„Wunderkind“ und „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“: Der junge Schweizer Bariton Äneas Humm hat sich mit gerade einmal 27 Jahren auf dem hart umkämpften Sängermarkt etabliert. Ein Gespräch über Erwartungsdruck, eine Generation im Lockdown-Modus, die Liebe zum Lied und zur Heimat – und die ­Schattenseiten einer nach außen hin weltoffenen Branche

Interview Florian Maier

Mit nur 19 Jahren widmete Ihnen das Schweizer Fernsehen eine Reportage: „Ein Wunderkind wird ­erwachsen“. Ein Titel, mit dem Sie sich wohlfühlen?
Ich finde, da ist nichts Wahres dran. Wenn man „Wunderkind“ hört, dann denkt man an Mozart oder an ­Schubert – und von denen bin ich kilometerweit entfernt. (lacht) Das eigentliche Wunder war, dass ich eine so reiche Ausbildung genossen habe als Kind, angefangen bei meiner Zeit als Zürcher Sängerknabe bis hin zu Jugendmusikwettbewerben. Da steckt harte Arbeit dahinter. Und viel Glück. Deshalb finde ich es so wichtig, Kinder und Jugendliche musikalisch zu fördern, sei es im Pop oder in der Klassik. Das öffnet so viele Türen im Leben.

Und doch war da immer der Erwartungsdruck „Weltkarriere“. Wie geht man damit um?
Gar nicht – ich denke immer von Vorstellung zu Vorstellung.

Sie haben die harte Bühnenrealität in einem Alter kennengelernt, als andere noch neben der Schule ihre Freizeit genossen haben. Hieß das oft auch zurückstecken?
Als Sänger steckt man immer zurück: nicht feiern, nicht trinken, nicht zu viel Spaß haben. Aktuell habe ich fünf Vorstellungen mit drei Partien hintereinander. Das schafft man nur mit einem durchgetakteten Plan und Disziplin. Aber die Musik gibt einem so viel und das ist das Schöne.

Bleibt da noch Zeit für Hobbys?
Seit etwa einem Jahr treibe ich sehr viel Sport. Das Auspowern tut mir auch für die Bühne unglaublich gut. Und natürlich besuche ich sehr gerne meine Familie und treffe Freunde. Das ist ja das Tolle als Musiker: Egal wo man hinkommt, man kennt eigentlich immer jemanden.

Väterlicherseits bringt Ihre Familie seit Generationen Künstlerpersönlichkeiten hervor: Schriftsteller, ­Maler und Bühnenbildner, Schauspieler, Keramiker. War Ihr Weg quasi vorgezeichnet?
Geprägt hat mich das auf jeden Fall. Wobei selbst mein Großvater Ambrosius Humm, der in ganz Europa Bühnenbilder entworfen hat, nie sonderlich opernaffin war – da bin ich tatsächlich der Erste. (lacht) Aber natürlich wurde mir durch meine Familie sehr früh ganz generell der Zugang zu Theater, Kunst und Musik eröffnet.

Ein Plan B kam nie infrage?
Doch, aber der ist auch künstlerischer Natur. Ich denke jetzt noch nicht ans Aufhören, finde es aber wichtig sich zu fragen: Was würde ich machen, wenn es plötzlich nicht mehr weitergehen sollte mit dem Gesang? Dann würde ich eines Tages gern die Seiten wechseln, weil ich mich wahnsinnig für künstlerische Planung, Operndirektion und Casting interessiere.

Schätzen Sie Ihre Laufbahn in dieser Hinsicht als Vorteil ein?
Eigene Bühnenerfahrungen halte ich bei Casting-Direktoren nie für verkehrt. Jemand plant ganz anders, wenn er weiß, wie es ist, so oft aufzutreten, und welche Regenerationszeiten man beachten sollte.

Die Opernhäuser dürfen für die nächsten Jahrzehnte also schon mal ihre Kalender zücken?
Sehr gerne. (lacht)

Von künftigen Träumen zurück zum aktuellen Aufbau Ihrer Karriere: Wurde diese durch Corona ausgebremst?
Ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen das Glück, während all der Lockdowns fest engagiert gewesen zu sein. Aber der größte Rückwurf passierte tatsächlich während meiner Zeit in Weimar, als mich der damalige Operndirektor anrief: „Äneas, es tut mir leid, aber wir müssen die ‚Così‘ komplett absagen.“ Ich habe das erst nicht realisiert, dachte, es ginge um zwei oder drei Vorstellungen. Ein paar Minuten später meldete er sich direkt noch einmal: „Achja, ‚Ariadne‘ ist abgesagt, ‚West Side Story‘ auch – es ist alles abgesagt.“ Da habe ich ihn gefragt, was ich denn jetzt bitte noch machen soll. Und er meinte nur: „Ich weiß es auch nicht. Fahr nach Hause …“

Und dort?
Ich habe versucht, meine Stimme fit zu halten, viel geübt, über Zoom Unterricht bei meinem Lehrer genommen.

Und Sie sind mitten in der laufenden Spielzeit 2019/20 nach Karlsruhe gewechselt.
Genau. In Weimar wurde alles abgesagt und was in meiner zweiten Saison gekommen wäre, war überhaupt nicht klar. Ich habe also um Vertragsauflösung gebeten und konnte in Karlsruhe an einem größeren Haus den nächsten Karriereschritt mit sehr schönen Partien machen: „Die Zauberflöte“, „Don Pasquale“, „Die schweigsame Frau“, Schumanns „Faust“-Szenen. Abgesehen von „Don Pasquale“ musste zwar wieder ­alles abgesagt ­werden, aber das Einstudieren hat sich auf jeden Fall gelohnt.

In der laufenden Spielzeit ist Äneas Humm Ensemblemitglied am Theater St.Gallen und dort unter anderem als Dr. Falke im Johann-Strauss-Klassiker „Die Fledermaus“ zu erleben (Foto Ludwig Olah)

Erst Weimar, dann Karlsruhe, jetzt St. Gallen: sehr schnelle Schritte in Ihrem jungen Alter.
Ganz unabhängig von der Pandemie bin ich eigentlich immer wegen der mir angebotenen Partien gewechselt. Es gibt natürlich Stimmen, die meinten: „Das sieht nicht gut aus, dass du schon so oft das Haus gewechselt hast.“ Aber wegen Corona sind zwei Jahre verstrichen, in denen wichtige Erfahrungen ausgeblieben sind und das für eine sängerische Laufbahn nötige Rollenpaket nicht wirklich erarbeitet werden konnte. In zehn Jahren wird man das in vielen Lebensläufen merken, wenn man die nächsten Schritte nicht jetzt plant. Als dann der St. ­Galler Operndirektor Jan Henric Bogen mit dem Angebot auf mich zukam, eine Spielzeit hier Ensemblemitglied zu werden und unter anderem den Papageno und Dr. Falke zu singen, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.

Und was kommt danach?
Ab der kommenden Saison werde ich freischaffend sein. Eine Entscheidung, die ich in den letzten Wochen gefällt habe. Man hat in einem Festvertrag das Glück, „durchbezahlt“ zu werden, aber natürlich auch die Verpflichtung, immer auf Abruf zu sein. Das ist mit einer Karriere, die sicherlich zur Hälfte konzerttätig ist, sehr schwer zu vereinbaren. Im Sommer gebe ich meine Debüts beim Heidelberger Frühling und beim Lucerne Festival und kehre dann als Agrippa in John Adams’ neuester Oper „Antony and Cleopatra“ ans Gran Teatre del Liceu zurück – Adams selbst dirigiert. Daneben sind Hausdebüts an der Staatsoper Hamburg und dem MusikTheater an der Wien sowie einige schöne Liederabende und Konzerte geplant. Ich freue mich also auf diverse neue Herausforderungen.

Sie sprechen es an: Abseits der Opernhäuser trifft man Sie auch regelmäßig in den Konzertsälen an, wo Sie sich dem Lied widmen. Ihre zweite Leidenschaft?
Absolut! Wenn man so jung anfängt zu studieren wie ich, ist der ganze Körper ja noch im Wachstum. Und man selbst immer ein bisschen „in Warteschleife“, weil man nie weiß, wann sich die Stimme wirklich gesetzt hat und man endlich richtig loslegen kann. Viele Arien waren in dieser Zeit einfach noch nicht möglich, Lieder aber schon. Daraus hat sich dann eine langjährige Liebe entwickelt.

Die jetzt mit einem OPUS Klassik als „Nachwuchskünstler des Jahres“ für Ihre CD „Embrace“ – ein klug konzipiertes Programm mit Liedern von Fanny ­Hensel, Franz Liszt, Viktor Ullmann und Edvard Grieg – belohnt wurde. Waren Sie überrascht?
Mich haben zuvor ein paar befreundete Intendanten angerufen, die meinten: „Du bist in drei Kategorien nominiert, da gewinnt man immer eine.“ Ich wollte mir trotzdem nicht zu viele Hoffnungen machen. Man kennt den OPUS als die große, abendfüllende, opulente Sendung, bei der immer bekannte Gesichter ausgezeichnet werden. Als dann mein Label anrief und mir die Nachricht mitgeteilt hat, habe ich nur gefragt: „Was? Ich? Haben die meine CD auch wirklich gehört?“ (lacht)

Seine Liebe zum Liedgesang brachte Humm 2022 die Ehrung als „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“ ein (Foto Markus Nass)

Gibt es gesangliche Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Eines meiner größten Vorbilder ist Renée Fleming. Sie hat eine Karriere gemacht, wie sie im Buche steht: alle Genres, immer gepflegt, immer wunderbar gesungen. Oder auch Hermann Prey. Der hatte eine ganz andere Stimme als ich und ich will ihn überhaupt nicht kopieren. Aber ich finde es wahnsinnig beeindruckend, wie eine so schwere Stimme auch so liebevoll klingen kann.

Nun treffen wir uns hier gerade in St. Gallen, Ihrer aktuellen Wirkungsstätte. Und nicht einmal 200 km weiter wird Regula Mühlemann am Theater Basel im Januar ihre erste Gilda singen. Bleiben Schweizer Klassikstars denn gern daheim?
(lacht) Ich bin jemand, der es liebt, daheim zu sein. Das ist auch etwas, was ich an diesem Leben nicht mag: das ständige Unterwegs-Sein. Regula geht es da vielleicht ähnlich. Und das Publikum freut sich, weil sie Leute sehen, die sie kennen. Was vielleicht bei all den leidigen politischen Diskussionen um Subventionskürzungen für die Kultur auch einen positiven Identifikationseffekt haben kann.

Sind denn die Folgen der Pandemie kulturpolitisch auch hier schon spürbar?
Leider ja. Gerade bei kleinen Veranstaltern, aber auch bei den großen Häusern sinken die Etats und damit auch die Gagen für die Musikerinnen und Musiker. Als Beispiel: Die St.Galler Festspiele finden künftig nur noch alle zwei Jahre im Stiftsbezirk statt, dazwischen in kleinerer Form außerhalb der Stadt – warum auch immer. Meiner Meinung nach sollten wir gerade jetzt in Kultur investieren und sie dem Publikum durch günstigere ­Tickets zugänglicher machen …

Auf Ihren Social-Media-Kanälen haben Sie kürzlich auch die Vorurteile angeprangert, Sie seien „zu schwul“ und zu „groß“ für die Oper. Diese Aussagen haben mich überrascht, weil sich doch gerade die Theaterbranche sehr weltoffen gibt und nach außen immer für Toleranz eintritt. Haben Sie da andere Erfahrungen gemacht?
Man erlebt leider sehr viel – auch Kritik, die über das Fachliche hinausgeht … Es gab immer wieder Personen in Vorsingen, die wegen meiner sexuellen Ausrichtung zu mir gesagt haben: „Sie müssen lernen, wie ein Hetero-­Mann über die Bühne zu laufen.“ Oder: „Sie sind zu groß, Sie werden nie einen Papageno singen“ – nur weil ich eine Körpergröße von 1,96 m habe. Als ich mich in unserer Inszenierung von Joseph Bolognes „L’amant anonyme“ in Frauenkleidern auf der Bühne bewegen sollte, dachte ich nur: Zum Glück habe ich nicht auf diese Leute gehört. Als junger Mensch ist solche vorurteilsbehaftete Kritik nicht leicht wegzustecken – Gott sei Dank habe ich es geschafft, zu mir selbst zu stehen!

Sind das Einzelfälle oder würden Sie die Klassikszene als verkappt diskriminierend einstufen?
Ich glaube, in jeder Branche steckt das traurige Poten­zial zu Diskriminierung. Dazu gehören die Menschen, die darin arbeiten, bis zu denjenigen, die von außen dazustoßen. Die Oper ist in meinen Augen gerade wirklich in einem Wandel, wo Diskriminierung endlich immer mehr hinter uns gelassen wird. Aber es braucht Intendantinnen und Intendanten, die vehement gegen so etwas vorgehen und ein diverses Ensemble auf die Bühne und damit auch in die Gesellschaft stellen, sodass wir uns selbst in den Opern und Theatern wiedererkennen können.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023

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