Hannover / Staatsoper Hannover (Oktober 2025) Mozarts „Oper aller Opern“ auf ihren psychologischen Kern abstrahiert
„Are you Donna Elvira? Are you Don Giovanni?“ Mitten in der laufenden Inszenierung von Mozarts Oper erscheinen diese Fragen wie von Zauberhand geschrieben auf dem riesigen weißen Bühnenprospekt. Die Zauberhand gehört der Live-Zeichnerin Anni von Bergen. Vom Bühnenrand aus entwirft sie mit Pinsel und schwarzer Farbe synchron zum Bühnengeschehen Figuren, Symbole, Linien oder auch schon mal bei besonders leidenschaftlichen Szenen wütend hingeworfene Kleckse und Spritzer. Eine Kamera projiziert alles direkt auf den Prospekt. So entsteht ein sich ständig änderndes Bühnenbild, das die Handlung kommentiert, karikiert oder auch fokussiert. Die Riesenfläche ist durchbrochen von Türen, Toren oder kleinen Balkons und Fenstern in der Höhe. Das sind Öffnungen für Abgänge und überraschende Auftritte, für heimliches Beobachten oder Liebesgeplänkel in luftiger Höhe.
Mehr Bühnenbild ist nicht, weil Regisseur Bastian Kraft das szenische Auf und Ab des Werks auf seinen psychologischen Kern abstrahiert. Allein durch Gesang und schauspielerische Aktionen entfaltet das komplett in Weiß gekleidete Ensemble auf leerer Bühne die seelischen Konstellationen dieses erotischen Beziehungsdesasters. Nur ein Eimer, gefüllt mit schwarzer Farbe, spielt eine ekelig symbolische Rolle. Wenn es emotional brenzlig wird, tauchen die Akteure ihre Hände auch mal in die dunkle Masse und eine Umarmung oder ein gewaltsamer Zugriff hinterlässt Spuren auf der weißen Kleidung. Am Schluss der Oper sind alle beschmutzt und nichts ist übrig vom anfänglich unschuldigen Weiß.
So eine fast surrealistische Reduzierung der Handlung funktioniert natürlich nur, wenn das Ensemble mit vokaler rund schauspielerischer Qualität dem theatralischen Anspruch der Mozart-Partitur entsprechen kann. Das gelingt in Hannover überzeugend. Mario Hartmuth, 1. Kapellmeister des Hauses, zaubert mit seiner inspirierenden Leitung einen Mozart hervor, der mit vielen Klangdetails überrascht. Auf der Basis einer historisch orientierten Aufführungspraxis entstehen dramaturgisch gelenkte Klangwechsel zwischen Esprit und Empfindsamkeit.
Niemand muss dabei auf der Bühne stimmlich forcieren. Matteo Guerzè gibt der Titelfigur eine aufregende Mischung aus Kaltschnäuzigkeit, spöttischer Ironie und zärtlich klingendem Liebestheater. Zugleich aber lässt er die seelische Tragik seiner Liebesunfähigkeit durchscheinen, die Mozart so tiefgründig in die Musik einwebt. Serhii Moskalchuk spielt und singt den Diener des Frauenhelden derart präsent, dass man diese Inszenierung ohne Not auch „Die Abenteuer des Leporello“ nennen könnte. Herrlich quirlig, dämlich und naiv kommen mit stimmlicher Klasse Ketevan Chuntishvili als Zerlina und Yannick Spanier als Masetto daher. Olga Jelínková als Donna Anna und Cassandra Doyle als Donna Elvira sind virtuos singende Damen, bestimmt von Rachsucht, Bereitschaft zum Verzeihen und schließlich tödlicher Wut auf den ewigen Betrüger Don Giovanni. Ihnen gesellt sich mit herrlichem Tenor SeungJick Kim als Don Ottavio zur Seite.
Zum Schluss fährt Matteo Guerzè nochmal zu dramatischer Hochform auf, wenn er sich der Reueforderung des steinernen Komturs (sonor: Daniel Eggert) widersetzt. Währenddessen klappt die weiße Wand unentrinnbar zu Boden und macht im wahrsten Sinne des Wortes Don Giovanni platt. Ob alle am Schluss eine Antwort auf die Menetekel an der Wand gefunden haben, bleibt verborgen. Der Jubel aber ist gewaltig und langanhaltend.
Claus-Ulrich Heinke
„Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni“ ( 1787) / Dramma giocoso von Wolfgang Amadeus Mozart
