Man mag es kaum glauben! In einer Zeit, in der in klassischen Opernländern wie Deutschland und Österreich die Politik sich beharrlich weigert, die systemische Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft anzuerkennen und die Theater-, Konzert- und Opernhäuser zumindest für einen Teil des Publikums zugänglich zu machen, ist das in Spanien und Bulgarien, also an den extremen Rändern der so viel beschworenen „Alten Welt“, derzeit Normalität. In Spanien sind die Häuser nach professionellen Hygiene-Analysen zur Erkennung möglicher Covid-19-Gefahren zum Schluss gelangt, dass man mit einem signifikanten Zuschaueranteil spielen kann. Und in Barcelona wird das Angebot mit einem nahezu Erreichen der genehmigten 50-Prozent-Auslastung gut angenommen, bei Preisen von bis zu 290 Euro im Parkett.

So erlebte am Gran Teatre del Liceu nun Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ in der Regie von Laurent Pelly eine Neuinszenierung, in Koproduktion mit der Opéra national de Lyon und der San Francisco Opera. Pelly erzählt die Geschichte sehr intensiv aus den Augen und den Emotionen Hoffmanns heraus, was ihm mit einer blendenden Personenregie für alle Figuren, selbst die kleinste Nebenrolle, eindrucksvoll gelingt. Das Stück führt so ein starkes Innenleben. Immer geht es um die Tragik Hoffmanns, seine oft überschwängliche Freude und schnell folgende Enttäuschungen. Chantal Thomas baute dazu ein zwischen Realismus und Abstraktion changierendes Bühnenbild, das situationsgemäß einmal überholte Industrietechnik zeigt (Olympia-Akt), dann wieder großbürgerliche Romantik mit einem hochherrschaftlichen Treppenhaus (Antonia-Akt) und dem eleganten Salon einer Edel-Kurtisane (Giulietta-Akt), allerdings ohne Venedig-Aperçu. Die Welt von Lindorf, Coppélius, Doctor Miracle und Dapertutto spielt in diese Szenerie mit surrealen Momenten hinein, was das Ganze noch spannender macht (Videos: Charles Carcopino). Die großflächigen und stets in diskret depressiven Pastelltönen gehaltenen Bühnenwände erinnern an die Minimalkunst des russischen Avantgarde-Künstlers Kazimir S. Malévich (1879-1935). Es passte aber alles, auch aufgrund der Lichtregie von Joël Adam, in großer dramaturgischer Homogenität zusammen und wirkte stets sehr geschmackvoll. Dazu trugen auch die aus der Zeit des Stücks stammenden Kostüme vom Regisseur in Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Delmotte bei.

Man konnte an beiden Abenden zum Teil alternierender Besetzungen alle wunderschönen „Hoffmann“-Melodien auf das Feinste hören. Riccardo Frizza dirigierte das Symphonische Orchester des Gran Teatre del Liceu in stets enger Harmonie mit dem Geschehen, sodass sowohl die dramatischen Höhepunkte als auch die ruhigen und besinnlichen Momente sehr gut gelangen. John Osborn war ein beeindruckender (Premieren-)Hoffmann mit stabiler Mittellage und kräftiger Höhe sowie packender Darstellung. Arturo Chacón-Cruz kam vokal nicht an diese Leistung heran, war aber schauspielerisch sehr gut. Olga Pudova war eine erstklassige Olympia mit bestechenden Höhen, Ermonela Jaho eine gute und sehr musikalische Antonia, und sowohl Nino Surguladze wie Ginger Costa-Jackson stimmlich ansprechende und laszive Giuliettas. Roberto Tagliavini konnte als Bösewicht aufgrund seines wärmeren Timbres besser gefallen als Alexander Vinogradov. Marina Viotti war eine erstklassige und engagierte Muse mit farbigem Mezzo. Der hervorragende Chor des Gran Teatre del Liceu wurde von Conxita Garcia einstudiert.

Klaus Billand

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach