten Ladislav Elgr als leichtsinnigem Števa bis hin zu Evelyn Herlitzius als Küsterin (in einer ihrer Paraderollen) und der legendären Hanna Schwarz in der Rolle der Großmutter. Das Ensemble ist nicht nur stimmlich eine Pracht, sondern vermag durchweg aus der entlarvenden Nähe der Kamera einen Vorzug zu machen. Die technische Qualität der Übertragung ist tadellos. Im Saal dabei zu sein, wäre aber auch hier die bessere Lösung.

Joachim Lange

„Její pastorkyňa“ (Jenůfa“) (1904) // Oper von Leoš Janáček

Nuancenreiches Welttheater

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

Ja, es ist schon toll, wenn über einhundert Mann Wagners „Walkürenritt“ oder den „Trauermarsch“ hinfetzen. Doch dann gibt es die eine Künstlerin auf der weiten, leeren Bühne des Münchner Nationaltheaters, die die ganze Welt erstehen lässt. Der Rezensent hob am Ende sein Glas und verneigte sich vor dem Bildschirm …

Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte irgendwie überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub; der Teufel bittet um drei Tage Geigenunterricht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch; durch teuflische Täuschung werden daraus drei Jahre; niemand im Dorf erkennt den Soldaten und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter; enttäuscht nutzt der Soldat den Buchzauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe; doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen die kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen; nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf; als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Teufel. „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“

Was moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute. Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße des ungenannt bleibenden Szenikers im Theaterrund völlig verzichtbar. Zwar blieben Norbert Grafs kleine Tanzeinlagen ebenfalls belangloses Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte oder mit erhobenem Arm eine hohe Klarinettenlinie beschwor, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre: geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige – stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts bemühtem Theoriebau so etwas wie „epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört“ als Assoziation ein. Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung – ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon.

Da stand auch nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken – und beschwor: ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, liebevolle Prinzessin und vermeintlich souveränen reichen Mann, final tobenden Teufel … und zahllose weitere Nuancen als fesselnde Klangdramatik – ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein: Beschwörung durch situativen Klang und aufgeladene Betonung – und Welt und Mensch sind imaginativ sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas heben und tief beeindruckt danken: für ein singuläres Kabinettstück, einen „Kunst-Brillanten“, der lange weiterstrahlt … und dann zurück in unsere Welt: eine Aufzeichnung auf DVD verdient!

Wolf-Dieter Peter

„L’histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“) (1918) // Igor Strawinsky

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 17. Februar 2021 für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 4,90 Euro.

Heillos Inkonsequentes gegen Romantik

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Ein besonderer Abschied wäre möglich gewesen: In der 1990 gescheiterten „Freischütz“-Neuinszenierung donnerte im Nationaltheater der damalige Schauspieler Klaus Bachler die tödlichen „Freikugel“-Bedingungen Samiels ins Theaterrund. Jetzt hätte der gerne als Erzähler oder Vorleser auftretende Intendant Nikolaus Bachler in seiner letzten Saison nochmals … doch der von ihm engagierte Regisseur sah alles anders.

Der weiße Schimmel „Regietheater“ führt in seinen besten Auftritten bestürzende, faszinierende und horizontbereichernde Werksichten vor. Dafür stand Dmitri Tcherniakov lange Zeit. Als Künstler im 21. Jahrhundert lehnt er überirdische „Freischütz“-Gegebenheiten wie Gottesglaube und Eremiten, Teufelspakte und Samiel ab. Er siedelt die Handlung um Probeschuss, treffsichere Kugeln und allerlei Spuk-Brimborium im Hier und Heute an. Und muss also viel „in die Moderne übersetzen“: neue Texte für die dann stummen Figuren über der Bühne.

Als sein eigener Bühnenbildner hat er als Einheitsbild den hochgelegenen Veranstaltungssaal eines schicken Hotels gewählt. Dessen hintere Holzlamellenwand lässt durch Drehen der Segmente in einen weiteren Saal blicken, dahinter Hochhausfassaden. Im vorderen Saal feiert ein Oligarch oder Boss (imposant mit dicker Havanna Bálint Szabó) mit einer Business-Society ohne Masken und Abstand (tapfer klangschön der Staatsopernchor; Einstudierung: Stellario Fagone), bedient von Hotelpersonal mit Maske; man säuft Bier aus der Flasche. Der Probeschuss besteht darin, aus dem Hotelfenster wahllos einen Passanten abzuknallen. Dafür kommt Tcherniakovs zweite Neuheit abermals zum Einsatz: Auf der schwarzen Leinwand oberhalb blicken wir mit Max durchs Zielfernrohr und sehen dann bei Kilians Schuss das Gehirn des Getroffenen spritzen – erst nachher wird vorgeführt, dass das ein Fake-Filmchen war. Damit wir auch verstehen, dass Max ein Weichei ist, läuft er in einer ärmlichen Strickjacke herum, Typ Oberbuchhalter. Diesen panischen Normalo schleift Kaspar, ein wohl traumatisierter Kriegsheld, später in den abgedunkelten Saal als „Wolfsschlucht“ in einem Plastiksack herein. In einer Ölsardinendose mixt er diese speziellen Kugeln und ballert damit lustvoll herum. Da fehlt jegliche Horror-Atmosphäre. Einzig beeindruckende Regie-Idee für Kaspar, die der kernig-böse Bariton Kyle Ketelsen auch bewundernswert umsetzt: Aus seinem Trauma heraus antwortet er als „Samiel“ mit gepresst abgedunkeltem Bass sich selbst und beschwört sein Ende.

Der ansonsten dominierenden szenischen Enttäuschung entsprechend zieht sich aber Agathe in eben diesem Saal – und nicht in einer Luxussuite – zur Hochzeit um. Woher Ottokar kommt, bleibt unklar, erst recht der Auftritt des Eremiten. Dafür spielt all das in halbhellem Nachtblau – also wohl nur in Max’ neuem Trauma …? Doch da war schon klar, dass Tcherniakovs Werksicht in sich völlig inkonsequent und verkorkst modernisiert war. Da retteten auch die auf die Filmleinwand projizierten neuen Zwischentexte nichts.

Trost für die pausenlos gestreamte Aufführung kam aus dem auf Abstand sitzenden Staatsorchester unter Antonello Manacorda. Die auf gute Übertragungsqualität zielende Aussteuerung ließ die Besonderheiten der Orchesterfassung von Eberhard Kloke nicht so recht erkennen. Doch Manacorda vermied alle spätromantische Aufladung der Emotionen, sondern bezog den Gesamtklang auf die damals lebenden Beethoven und Schubert: schlank, klar, straff, melodieselig wo angebracht. Darin folgte ihm ein exzellentes Solistenensemble: neben dem fiesen Kaspar von Ketelsen der tenoral fast zu gesund strahlende Max von Pavel Černoch; aus Ännchen hatte Tcherniakov eine zweite Tilda Swinton geformt, die auch noch eine lesbische Beziehung zu Agathe andeuten musste – aber Anna Prohaska sang das einfach strahlend weg. Sie alle überragte Golda Schultz: Ihre Agathe klang nach Sopran-Sonnenschein-Gold, dabei weich, mühelos geformt und herzenswarm – eine Verneigung wert. Ansonsten: Auf Nimmerwiedersehen!

Wolf-Dieter Peter

„Der Freischütz“ (1821) // Romantische Oper von Carl Maria von Weber

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 15. Februar 2021 für 30 Tage kostenfrei auf Staatsoper.TV abrufbar.