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Leichtsinn mit Folgen

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Heute ist die Versuchung wohl, „Influencerin“ oder „Model“ zu werden und dazu Bernsteins „Glitter and be gay“ zu singen … Diesem schwelgerisch-bösen Mädchentraum setzte Abbé Prévost schon 1731 ein Roman-Denkmal. Den damaligen Bucherfolg hat dann über 100 Jahre später François Auber als Oper gestaltet. Doch erst Jules Massenets Vertonung von 1884 wurde zu einem Erfolg, den Giacomo Puccini wenige Jahre später noch übertrumpfte.

Massenets Manon verlangt keinen üppigen und am Ende fast hochdramatischen, auf alle Fälle hochexpressiven Sopran, sondern „Lyrismus pur“. Dafür ist Elsa Dreisig in der Hamburger Einstudierung eine Idealbesetzung: noch ein Hauch von Kindfrau, dazu viel ungeformte Lebenserwartung, die prompt mal auf diesen und mal auf jenen Weg gelockt werden kann. Das haben Regisseur und Dirigent erfreulicherweise erkannt und weitgehend interpretatorisch umgesetzt.

Regisseur David Bösch nutzt die Corona-Vorgaben und zeigt Menschen oft auf Distanz mit der Sehnsucht nach Nähe. Es sind Menschen in einem zeitlosen Jetzt und Hier und Heute. So genügen ein paar Stühle und Tische auf sonst leerer Bühne für die Erstbegegnung im Wirtshaus, dann für das sehr schlichte Liebesnest in Paris. Kontrastreich fulminant ist Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostümbildner Falko Herold Manons „Erfolg“ in der Welt des „Glitter and be gay“ gelungen: als Shootingstar im Showgeschäft, alles unter der Leuchtschrift „C’est la vie“, alles glamouröse Oberfläche – dahinter die Glücksuche an einarmigen Banditen, wo sich die nicht so glücklichen, daher sich sexy anbietenden „Freundinnen“ Poussette, Javotte und Rosette tummeln. Dass die dann doch zu zarte Manon noch einmal das Glück bei Des Grieux sucht, ihn aus seiner religiösen Zuflucht herauslockt: All das überzeugt szenisch wie musikdramatisch. Nach dem kurzen Glückspiel-Irrglauben lässt Bösch dann alles in einer leeren Öde enden, wo Massenet Manon im Gefangenentransport nach Le Havre an Erschöpfung sterben lässt. Doch Bösch muss da ärgerlicherweise wieder seine „eigene Sicht“ zeigen: Manon kommt wie am Anfang mit ihrem kleinen Rucksack und trinkt Gift, noch dazu aus einem Fläschchen, das eher aus dem 19. Jahrhundert stammt – Massenet ver-schlimm-bessert! Interpretationsgewinn: null!

Dafür entschädigt Dirigent Sébastien Rouland mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und idiomatischem Gespür: eben keinen Puccini aus dem Werk zu machen, sondern die schnellen Umbrüche in der „easy“-Stimmung, den vermeintlich „leichten“ Tonfall junger Menschen im Umgang mit ihrem „leichten“ Leben Klang werden zu lassen.

All das lässt auch Elsa Dreisig ihren musikalischen Feinsinn in Ton wie Körpersprache entfalten und macht Bösch letztlich zweitrangig. Ihr Sopran verströmt mädchenhaft scheue Süße – und blüht dann kurz auf zur großen Emotion. Ihre strahlenden Augen verwandeln sich mehrfach zu innerem Glanz, es singt aus ihr – um dann getreu der raffiniert feinen Komposition Manons Schwäche und die Stimmungsumschwünge vokal zu gestalten bis in die melodramatischen Phrasen hinein. Eine bildhübsche junge Frau, durchs Leben gewirbelt von vokaldramatischen Windstößen der Banalität, Berechnung und Gemeinheit – gut verkörpert und gesungen durch Björn Bürgers Lescaut, Daniel Kluges Guillot-Morfontaine und die anderen Männer. Zu ihnen kontrastiert der feingliedrige Des Grieux von Ioan Hotea, ein schlanker Tenor mit dem nötigen „lyrisme française“, dem Ernst und der Schwäche vor diesen divergierenden Anforderungen des Lebens. Dreisig und Hotea bilden ein anrührend fesselndes Paar des Scheiterns. Ein musikdramatisches Plädoyer für Massenet!

Wolf-Dieter Peter

„Manon“ (1884) // Opéra comique von Jules Massenet

Die Inszenierung ist als Stream ab 12. Februar 2021 für einen Monat kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Spanien macht’s möglich

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Man mag es kaum glauben! In einer Zeit, in der in klassischen Opernländern wie Deutschland und Österreich die Politik sich beharrlich weigert, die systemische Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft anzuerkennen und die Theater-, Konzert- und Opernhäuser zumindest für einen Teil des Publikums zugänglich zu machen, ist das in Spanien und Bulgarien, also an den extremen Rändern der so viel beschworenen „Alten Welt“, derzeit Normalität. In Spanien sind die Häuser nach professionellen Hygiene-Analysen zur Erkennung möglicher Covid-19-Gefahren zum Schluss gelangt, dass man mit einem signifikanten Zuschaueranteil spielen kann. Und in Barcelona wird das Angebot mit einem nahezu Erreichen der genehmigten 50-Prozent-Auslastung gut angenommen, bei Preisen von bis zu 290 Euro im Parkett.

So erlebte am Gran Teatre del Liceu nun Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ in der Regie von Laurent Pelly eine Neuinszenierung, in Koproduktion mit der Opéra national de Lyon und der San Francisco Opera. Pelly erzählt die Geschichte sehr intensiv aus den Augen und den Emotionen Hoffmanns heraus, was ihm mit einer blendenden Personenregie für alle Figuren, selbst die kleinste Nebenrolle, eindrucksvoll gelingt. Das Stück führt so ein starkes Innenleben. Immer geht es um die Tragik Hoffmanns, seine oft überschwängliche Freude und schnell folgende Enttäuschungen. Chantal Thomas baute dazu ein zwischen Realismus und Abstraktion changierendes Bühnenbild, das situationsgemäß einmal überholte Industrietechnik zeigt (Olympia-Akt), dann wieder großbürgerliche Romantik mit einem hochherrschaftlichen Treppenhaus (Antonia-Akt) und dem eleganten Salon einer Edel-Kurtisane (Giulietta-Akt), allerdings ohne Venedig-Aperçu. Die Welt von Lindorf, Coppélius, Doctor Miracle und Dapertutto spielt in diese Szenerie mit surrealen Momenten hinein, was das Ganze noch spannender macht (Videos: Charles Carcopino). Die großflächigen und stets in diskret depressiven Pastelltönen gehaltenen Bühnenwände erinnern an die Minimalkunst des russischen Avantgarde-Künstlers Kazimir S. Malévich (1879-1935). Es passte aber alles, auch aufgrund der Lichtregie von Joël Adam, in großer dramaturgischer Homogenität zusammen und wirkte stets sehr geschmackvoll. Dazu trugen auch die aus der Zeit des Stücks stammenden Kostüme vom Regisseur in Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Delmotte bei.

Man konnte an beiden Abenden zum Teil alternierender Besetzungen alle wunderschönen „Hoffmann“-Melodien auf das Feinste hören. Riccardo Frizza dirigierte das Symphonische Orchester des Gran Teatre del Liceu in stets enger Harmonie mit dem Geschehen, sodass sowohl die dramatischen Höhepunkte als auch die ruhigen und besinnlichen Momente sehr gut gelangen. John Osborn war ein beeindruckender (Premieren-)Hoffmann mit stabiler Mittellage und kräftiger Höhe sowie packender Darstellung. Arturo Chacón-Cruz kam vokal nicht an diese Leistung heran, war aber schauspielerisch sehr gut. Olga Pudova war eine erstklassige Olympia mit bestechenden Höhen, Ermonela Jaho eine gute und sehr musikalische Antonia, und sowohl Nino Surguladze wie Ginger Costa-Jackson stimmlich ansprechende und laszive Giuliettas. Roberto Tagliavini konnte als Bösewicht aufgrund seines wärmeren Timbres besser gefallen als Alexander Vinogradov. Marina Viotti war eine erstklassige und engagierte Muse mit farbigem Mezzo. Der hervorragende Chor des Gran Teatre del Liceu wurde von Conxita Garcia einstudiert.

Klaus Billand

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach

Dramaturgie denkt Corona

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Text Florian Maier, Illustrationen Beatrice Schmucker

Als Anfang Juni die Einladung zu einer neuen Veranstaltungsreihe mit dem klangvollen Titel „Dramaturgie denkt Corona“ ins E-Mail-Postfach flattert, ist meine Neugier schnell geweckt. Der Pandemie und ihren nach wie vor unwägbaren Konsequenzen stehen auch wir als Musiktheater-Magazin rat- und machtlos gegenüber, als Kulturjournalisten wurden wir in den Wochen und Monaten nach dem Shutdown in der Arbeit am „orpheus“ immer wieder von der Realität eingeholt. Nun also die Initiative des noch jungen dramaturgie-netzwerks, im Rahmen eines Gesprächsformats an vier aufeinanderfolgenden Mittwochabenden zum Erfahrungsaustausch unter Dramaturginnen und Dramaturgen zu bitten, flankiert von Expertenbeiträgen unterschiedlichster Couleur. Spontan melde ich mich an. Selbst Dramaturg, nutze ich Gelegenheiten zum persönlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen gerne, schätze es, bei den Jahreskonferenzen der dramaturgischen gesellschaft und den Workshops der zugehörigen AG Musiktheater neue Impulse aufzusaugen, eigene Erfahrungen kritisch zu hinterfragen, in oftmals auch unerwartete Richtungen weiterzudenken. Diesmal soll es um Gegenwart und Zukunft der „drei Ps“ – Programm, Publikum, Personal – gehen. Ein uferloser Themenkomplex mit unendlich vielen Facetten.

Eine Art „Corona-Leitfaden“?

Und so wähle ich mich wenige Tage darauf gespannt in den Zoom-Videochat ein und sehe mich knapp 50 weiteren Teilnehmern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum gegenüber, darunter durchaus das ein oder andere bekannte Gesicht. Die virtuelle Gesprächskultur der neuen Corona-Realität hat nun also auch die Dramaturgie erreicht, schießt es mir durch den Kopf. Zu Beginn fühlt sich diese Art der Kommunikation noch fremd an. Aber schließlich gibt es viel zu besprechen, immensen Bedarf zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, die Hoffnung, in der Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen anderer Häuser den Schlüssel zur klareren Sicht in der ungewissen Fahrt durch den coronalen Nebel zu finden. Das treibt auch mich um: Bis zum Frühjahr war ich selbst mehrere Jahre für einen Festivalbetrieb tätig, bevor ich – unabhängig von Corona, aber zeitlich parallel zur aufkommenden Krise – fest in die Redaktion des Magazins „orpheus“ gewechselt bin. Mit der Perspektive des Veranstalters bin ich daher vertraut und kann erahnen, wie es sich anfühlen muss, wenn in langer und liebevoller Arbeit gereifte (Spiel-)Pläne von heute auf morgen plötzlich Makulatur sind. Das Fatale an einer Pandemie: Niemand weiß, ob Plan B auch morgen noch greift oder dann längst wieder durch neue Alternativen ersetzt werden muss. Keiner kann sagen, wann der Weg zurück in die Normalität führen wird. Ist das überhaupt realistisch? Oder wird die „neue Realität“ unsere post-pandemische Gesellschaft deutlich und anhaltend verändert hinterlassen? Zum jetzigen Zeitpunkt können darauf keine konkreten Antworten gegeben werden, anerkannte wie selbsternannte Experten verschiedenster Disziplinen sind sich in vielen Fällen uneins. „Dramaturgie denkt Corona“ empfinde ich daher als sehr stimmigen Titel – Denkstoff ist schließlich mehr als genug vorhanden in diesen Zeiten.

An einem Strang

Das sehen auch die Initiatoren des dramaturgie-netzwerks so. Sie betrachten ihre Online-Gesprächsreihe als Plattform, „in der Sorgen Gehör finden, lang brennende Kritik ihren Platz hat und neue Ideen fürs Theatermachen während und nach Corona wachsen können“. So vielschichtig und vielgestaltig die Kunstform Theater ist, so unübersichtlich und verzweigt ist der Dschungel an thematischen Räumen, der sich daraus eröffnet. Kann diese Fülle an Diskussionsstoff in vier zweistündigen Videochats überhaupt sinnvoll kanalisiert werden? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja, sie kann. Sollte jemand verbindliche Antworten, eine Art „Corona-Leitfaden“ für die darstellenden Künste erwartet haben, wird er enttäuscht worden sein. „Dramaturgie denkt Corona“ setzt auf Inspiration und Teamgeist, will das „Theater der Zukunft“ andenken und Visionen Realität werden lassen. Das kann nicht im Sprint gelingen, das erfordert langen Atem. Und viel Input, der untrennbar miteinander verknüpft ist. Die drei eingangs genannten Ps erhalten im wöchentlichen Wechsel ihren jeweils eigenen Schwerpunkt und am Ende ein gemeinsames Resümee – sie komplett separiert voneinander zu betrachten, ist ohnehin eine Sache der Unmöglichkeit. Das Personal kreiert Programm für das Publikum – so banal das klingt, so allgemeingültig ist es.

Theatrale Baustellen

Bevor es in den Gedankenaustausch geht, eröffnet jede Zoom-Konferenz mit zwei Impulsvorträgen. Im Laufe der Wochen entspannt sich ein dichtes Netz an weitläufigen Eindrücken: „Weltenbauerin“ Christiane Hütter berichtet von ihrer Arbeit an partizipativen theatralen Effekten im öffentlichen Raum, von interdisziplinären Ansätzen zur Kreation einer postdigitalen Gemeinschaft mit den Mitteln von Storytelling und Game Design. Christian Römer, in der Heinrich-Böll-Stiftung für den Bereich Kultur und Neue Medien zuständig, empfindet den Begriff der „hybriden Formate“ als Worthülse, die es erst noch zu füllen gelte, plädiert dafür, den digitalen Mehrwert einer Produktion schon von der Konzeption her zu denken. Leyla Ercan, Agentin für Diversität am Staatstheater Hannover, kritisiert, dass das Programm, das unsere Theater anbieten, zugeschnitten und maßgeschneidert sei auf ein Kernpublikum, das nur 10 Prozent der Gesellschaft umfasse und eine diversere Besucherstruktur qua sozialer, ökonomischer und kultureller Barrieren verhindere. Achim Müller, Direktor Forschung und Projektmanagement am Berliner Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW), geht noch einen Schritt weiter: In dem Bestreben, Publikumsbindung als auch -erweiterung für immer ausdifferenzierte Milieus zu erreichen, müssten Theater noch präziser auf präferenzorientierte Ansprachen achten – sonst drohe nicht das Empfinden von Barrieren, sondern schlicht weiterhin Desinteresse. Auf der anderen Seite des Bühnenvorhangs schwelen derweil strukturelle Brandherde, wie Katrin Hiller (Produktionsleiterin, Beraterin für Personal- und Organisationsentwicklung) im Geiste des Veränderungsmanagements zu bedenken gibt. Lösungen für Wege aus dem personell hierarchisch bis (selbst-)ausbeutend funktionierenden Theatersystem müssten jetzt in Zeiten von Corona gebündelt und angestoßen werden, sonst sei die Chance einer nachhaltigen Zäsur irgendwann ungenutzt verstrichen. Adil Laraki (u.a. GDBA-Landesverbandsvorsitzender NRW) formuliert in deutlichen Worten: Während sich die Theater auf der Bühne als die größten Moralisten präsentieren, würden Hierarchien aus dem 19. Jahrhundert die Mitwirkenden hinter den Kulissen krank machen – Arbeit mit der Angst verursache vielerorts körperliche wie psychische Gefährdungen, denen endlich durch neue vertragliche Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden müsse.

Hybride Diversität

Mehr als genug Denkstoff also, der schon in der Kürze der Darstellung hier unglaublich umfangreich erscheint. Eines aber wird klar – unsere Theaterlandschaft steckte schon lange vor Corona in einer Krise, die viele Facetten kennt: Überproduktion und damit einhergehende zweifelhafte Produktionsbedingungen, schlechte Bezahlung bei hohem Leistungsdruck, gerade im Musiktheater der Fokus auf immergleiches Kernrepertoire und das fadenscheinige Gegenargument von Wiederentdeckungen und modernen Experimenten (die nach der Uraufführung doch viel zu oft wieder in der Versenkung verschwinden). Kurzum: die Maxime „Schneller, höher, weiter“, die unsere Kulturbetriebe dem Zeitgeist entsprechend längst erfasst hat.

Ich höre den Impulsvorträgen interessiert zu, reflektiere eigene Erfahrungswerte – und denke über das „Theater der Zukunft“ nach, über das wir hier philosophieren, phantasieren, debattieren möchten. „Ist es überhaupt realisierbar?“, nagen Zweifel an mir. Und dann kommt auch schon wieder der Gedanke an die Pandemie in mir hoch: Bei all dem Leid und den Einschränkungen, die sie mit sich bringt, hat sie auch Gutes mit unserer Welt und uns Menschen gemacht, indem sie – zumindest zeitweise – Grenzen aufzeigt. Unsere Umwelt hat erstmals seit Jahrzehnten Luft zum Durchatmen, zeigt längst verloren geglaubte Seiten. Eingesperrt mit uns selbst, besinnen wir uns auf Familie und Freundschaften, auf die schönen Künste und ihre Bedeutung für unser Leben. Ob das „Theater der Zukunft“ realisierbar ist? Wenn wir Theaterschaffenden uns nicht zusammenschließen und gemeinsam für unsere Visionen eintreten, dann lautet die Antwort ganz sicher „Nein“. Gerade deshalb ist „Dramaturgie denkt Corona“ ein Format mit Zukunft, ein Format für die Zukunft.

Was nun?

Nach den Impulsvorträgen werden wir in Kleingruppen aufgeteilt, die sich verschiedenen Aspekten des jeweiligen Wochenthemas widmen. Im Vergleich zum etwas unpersönlichen „Plenum“ kehrt eine familiärere Atmosphäre ein: Während die Impulsvorträge bei bis zu 50 Zuhörern naturgemäß eher Frontalunterricht gleichen, besteht nun auch die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen, Sorgen zu schildern, von Ideen im eigenen künstlerischen Umfeld zu berichten. Die Stärke unserer „dramaturgischen Zunft“ bewährt sich auch virtuell, wie ich freudig feststelle: Neuerungen aus dem Schauspiel treffen auf Lösungsansätze aus dem Musiktheater, freie Künstlerinnen und Künstler auf Festangestellte, interessierte Teilnehmer aus angrenzenden Feldern wie Theaterpädagogik und Marketing auf solche mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Dramaturgie.

Sorgen werden laut: Wird soziale Distanz die neue gesellschaftliche Norm – und wenn ja, wie gehen wir damit um? Welche theatralen Erzählungen wirken dagegen? Wird es ein „Massensterben“ in der freien Szene geben, die den Stadt- und Staatstheatern bezüglich Innovationen oft um einiges voraus ist und doch den ersten Rang unter den wirtschaftlich gefährdeten Bühnenkünsten einnimmt? Können Autorinnen und Autoren, Komponistinnen und Komponisten angesichts der aktuellen Lage kaum noch eingehender Tantiemen weiterhin ihren Berufen nachgehen? Werden weniger junge Menschen künstlerische Berufe wählen, aus Angst, dass diese keine Zukunft haben? Verstärkt Corona Barrieren, gerade in der Vermittlung an Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Kosmos Theater? Wird die Pandemie die Arbeitsbelastung durch Mehraufwand an kleinen legitimierenden Experimenten eher noch erhöhen?

Weltenbau

Demgegenüber stehen aber auch viele hoffnungsvolle Gedanken im Raum: Wenn die Abgabe von Bühnenbildern aktuell plötzlich online möglich ist, statt einzig hierfür quer durch Deutschland zu reisen – wieso dann im Sinne von Klima und Nachhaltigkeit nicht auch in Zukunft? Können neue digitale Formen in sinnhafter Nutzung auch Türen öffnen, Neugier sowohl in „Theaterjunkies“ als auch bei bisher nicht erreichten Besuchersegmenten wecken? Könnte es nicht gerade jetzt Zeit sein für eine zeitgemäße Neuerfindung des Abosystems, die stärker auf individuelle Bedürfnisse eingeht und Zusatznutzen buchbar macht? Wieso nicht einmal auf demokratische Programmentscheidungen setzen, die Zuschauer miteinbeziehen in die Spielplangestaltung? Kann eine Reflexion der Aufgabengebiete eine zukunftsfähige Neustrukturierung ermöglichen, die neben einer klaren Definition von hauseigenen Qualitätskriterien und Selbstverpflichtungen nicht nur das eigene Profil stärkt, sondern auch Raum für Fortbildungen, Homeoffice und familienverträgliche Arbeit lässt? Und ist es nicht vorstellbar, dass ein verstärktes Netzwerk zwischen den Häusern nicht zwangsweise ein Risiko für die abgegrenzte, schützende Einzigartigkeit bedeutet, sondern vielmehr ein Ziehen an einem Strang, eine Erleichterung vieler Prozesse?

Achim Müller betitelt die nun beginnende Saison in seinem Impulsvortrag als „letzte Spielzeit der Seligen“ – Budgets hierfür seien noch vor Corona bewilligt worden, danach begännen ökonomisch und damit zwangsweise auch künstlerisch wahrhaft ungewisse Zeiten. Die Theaterszene steht unzweifelhaft vor dem größten Umbruch unserer Zeit: Was wird der Krise zum Opfer fallen – und was sollte sich ohnehin ändern? Wegen des großen Interesses plant das dramaturgie-netzwerk gerade eine Fortsetzung der Gesprächsreihe, möchte sich in diversen Arbeitsgruppen verschiedenen zentralen Themenfeldern wie Leitungsmodellen, Arbeitsbedingungen, dramaturgischen Denkräumen, internationalen Vernetzungen und nicht zuletzt Organisationsmodellen der Zukunft widmen. Am Ende der vierten Sitzung, die unter dem Titel „Was nun?“ ein erstes Resümee zu den gewonnen Erkenntnissen der drei Ps zieht und zugleich zur weiteren aktiven Mitgestaltung der Plattform einlädt, verlasse ich die digitale Konferenz mit einem guten Gefühl. Wir sind gerade alle Laien im Umgang mit der Krise. Das kann aber auch eine Chance sein – wenn man sich ihr stellt.

Das dramaturgie-netzwerk entstand 2019 als Zusammenschluss mehrerer Dramaturginnen und Dramaturgen und ist eine eigenständige Sektion des ensemble-netzwerks. Es versteht sich selbst als Thinktank für die Stadttheater der Zukunft, das dem Denken auch theaterpolitischen Aktivismus folgen lässt. Die Initiative tritt für Solidarität, Mitbestimmung und Teamarbeit ein, will sowohl die Strukturen der öffentlich geförderten Theaterinstitutionen als auch die konkreten Arbeitsbedingungen von Theaterschaffenden verbessern und wirkt als Beratungs- und Vernetzungsstelle. „Dramaturgie denkt Corona“ wurde durch das ensemble-netzwerk finanziell und infrastrukturell ermöglicht, Kooperationspartner ist die dramaturgische gesellschaft (dg).

www.ensemble-netzwerk.de/drnw


Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 05/2020.

Beatrice Schmucker (Illustrationen):
www.redhood.de
schmucker-kunst.redhood.de