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Wien

Als die Oper die Zukunft noch vor sich hatte

Wien / Theater an der Wien (September 2021)
Emilio de’ Cavalieris „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ als Stück Musiktheater von heute

Wien / Theater an der Wien (September 2021)
Emilio de’ Cavalieris „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ als Stück Musiktheater von heute

Das findige Stagione-Haus an der Linken Wienzeile agiert in der Programmdramaturgie und vor allem bei der Auswahl der Regiehandschriften in den Jahren unter Roland Geyer deutlich ambitioniert – einmal mehr zum Auftakt der neuen Spielzeit, der im Zeichen von Robert Carsen steht. Der kanadische Regiestar, dem an der Staatsoper (unter anderem bei seiner „Frau ohne Schatten“) auch schon mal eisiger Gegenwind entgegengeschlagen war, erweist sich jetzt als genau der Richtige, um die wahrscheinlich erste Oper überhaupt für die Gegenwart nicht nur genießbar, sondern zu einem Erfolg beim Publikum einer ganzen Aufführungsserie zu machen. Auf den ersten Blick ist „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ von Emilio de’ Cavalieri (1550-1602) eine ziemlich durchsichtige Parteinahme für die römische Kurie, die mit dem Heiligen Jahr 1600 ein Zeichen gegen die Reformation setzten wollte. Das Tolle an Carsens szenischer Umsetzung ist, dass er das Subversive, das noch jeder wirklich überlebensfähigen Kunst innewohnt, freilegt. Was für einen Moment wie pure Propaganda der Gegenreformation wirkt, die zweifelnde Individuen in ein katholisches Moralkorsett zwingt, wird zum Triumph der Emanzipation von zwei jungen Leuten (Anett Fritsch und Daniel Schmutzhard als Anima und Corpo in Jeans wie von heute), die nach dem rechten Weg für ihr Leben suchen. Carsen spannt dabei einen Bogen von der nüchternen Probensituation, bei der sich die Mitwirkenden fragen, was das Ganze soll, über choreografierte Ensembleszenen bis hin zu spektakulären Bildern. Mit einer beweglichen riesigen Pforte, mit dem Einbruch der Verführung von Erotik, weltlichem Glamour und Vitalität des Lebens und deren Entlarvung als vergänglicher Schein. Der Clou ist die Illustration der Aussicht von Himmel oder Hölle durch an Seilen auffahrende und niederstürzende Seelen in Menschengestalt. Am Ende triumphieren menschliche Emanzipation und Selbstbestimmung in einem jubelnden Fest ausgelassener Freude. Wenn es nur so einfach wäre!

Giovanni Antonini und seine Alte-Musik-Spezialisten von Il Gardino Armonico, der Arnold Schoenberg Chor und alle Protagonisten (darunter Georg Nigl als Tempo und Counter Carlo Vistoli als Schutzengel) sorgen zudem für ein musikalisches Fest.

Roberto Becker

„Rappresentatione di Anima et di Corpo“ (1600) // Rappresentatione per recitar cantando von Emilio de’ Cavalieri

Vokale Schwerelosigkeit

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Spätestens bei der Kavatine des Faust „Salut! demeure chaste et pure“ wird klar, dass man Zeuge eines großen Belcanto-Opernabends ist – trotz fehlenden Publikums, andauernder Corona-Pandemie und einer teilweise provokanten Inszenierung durch Frank Castorf. Der neue Direktor Bogdan Roščić punktet schon allein durch seine exzellenten Besetzungen. Diesmal ist es der peruanische Tenor Juan Diego Flórez, der seinen ersten Bühnen-Faust gestaltet. In der Gounod-Oper (Uraufführung 1859) kann er beweisen, dass sein Singen an Dramatik zugenommen hat, er aber auch weiterhin über jene vokale Schwerelosigkeit verfügt, die seinen Faust an Nicolai Gedda oder Giuseppe di Stefano erinnern lässt. Die große Liebes-Szene ist ebenso wie das Final-Terzett von höchster Qualität – fabelhaft! Ein Glücksfall ist aber auch die Marguerite der australischen Sopranistin Nicole Car. Sie gehört seit ihrem Herbst-Einspringen als Tatjana in „Eugen Onegin“ zu den neuen Publikumslieblingen Wiens. Sie verfügt über eine dunkle Mittellage, hat keine Schwierigkeiten mit den Koloraturen der Juwelen-Arie und wird im Finale fast „hochdramatisch“. Dazu kommt ein Hochtalent aus Polen: Adam Palka, ein junger Méphistopélès mit rollenden Augen, einer „öligen“ Bass-Stimme und ausgeprägtem Spieltrieb. Exzellent auch der höhensichere Valentin des Franzosen Étienne Dupuis – und ebenfalls auf der Haben-Seite der Siébel von Kate Lindsey, die Marthe von Monika Bohinic und der Wagner von Martin Häßler. Am Pult steht der Wahl-Österreicher (RSO-Ära) Bertrand de Billy. Das Orchester der Wiener Staatsoper wie auch der Chor (Leitung Thomas Lang) wollen offenbar beweisen, dass man sich nicht durch den Lockdown in die Knie zwingen lässt.

Bleibt noch die Regie von „Altmeister“ Frank Castorf (Bühnenbild Aleksandar Denić). An ihr werden sich wohl wieder die Geister scheiden. Sie bietet zu viel gleichzeitig – Drehbühne, Live-TV-Elemente, Videozuspielungen (aktuelle Straßenszenen aus der U-Bahn) – und setzt eine mehrstündige Beschäftigung voraus. Wie soll man die vielen afrikanischen Kostüme (Adriana Braga Peretzki) einordnen, wenn man nicht aus dem Munde von Castorf hört, dass für ihn das Entstehungs-Jahr 1859 ein Synonym für den beginnenden Mega-Kolonialismus der Franzosen in Afrika ist? Den Rezensenten hat die Inszenierung dennoch voll überzeugt, nicht zuletzt, weil die musikalischen „Ohrwürmer“ zu dem Übermaß an Aktivismus positiv ausgeklammert bleiben. Und das musikalische Niveau ist tatsächlich außerordentlich. Opernfreunde werden sich daran gewöhnen müssen, zu überprüfen, ob es eine Erweiterung des Repertoires am Haus gibt. Elīna Garanča als neue Kundry und Juan Diego Flórez als idealer Faust innerhalb von 14 Tagen: Es kann so bleiben!

Peter Dusek

„Faust“ (1859) // Oper von Charles Gounod

Vokaler „Karfreitagszauber“

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Musikalisch kann man Richard Wagners Spätwerk „Parsifal“ (Uraufführung 1882) derzeit wohl nicht besser besetzen: Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča entschied sich für die Wiener Staatsoper, um den seit Jahren angekündigten „Fachwechsel“ zu wagen. Das Ergebnis ist schlichtweg sensationell: Ihre Kundry ist je nach Bedarf lyrisch oder dramatisch, wechselt zwischen Belcanto-Samt und strahlenden Spitzentönen, agiert voller Spielfreude. Ein phantastisches Resultat – Amneris und Ortrud lassen grüßen! Auch Ludovic Tézier debütiert eindrucksvoll als Amfortas, Jonas Kaufmann sang zuvor erst einmal in Wien den „reinen Toren“ und ist in vokaler Höchstform – und Georg Zeppenfeld, Wolfgang Koch und Stefan Cerny komplettieren dieses „Traum-Ensemble“ als Gurnemanz, Klingsor und Titurel. Garanten für das hohe Niveau sind auch das Orchester und der Chor der Wiener Staatsoper unter dem ambitionierten Musikdirektor Philippe Jordan.

Pandemiebedingt findet „Parsifal“ zwar ohne Publikum statt. Regie und Ausstattung des russischen Dissidenten Kirill Serebrennikov, der trotz Ausreiseverbot vom Computer von Moskau aus agierte, werden jedoch hitzige Diskussionen auslösen. Der Allround-Künstler (Theater, Film, Oper) aktualisiert das „Bühnenweihfestspiel“ „auf Teufel komm raus“. Montsalvat ist ein südfranzösisches Gefängnis für „schwere Burschen“, Kundry fotografiert für ein Modemagazin (Blumen-Models), Amfortas kämpft erfolglos gegen die herrschenden Zustände. Und dann kommt es zu einem dramaturgischen Kniff, der das Pro und Contra zur Regie noch weiter anheizt: Parsifal wird doppelt dargeboten. Der Tenor (Jonas Kaufmann) wird durch sein um mindestens 20 Jahre jüngeres und stummes Double (Nikolay Sidorenko) ergänzt. Das wirkt so lange überflüssig, bis es zur Schlüsselszene – der misslungenen Verführung im zweiten Akt – kommt. Dann beginnt man das Konzept zu mögen – oder aber die Ablehnung wird noch größer! Der Rezensent gehört ersterer Gruppe an. Denn nach der vor Leidenschaft vibrierenden Kuss-Szene gibt es noch mehrere Episoden, die unter die Haut gehen: etwa die Herzeleide-Erzählung über Parsifals Mutter – da kommen auch noch die Großmütter hinzu und erinnern an die ewige Wiederkehr der Welt. Oder die Karfreitags-Szene, in der sich die Frauen der Gefangenen um Parsifal versammeln und Kerzen und Blumen bringen. Besonders eindrucksvoll: das Öffnen der Gefängnistüren und das einströmende Licht der Hoffnung. Alles in allem hätte man unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht mehr erreichen können.

Peter Dusek

„Parsifal“ (1882) // Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Juli 2021 kostenfrei über ARTE concert verfügbar.

Glamouröses It-Girl twittert sich durchs Leben

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wenn jeder erkrankte Tenor an der Wiener Staatsoper mit großartigen Sängerdarstellern wie Piotr Beczała (zuletzt bei „Carmen“) oder nun mit Juan Diego Flórez als Einspringer besetzt wird, darf man sich glücklich schätzen. Der Peruaner lässt seine Spitzentöne wunderschön erstrahlen – vor allem im piano – und besticht mit gefühlvollem Spiel. Für einen perfekten Alfredo fehlt allerdings mehr Durchschlagskraft. Im Belcanto-Fach wahrscheinlich unübertroffen, muss seine Tenorstimme für Verdi noch etwas dramatischer werden. Auch Pretty Yende ist eine außergewöhnliche Darstellerin und berührt nuancenreich bis zum tödlichen Ende. Die südafrikanische Sopranistin beweist ausdrucksstarke Phrasierungskunst und klare Höhe, auch wenn man bei der Mittellage manchmal noch Kraft und Volumen vermisst. Sie ist aber trotzdem eine sehr gute Violetta mit herzzerreißendem „Addio del passato“. Ensemblemitglied Igor Golovatenko bestätigt nach seinem Posa im vergangenen Herbst erneut, dass er über einen wohltönenden, noblen Verdi-Bariton verfügt. Das Dirigat von Hausdebütant Giacome Sagripanti wurde oft langweilig und uneinheitlich geführt.

Die Koproduktion mit der Opéra national de Paris (Premiere 2019) führt uns unter Regisseur Simon Stone in die heutig-schnelllebige Zeit. Chatverläufe und gepostete Selfies flimmern rasant auf übergroßen Video-Leinwänden im Hintergrund. Dies überfordert die Konzentration und führt schnell zu „digitaler Schwindsucht“. Violetta ist keine Edelkurtisane, sondern gelangt als Influencerin mit eigener Parfümlinie zu Ruhm und Reichtum. Umso weniger ist schlüssig, warum Germont sie als eine „vom Weg Abgekommene“ sieht und es stattdessen bevorzugt, seine Tochter an einen saudischen Prinzen zu verheiraten – angesichts der Frauenrechte in diesem Land eher unglaubwürdig. Alfredos Liebesgeständnis wird zwischen Mistkübeln vorgetragen, was ihn scheinbar so verwirrt, dass er in Flaschenkisten stürzt. Um idyllisches Landleben darzustellen, muss Violetta in Gummistiefeln einen Traktor reparieren (worauf Germont von „tanto lusso“ singt?). Die lebende Kuh von der Pariser Produktion hat hierzulande nicht den Tierschutzgesetzen entsprochen und wurde scheinbar auf die Almwiesen zurückgeschickt. Alfredo – im karierten Holzfällerhemd – sitzt bei einem Schubkarren, als ihn sein Vater mit „Di provenza il mar“ zurückgewinnen will. Fällt dem Regieteam zum Thema „Land“ wirklich nichts Besseres ein? Danach muss der Chor vor flimmernden Graffiti-Wänden beinahe unbeweglich in skurrilen Kostümen – Doktor Grenvil mit Dildo als unbegreiflichem „Kopfschmuck“– ein mehr als geschmacksloses Fest bei Flora feiern. Mit gut gezeichneter, dramatischer Wirkung überzeugt lediglich der Beginn des finalen Aktes, als die Todgeweihte ihre Chemotherapie erhält. Im Unterschied zu den anderen Patienten im Hintergrund ist die an Krebs Erkrankte (auch ohne Follower) vollkommen verlassen. Nicht einmal die – in Corona-Zeiten unerlässliche – Jogginghose stört (obwohl sie zusammen mit dem bauchfreien Top sehr unvorteilhaft wirkt). Für die Autorin konnte der Regisseur das Werk Verdis nicht glaubwürdig ins Heute übertragen – besonders beschäftigt die Frage nach Violettas Stigma, die zum Verzicht ihrer großen Liebe führt.

Susanne Lukas

„La traviata“ (1853) // Oper von Giuseppe Verdi

Im trostlosen, brutalen Grenzgebiet

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Die fünfte Premiere der Wiener Staatsoper in dieser Saison zeigt Calixto Bieitos Inszenierung aus dem Jahr 1999, ursprünglich in San Francisco und Boston herausgebracht und nach 29 Theateraufführungen nun auch für Wien einstudiert. Der Regisseur will die menschlichen Begrenzungen in unseren Köpfen zeigen und führt uns zur spanischen Exklave Ceuta an die Grenze zwischen Marokko und der Iberischen Halbinsel mit viel aggressivem Realitätssinn und Perspektivlosigkeit. Das Bühnenbild von Alfons Flores zeichnet sich durch Leere und Düsternis aus. Im ersten Akt ist nur eine Telefonzelle zu sehen (aus der Carmen die „Habanera“ singt – mit wem sie telefoniert, bleibt ein Rätsel), ebenso eine Fahnenstange, an der eine Frau von der bestialischen Soldatenmeute malträtiert und aufgehängt wird. Danach befinden wir uns nicht in der Schenke von Lillas Pastia, sondern fünf ausrangierte Mercedes aus dritter oder vierter Hand dienen als einzige Requisiten. Auf ihnen wird ordinär und betrunken getanzt und hinter einem Auto wird erzwungener Oral-Sex dargestellt; außerdem zieren Campingsessel und ein Christbaum (?) das Bild des zweiten Aktes. Ein Mädchen (die Carmen der Zukunft oder vielleicht Mercédès’ Tochter?) spielt mit einer Barbie-Puppe am Souffleurkasten. Ein übergroßer Stier an der Rückwand thront im dritten Akt an der Rückwand und dominiert die leere Bühne. Und im Schlussakt sehen wir eine Bikini-Schönheit, die sich auf einem „Spanien-Badetuch“ eincremt – auf die Erklärung dazu wartet man noch?! Die Kostüme von Mercè Paloma wirken wie elende Hausfrauen-Kleider der siebziger Jahre und sollen wohl die Armut der Roma und Schmuggler darstellen. Praktisch alle Männer zeichnen sich durch Brutalität gegenüber den weiblichen Figuren aus – offensichtlich wollte der spanische Regisseur zeigen, welche Behandlung Frauen (als Vorbild dienten seine Großmütter) gewöhnt sind und wie ihr Leben in der Realität aussieht/aussah. Wer klassische Ästhetik und schöne, warme Farben liebt, wird der Zeffirelli-Inszenierung von 1978 nach 164 Vorstellungen nachweinen.

Als phänomenale Carmen erlebt man Anita Rachvelishvili mit großer Stimme und herrlichem Timbre – erstmals in dieser Rolle in Wien. Ihre ausdrucksstarke, intensive Darstellung einer Vollblutfrau, die ihren Körper bewusst einsetzt und die leidenschaftlich wie ein eruptierender Vulkan ist, zeichnet eine kraftvolle Studie der freiheitsliebenden Romni. Nach seinem Rollendebüt 2018 an der Wiener Staatsoper ist Piotr Beczała erst das zweite Mal in der Rolle des eifersüchtigen Brigadiers Don José zu erleben. Große Phrasierungskunst, samtiges Belcanto-Timbre und bombensichere Höhe gelingen dem Polen mühelos. Besonders das leidenschaftliche Liebesgeständnis der Blumenarie bleibt dauerhaft in Erinnerung. Als Hausdebütantin stellt sich Ensemblemitglied Vera-Lotte Boecker als Einspringerin vor. Ihre Micaëla ist kein blasses, unschuldiges Dorfmädchen, sondern eine rauchende Frau, die auch mit erotischen Attacken zu überzeugen versucht. Die Koloraturen erklingen lupenrein, nur zeitweise mischt sich unerwünschte Schärfe in die Stimme der Deutschen. Erwin Schrott präsentiert sich in Eleganz, Höhe und Tiefe gewohnt souverän und ist ein Bilderbuch-Escamillo. Auch Peter Kellner (Zuniga), Szilvia Vörös (Mercédès) und Slávka Zámečníková (Frasquita) aus dem Ensemble bieten starke Leistungen. Erstmals am Pult im Haus am Ring, darf Andrés Orozco-Estrada für Leidenschaft, Leichtigkeit und Emotionen sorgen.

Susanne Lukas

„Carmen“ (1875) // Opéra comique von Georges Bizet

Flüchtlingsdrama im Containerdorf

Wien / Theater an der Wien (Oktober 2020)
Exzellentes „Porgy and Bess“-Ensemble swingt und jazzt

Wien / Theater an der Wien (Oktober 2020)
Exzellentes „Porgy and Bess“-Ensemble swingt und jazzt

Von der trostlosen Catfish Row im Charleston von 1870 führt uns Regisseur Matthew Wild, vorzüglich getroffen, zum harten Überlebenskampf in 13 heruntergekommenen Kastencontainern, wo die lebendige Gemeinde – Flüchtlinge der Gegenwart – auf der Suche nach dem gelobten Land gestrandet ist und auch noch mit Rassenproblemen, Drogensucht und Selbstjustiz konfrontiert wird. Mit Detailarbeit in der Personenführung, farbenfrohen Kostümen (Bühnenbild: Katrin Lea Tag), erfrischender Natürlichkeit der Protagonisten und vokaler Präsenz kann die intensive Gefühlswelt der farbigen Menschen ohne Schwachpunkte auf die Bühne gebracht werden.

Wayne Marshall interpretiert Gershwins Kraft der Musik nuancenreich und mit sicherem Gespür für die Balance zwischen rhythmischer Energie, lyrischer Schönheit und zarter Romantik. Die menschlichen Gewalttaten und das Naturschauspiel des Sturms werden vom Wiener KammerOrchester, um erfahrene Jazzmusikern erweitert, eindringlich charakterisiert. Alle Protagonisten und der Chor offenbaren ihre Gefühle intensiv und eruptiv, sie drücken ihr hartes Leben und die Gefühle in emotionalen Gesang aus. Besonders stark erlebt man das Gebet für die Fischer am Meer während dem gewaltigen Unwetter, das zugleich als Metapher für den eigenen Überlebenskampf gesehen werden kann.

Clara (Jeanine de Bique) versucht mit fülligem, wunderschön geführtem Sopran ihr Baby mit „Summertime, an’ the livin’ is easy“ zu beruhigen. Ihr Mann Jake, der durchschlagskräftige Ryan Speedo Green mit warmem Bariton, stirbt als Fischer am Meer. Die ausdrucksstarke Mary Elizabeth Williams übertönt beeindruckend das Orchester und trauert als Witwe Serena mit schönen Legato-Bögen und dramatischer Stimme um ihren Mann. Auch bei dem Gebet für die kranke Bess brilliert sie mit glasklarer Höhe, um „Doktor Jesus“ um Hilfe zu bitten. Als sehr agilen, schleimigen Drogenhändler Sportin´Life verführt der ausgezeichnete Zwakele Tshabalala mit hellem Tenor, großartigen Tanzeinlagen und Kokain die verzweifelte Bess zu einem Luxus-Leben in New York. Norman Garrett könnte noch stimmkräftiger und bedrohlicher als brutaler Crown sein, aber seine kraftstrotzende Statur ist durchaus rollendeckend. Tichina Vaughn ist als gelbe Zöpfchen tragende Maria resolut und wehrt sich gegen den Rauschgifthandel im Containerdorf. Einfach phänomenal und berührend agiert das große Liebespaar Pumeza Matshikiza (Bess) und Simon Shibambu als lahmender Porgy. Die Südafrikanerin schafft es hervorragend, die Figur zwischen leichtlebigem Vamp, zerbrechlicher Süchtiger und ehrlicher Liebender anzulegen. Aus ihrer wundervollen Mittellage erstrahlt eine helle, klare Höhe. Ebenfalls aus Südafrika stammend, kann Shibambu mit Knieorthese und Krücke mit prachtvoller, kräftiger und warmer Stimme seine große Liebe für Bess zum Ausdruck bringen. Zuletzt macht er sich mit „Oh Lawd, I’m on my way“ mit Gottes Hilfe auf den Weg zur Geliebten nach New York, und das Publikum wünscht ihm nach drei herrlichen Stunden von Herzen das Beste für diesen mühsamen Weg.

Susanne Lukas

„Porgy and Bess“ (1935) // George Gershwin

Russisches Seelendrama

Wien / Wiener Staatsoper (Oktober 2020)
„Eugen Onegin“ in unspektakulärem Einheitsbühnenbild

Wien / Wiener Staatsoper (Oktober 2020)
„Eugen Onegin“ in unspektakulärem Einheitsbühnenbild

Die dritte Saison-Premiere an der Wiener Staatsoper beginnt zwei Tage zuvor mit einem unfreiwilligen Paukenschlag: Für Tamuna Gochashvili muss rasch eine neue Tatjana gefunden werden – Nicole Car springt ein und gibt ihr Hausdebüt vor ihrer geplanten „Faust“-Aufführung im nächsten April. Die Australierin schafft bei ihrem Sprung ins kalte Wasser eine einfühlsame Darstellung als „blasse Traurige und Schweigsame“. Die Briefszene gelingt dem schönklingenden Sopran vorzüglich mit ihrer dunklen Mittellage, aus der hohe Töne kraftvoll zu leuchten beginnen. Auch wenn es absolut unmöglich gewesen wäre, dass eine Frau im Russland des 18. Jahrhunderts den Dialog beginnt und einen heißblütigen Liebesbrief „an den Schutzengel oder heimtückischen Verehrer“ schreibt, kann der intensive Vortrag voller Zweifel und mit umfassender Zartheit berühren. Unverständlich ist nur, warum bei einem der Höhepunkte dieses Abends die Sessel an dem Tisch lautstark umfallen müssen – Tatjanas Gefühlsausbruch wäre auch ohne diesen Lärm glaubwürdig genug gewesen. Hausdebütant Andrè Schuen bietet vokal und darstellerisch eine solide Leistung, mitreißen kann sein Onegin aber mit wenig Leidenschaft (auch im letzten Akt) und seinem unauffälligen Bariton nicht; gut gefallen seine zur Schau gestellte Eitelkeit und Kühle. Brillant erlebt man hingegen Bogdan Volkov, der für die Rezensentin vom jugendlichen, feingliedrigen Aussehen und mit seiner eindringlichen Interpretation der ideale träumerische, sensible und tragische Lenski ist. Nach Olgas Koketterie ist der Dichter zutiefst verletzt und singt – in dieser Produktion – das Couplet von Triquet. Dies gelingt stimmlich famos und passt auch inhaltlich treffend, um einen Lenski zu zeigen, der – nach seinem empfunden großen Drama – Aufmerksamkeit sucht und geliebt werden will (auch wenn er sich dabei lächerlich macht). Schwermütig nimmt der russische Tenor bei „Kuda, Kuda“ mit zarten pianissimi und sentimentaler Höhe Abschied vom Leben und den entschwundenen Tagen seiner goldenen Jugend – ein fantastischer Glanzpunkt des Abends, bevor sich nach einem Gerangel mit Onegin an dem langen Tisch des Einheitsbühnenbildes ein tödlicher Schuss löst. Als sein „ausgelassenes Vögelchen“ Olga spielt die kokette Anna Goryachova mit frischem, dunklen Mezzo keineswegs das unschuldige Mädchen, sondern wirkt mit Kaltschnäuzigkeit sehr herablassend gegenüber ihrem Verlobten. Die Rolle des Fürsten Gremin ist dankbar: Der noble Russe Dimitry Ivashchenko kann sich zwei Akte vorbereiten, singt seine Arie mit sonorer Tiefe und Ausdrucksstärke, räumt ab und bekommt für sein schönes Liebesgeständnis auch noch den Sopran. Eine starke Leistung bietet Larissa Diadkova als Amme Filipjewna, die unglücklich von ihrer erzwungenen Eheschließung im 13. Lebensjahr erzählt.

Das Dirigat unter Tomáš Hanus bringt den lyrischen Charakter gut heraus, die intensiven Streicher neigen zur Melancholie und die dramatischen Steigerungen brechen lautstark aus. Regie und Bühnenbild von Dmitri Tcherniakov wurden 2006 für das Bolshoi-Theater Moskau kreiert und waren bereits in Paris, London, New York und Tokio zu sehen. An einem riesigen Tisch wird gegessen, geträumt, getrunken oder man duelliert sich. Die Personenführung wird bis ins kleinste Detail gezeichnet und zeigt spannende Charakterstudien über die Tragödien von Tatjana, Onegin und Lenski. Das Publikum ist vor allem erfreut, die ungeliebte Inszenierung von Falk Richter losgeworden zu sein, und das ausverkaufte Haus inklusive Plácido Domingo jubelt.

Susanne Lukas

„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski

Neue Ära mit Mut zum Risiko

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Mut und fehlende Risikobereitschaft kann man dem neuen Direktor Bogdan Roščić nicht absprechen, wenn er gleich mit der ersten von zehn Saison-Premieren das Haus vor Corona-bedingt 1200 Besuchern und damit einer etwa 50-prozentigen Auslastungsquote (wieder-)eröffnet und Puccinis „Tragedia giapponese“ ansetzt. Alles steht und fällt mit einer Sopranistin, die stimmlich und darstellerisch die Entwicklung von der 15-jährigen japanischen Geisha zur liebenden und wartenden Ehefrau durchmacht und zuletzt nicht nur stirbt, sondern sich auch noch entehrt fühlend durch Jigai, dem weiblichen, japanischen Selbstmord-Ritual, selbst richtet.

Asmik Grigorian gibt ihr Hausdebüt und begeistert nach einer fantastischen Salome bei den Salzburger Festspielen 2019 auch diesmal auf allen Ebenen. Ihre Cio-Cio-San gibt sich anfangs noch reserviert, stimmlich zurückhaltend und zeitweise recht herb klingend. Während dem Liebesduett lassen die Spitzentöne aber jugendlichen Klang und den Wunsch, geliebt zu werden, aufblühen. Im zweiten Akt gelingt der phänomenalen Singschauspielerin dann ein emotionales Gesamtkunstwerk, wo alle Gefühlsausbrüche mit zarten Pianissimi-Bögen ebenso zutiefst berühren können wie die dramatischen Passagen. Sie erzeugt Gänsehaut-Gefühl, als sie dem berührten Konsul über ihr Kind mitteilt, dass sie, die verlassene Mutter, wieder tanzend ihr Geld verdienen soll.

Als unsensiblen B.F. Pinkerton erleben wir den britisch-italienischen Tenor Freddie De Tommaso, ebenfalls ein Hausdebütant. Höhensicher, durchsetzungskräftig und mit müheloser Phrasierungskunst erregt ihn das puppenhafte Spiel der Braut vor der Hochzeit und er freut sich, diese schöne Blume gepflückt zu haben. Darstellerisch kann das neue Ensemblemitglied aber kaum Akzente setzen. Einen mitfühlenden, mahnenden Sharpless stellt Boris Pinkhasovich mit warmem Klang und voluminösem Bariton dar. Die junge Virginie Verrez besticht mit klangvoller Tiefe und bringt beim Blumenduett stimmlich den Frühling auf die Bühne. Patricia Nolz ist eine hübsche Kate Pinkerton, als Heiratsvermittler Goro könnte Andrea Giovannini noch etwas stimmkräftiger singen, Stefan Astakhov wirbt als Fürst Yamadori umsonst mit schönem Tenor und Evgeny Solodovnikov donnert als Onkel Bonze.  

Der neue Generalmusikdirektor Philippe Jordan atmet mit den Solisten förmlich vom Pult aus mit und leitet sowohl kraftvoll und spannungsgeladen als auch zart und mit Wohlklang in den intimen Momenten. Der feinfühlige Summchor ist perfekt mit dem flexiblen Orchester abgestimmt und wenn man erstmals seit der Zwangspause im März die Wiener Philharmoniker hören darf, kommen manchem ohnehin die Tränen.  

Die Inszenierung aus dem Jahr 2008 stammt vom verstorbenen Filmregisseur Anthony Minghella („The English Patient“). Seine Witwe Carolyn Choa (Regie) setzt auf eine kahle Bühne mit Spiegelflächen an Decke und Boden, wo sich die farbenfrohen Kostüme opulent in Szene setzen können. Besonders berührend ist der dreijährige Bub, der als Puppe dargestellt und zuletzt der Mutter entrissen wird. Wer den einhelligen Erfolg versäumt hat, darf sich im Januar auf eine weitere Vorstellungsserie mit fast gleichem Ensemble freuen. 

Susanne Lukas

„Madama Butterfly“ (1904) // Giacomo Puccini