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Streamingpremiere

Operngondel auf Kurssuche

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Nach dem lauten Blätterrauschen rund um die Demission von Operndirektor Michael Fichtenholz soll sie im Idealfall für frische Schlagzeilen sorgen, die neue Produktion von „Les contes d’Hoffmann“ am Opernhaus Zürich. Der ebenfalls in Bedrängnis geratene Haus-Chef Andreas Homoki bringt als Regisseur das Opus summum des Kölner Parisers heraus, nur elf Jahre nach der erfolgreichen letzten Zürcher Premiere von Offenbachs einhundertzweiter (!) und letzter Oper. Nach dem Premierenstream folgen, Stand Redaktionsschluss, vier „echte“ Vorstellungen im Mai. Er interessiere sich für den Spaß in so vielen Situationen, die sich der ausgebuffte Theaterprofi Offenbach da wirkungsvoll erdacht habe, erklärt Homoki; der Faust’sche Theaterdirektor hätte sofort zugestimmt. Doch diese Spaß-Situationen stehen dann zwei Akte lang so schablonenhaft verhandelt, lose und steif nebeneinander, dass die Nummernoper zur Revue wird. Der fehlt freilich die Showtreppe: Ein großes Fass und das erhöhte, zur berühmten Barcarole unfehlbar schaukelnde Bühnentrapez in der Mitte (Wolfgang Gussmann) sind karge Bühnenbildkost und können eine stringente Entwicklung von Figuren und Plot nicht ersetzen. Auch die Kostüme strahlen jedenfalls am Bildschirm mehr Fundus aus denn Grand opéra.

Dass der Abend dann doch Fahrt aufnimmt, liegt nicht nur an der konzentrierter werdenden Personenführung, sondern hauptsächlich an den Sängerinnen und Sängern, angeführt vom albanischen Tenor Saimir Pirgu, der Stimmreserven wie auch spielerischen Einsatz klug steigert und sein Hoffmann-Rollendebüt mit Strahlkraft und Selbstbewusstsein meistert. Höchst unterschiedlich und dabei sämtlich beeindruckend: seine drei unglücklichen Liebschaften. Die Amerikanerin Katrina Galka wirft sich bei ihrem Haus- und Rollendebüt als hüftsteife und höhensichere Puppe Olympia furchtlos in die Koloraturen; mit spürbarer Lust am Spielen verleiht Lauren Fagan ihrer Kurtisane Giulietta eine robuste Verführungskraft, passgenau für den besoffenen Dichter; und die wunderbare Ekaterina Bakanova als Antonia (ein Clara-Schumann-Verschnitt am Flügel) bringt Schmelz in der Stimme und wohltuend atmende agogische Freiheit mit. In ihren Vierfachrollen setzen Andrew Foster-Williams mit Dapertuttos Spiegelarie und Spencer Lang als herrlich komischer Diener Frantz ihre Glanzlichter. Herausragend mit über den ganzen Umfang samtigem und dabei stets strahlendem Mezzo und einer schauspielerischen Leistung, die alle anderen in den Schatten stellt: Alexandra Kadurina als Muse/Nicklausse. Dirigent Antonio Fogliani führt sein Sängerensemble per Übertragung aus dem Probenraum am Kreuzplatz sicher und formt ebendort einen erfrischend schlanken Orchesterklang, die Philharmonia Zürich ist im Antonia-Akt am besten in Form (Holzbläser, Solo-Oboe!). Und Regisseur Homoki findet nach zähem Anfang zu einem überraschenden, aber sicher nicht zufälligen Ende: Die Sängerin Stella begegnet dem Künstlerkollegen Hoffmann und dem Machtmenschen Lindorf plötzlich selbstbestimmt und auf Augenhöhe … Ein Opernhaus-Omen?

Stephan Knies

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand bis Ende April kostenfrei über die Website des Theaters abrufbar.

Raffiniert gemixt

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Das Stream-Bild zeigt den sich schließenden Eingang zum Bockenheimer Depot, diesem unbedingt erhaltenswerten „anderen Spielort“. Dann schweift der Blick durch die komplexe Dachkonstruktion, die altes Holzgebälk und modernen Stahl für die Theatertechnik vereint. Das Licht wirkt magisch bis exotisch – und da mischen sich auch Publikumsgeräusche und allerlei Tierlaute. Die Kamera führt in eine im dunklen Raum schwebende, opulente Loge à la Grand opéra: vergoldete Ornamente, roter Samt, Portalstützen aus antiken Nymphen. Da sitzt ein Herr im Frack und erzählt, dass niemand gekommen wäre, wenn es sich nicht „um ein kulturelles Ereignis von erregender Einmaligkeit“ handeln würde, den „Karneval der Tiere“. Er schaut durch sein goldenes Lorgnon – und wir mit ihm in zwei kreisrunde Blickausschnitte: auf eine wilde, bunte, aber „edel“ gekleidete Tiergesellschaft unten in der Sitztribüne. Da wird zu Tierkopf, -pfote, -pranke und -haut allerlei Talmi-Schmuck, Abendrobe, Pelz und sogar Kopfschmuck getragen – man ist ja schließlich wer! Eine gelungene Videomontage, mit der Ausstatter und Filmbildner Christoph Fischer und Regisseurin Katharina Kastening alle derzeitigen Besuchsverbote in einer Vorwegaufnahme gekonnt überbrücken. Da gibt es in regelmäßigen „Einblicken“ zwischen den Musiknummern was zu gucken und zu staunen, denn der Theater- und vor allem der Kostümfundus haben einfach „alles“ ausgegraben. So kunterbunt entlarvend, dass kurz philosophiert werden muss, ob nicht diese tierischen Exoten eher wir Menschen in allerlei Kostümen sind …

Nur kurz, denn dann setzt die Musik ein. Eine Krankamera hoch über dem Podium blickt senkrecht nach unten, auf die in Pandemie-Abständen sitzenden zwanzig Instrumentalisten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters sowie zwei offene Konzertflügel; an denen sitzen In Sun Suh und Lukas Rommelspacher, der spielt und dirigiert. In guter Klangtechnik wirkt der Marsch der Löwen wirklich „maestoso“, beschwören die Klavierläufe den Einzug der Hühner-Pyramide, führt der Kontrabass „pompös“ die Elefanten ein und beschwören Xylophon, Streicher-Sirren sowie Klavier-Perlen das „Aquarium“. Dazwischen wechselt das Bild immer wieder hinauf in die Loge, wo Schauspieler Christoph Pütthoff als „Kenner“ von Musik und Menschen die Zwischentexte von Loriot spricht. Der gab 1975 noch nicht wie in seinen späteren Klassikauftritten eminent wortwitzige, Opern-karikierende und herrlich entlarvende, sondern fein ironische Kommentare zum exquisiten Esprit der Musik. Pütthoff verstärkt dies mit kleinen mimischen Kommentaren, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Das Schmunzeln gipfelt in der quälend wiederholten Frage der jungen Katzen „Kommt jetzt der Schwan?“ als „Running Gag“ Loriots – und stellvertretend für das Musizieren aller sei das dann „grazioso“ erklingende Schwan-Cello-Solo von Sabine Krams genannt. Der musikalische „Zirkus“ klingt schließlich Cancan-nahe und fetzig aus. Nicht zu vergessen der Schluss-Coup der Inszenierung: Der Logenbesucher geht durch die leeren Reihen davon – da sitzt doch tatsächlich ein edel-weiß-gefiedertes, echtes Huhn gackernd auf einem Stuhl! Ist ihm das Taxi davongefahren? Gelungene musiktheatralische Unterhaltung.

Wolf-Dieter Peter

„Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) (1886) // Große zoologische Fantasie für Kammerorchester von Camille Saint-Saëns in der Textfassung von Loriot (1975)

Die Inszenierung ist als Stream bis 30. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

Arthouse-Dragqueen

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Wie oft wird über die Probleme von Opernstreams gesprochen: Dass sie mittlerweile unerträglich seien und wie schwer es falle, ihnen mit Opernbesuchs-Manier gegenüberzusitzen, sie mit hoher Konzentration aufzusaugen oder überhaupt ohne repetitive Pausenknopf-Intermezzi bis zum Ende durchzuhalten. Gleichermaßen laut sind die Rufe nach neuen Formaten, die mehr wollen als die analoge Bühne zu imitieren, deren ästhetische Erfahrung sowieso nicht gespiegelt werden könne.

Aus diesem Covid-Riss durch die ziemlich versteinerten Bühnenstrukturen der Oper erwuchs der Arthouse-Opernfilm „The Island We Made“ an der Opera Philadelphia. Allein im Grundkonzept ist er genau das, wonach wir gerufen haben: ein kurzer ästhetischer Opernfilm mit einer emotional und inhaltlich verständlichen Handlung, gebettet in elektronische, aber sehr bekömmliche und nahegehende Musik. Und dazu noch der Funken „Wow!“, den es zum Bildschirmsog braucht: Die Hauptrolle spielt Dragqueen-Superstar Sasha Velour. Bei ihr sollte man nicht an große Perücken à la Olivia Jones denken, vielmehr an Pollock oder Dalí in Kleidung und Make-up. In der Oper erscheint Sasha Velour in minimalistischer und doch extravaganter Drag, gehüllt in ein gelbes Gewand und mit sanft glitzernden spitzen Schmucksteinen am Kopf, an den Händen und Schuhen. Schon extrovertiert, aber nicht aufdringlich. Ruhig und echt. Tief durchdringend in Velours Blick.

In „The Island We Made“ schmiegt sie die Performancekunst des Drags – das sogenannte Lip-Syncing (eine Art Playback-Performance) – an die Kunstform der Oper. Was sonst bei Dragshows bunt, spektakulär und popkulturell geprägt ist, sind jetzt die Harfenarpeggien von Bridget Kibbey und der ruhig erzählerische Gesang von Eliza Bagg. Sasha Velour lip-synced im „Duett“ mit einer weiteren Rolle und zwar der Mutter, die während der elf Minuten eine Tonfigur formt. Hier liegt der Handlungskern des Opernfilms. Er ist eine Ode an die Mütter, die uns schufen und uns durch all die Dinge formen, die sie selbst einst geprägt haben: „My ears, my lungs … you made me.“

Nun zum Visuellen. Während Regisseur und Produzent Matthew Placek durch eine Wohnung in der Blue hour filmt, die mit ihren Pastelltönen wie eine verblasste Erinnerung wirkt, könnte jedes Bild, dass er in abgehakten Jump Cuts auf die Bühne holt, ein eigenes Kunstwerk sein. Das hyper-symmetrische Schlafzimmer, das Licht in den Millimeter genau angeordneten Lamellen, das Regal mit der vergoldeten Teekanne – kein einziges Staubkorn, kein Gegenstand an falscher Stelle. Wir sind hier in einer liebevollen Erinnerung, die sich auf Sasha Velours Lippen zu einem Lächeln kräuselt.

Dazu erklingt Angélica Negróns Musik mit starker Harfenfärbung und elektronischen Verzerrungen in ähnlichem Pastell-Flair, wie die Einrichtung der Wohnung. Immer wieder leuchten elektronische oder gesangliche Spitzen in der sonst sphärischen Musik, wie die Kristalle an Sasha Velour. Sowohl das Visuelle als auch die Musik sorgen für sehr einheitlichen, unaufgeregten Genuss mit einer Prise an herausstechendem Sogpunkt, wie das leuchtende Gelb von Sasha Velours Kleid oder der musikalische Höhepunkt bei Minute 9, der sich in Harfentürmen und Stimmverwaberung ergibt.

Natürlich ist der Arthouse-Opernfilm mit seinen 10 Dollar für elf Minuten eine Investition. Aber er regt zum Nachdenken an, wie die Oper und die Kunst des Drags voneinander profitieren können – und lohnt sich.

Maike Graf

„The Island We Made“ (2021) // Angélica Negrón

Der Opernfilm kann über die Website des Theaters abgerufen werden.