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Beiträge 2021/02

Rebirth

Interview mit der bulgarischen Sopranistin Sonya Yoncheva

Interview mit der bulgarischen Sopranistin Sonya Yoncheva

Redaktionskonferenz online, die gefühlt 352te. Wir planen unsere zweite Ausgabe 2021 – auch diese ausschließlich digital – und entscheiden uns für ein Interview mit Sonya Yoncheva, die mitten in der Pandemie ihre eigene Produktionsfirma gegründet hat. Wie schön, dass sich da jemand nicht anstecken lässt vom allgemeinen „Abgesang“ der Kultur! Und wie schwierig, so etwas gerade jetzt zu initiieren und darüber hinaus auch noch eine neue CD auf den Markt zu bringen. Reichlich Stoff für ein interessantes Gespräch, das wir unter normalen Umständen gerne persönlich geführt hätten. Doch was ist momentan schon normal? Und so erreicht Florian Maier Frau Yoncheva ausgerechnet am pandemischen Februar-Sehnsuchtsort der Deutschen: einem Friseursalon in ihrer Wahlheimat Schweiz.

Was macht eine vielbeschäftigte Sängerin wie Sie in diesen Zeiten ohne Bühne, ohne Publikum und ohne Applaus?
Es heißt ja immer wieder, dass diese Pandemie die richtige Zeit sei, um das Leben, seine Ziele und Wünsche zu hinterfragen und neu zu definieren. Genau das mache auch ich. Wobei meine Aktivitäten als Sängerin von der Krise ehrlich gesagt gar nicht so stark betroffen sind, da ich abgesagte Engagements durch einige neue Aufträge im letzten Sommer Gott sei dank relativ gut ausgleichen konnte.

Als Starsopranistin und zweifache Mutter hatten Sie vor Corona wahrscheinlich kaum eine ruhige Minute, allein weil Sie als Kultur-Globetrotterin ja durch die halbe Welt gehetzt sind. Können Sie dahingehend der aktuellen Situation auch positive Seiten abgewinnen?
Durchaus. Es ist wundervoll, mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen zu können. Meine Tochter ist jetzt eineinhalb Jahre alt und hat durch diese Umstände das Glück, fast nur zuhause aufwachsen zu können. Das ist ein Wunder – bei meinem Sohn war das in den ersten Jahren nicht immer der Fall, da meine Familie mich sehr oft auf Reisen begleitet. Und mein Mann und ich genießen auch als Paar diese wertvolle gemeinsame Zeit, in der wir uns noch einmal besser kennenlernen.

Gibt Ihnen Ihre Rolle als etablierte Künstlerin die Gelassenheit, die Dinge relativ entspannt auf sich zukommen zu lassen?
Auf jeden Fall! Ich befinde mich allerdings auch in einer sehr privilegierten Position, was leider nur für die wenigsten Künstlerinnen und Künstler gilt. Die meisten werden nicht so gut behandelt wie ich, ohne dass dies irgendetwas mit der Qualität ihrer Kunst zu tun hat. Sie sind eben oft rein zufällig nicht so bekannt. Ganz unabhängig von der momentanen Situation war das auch schon vor Corona sehr unfair und macht mich seit jeher wütend. Ich habe in der letzten Zeit herzzerreißende Geschichten gehört von Menschen, die ihren Beruf aufgeben, ihre Instrumente verkaufen oder sogar Selbstmord begehen. Ich weiß, was es bedeutet, Musikerin zu sein und wie viel wir in unseren Traum investieren, ohne zu wissen, ob wir jemals wirklich von unserer Kunst leben können. Die Grundlagen, die Ausbildung, die Karriere – es ist ein so harter Weg! Und dann jemanden zu sehen, der dem Ganzen den Rücken zukehren muss, ist einfach verrückt …

Zahllose junge Sängerinnen und Sänger stehen noch am Anfang ihrer Karriere. Gefährdet die Pandemie den künstlerischen Weg einer ganzen Generation?
Leider ja! Sie sind das neue Wir – genauso wie meine Sängergeneration das Schaffen anderer vor uns fortführt. Es ist so unglaublich wichtig, dass unser Nachwuchs nicht den Glauben daran verliert, wer wir sind. Dabei geht es nicht bloß um Karrieren, sondern um die Verteidigung eines menschlichen Erbes. Musik ist ein so wichtiger Teil unserer Geschichte und wir sind auf jeden einzelnen Botschafter der Künste angewiesen. Wer soll denn sonst unsere Arbeit in der Zukunft fortsetzen?

Startschuss für die eigene Produktionsfirma: Konzert im antiken römischen Theater von Sonya Yonchevas Heimatstadt Plovdiv, August 2020 (Foto Alexander Thompson)

Im letzten Jahr haben Sie mitten in der Pandemie Ihre eigene Produktionsfirma SY11 gegründet, um selbst Konzerte zu veranstalten. Warum das und warum gerade jetzt? Lieben Sie das Spiel mit dem Feuer, das kalkulierte Risiko? Oder sind Sie unzufrieden mit dem aktuellen Konzertbetrieb?
Nicht mit dem ganzen Business (lacht). Die Idee dazu entstand, als ich plötzlich so viel freie Zeit hatte. Ich habe im Grunde in zwei Richtungen gearbeitet. Zum einen konnte ich als Markenbotschafterin eines „Rolex Perpetual Music Concerts“ gemeinsam mit einigen Kollegen mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler unterstützen. Zum anderen habe ich meine eigene Produktionsfirma SY11 gegründet. Ursprünglich war nur ein Konzert in meiner Heimatstadt geplant, einfach weil ich den Menschen dort etwas von mir zurückgeben wollte. Zuerst hat mich jeder für verrückt erklärt: Wer verkauft in der Pandemie freiwillig Tickets? Wie soll das Ganze in zwei Monaten auf die Beine gestellt werden? Was soll ich sagen: Das Konzert wurde trotz aller Unkenrufe ein voller Erfolg, auch weil ich in Bulgarien ein tolles Team an meiner Seite habe, die wirklich alles möglich machen konnten. Auf diese Erfahrung hin habe ich mich entschieden weiterzumachen. Zuschauer und Mitwirkende waren so dankbar, dass es möglich war, in solchen Zeiten etwas derartig Eindrucksvolles auf die Beine zu stellen. Das hat mich sehr motiviert – die Vorstellung, in meiner Branche etwas zu bewegen, gefällt mir. Natürlich macht man sich immer auch Sorgen, ob alles klappt. Trotzdem überwiegt das schöne und starke Gefühl, aktiver Teil der Musikindustrie zu sein und nicht mehr nur eine passive Künstlerin, die auf neue Verträge hofft.

Welche Ziele haben Sie sich mit SY11 gesetzt? Und wofür steht eigentlich der Firmenname?
SY sind meine Initialen. Und 11 ist meine Lieblingszahl – eine Meisterzahl in der Numerologie, die auch für Führung steht. Als ich mich auf einen Namen festlegen musste, hatte ich eigentlich keine Zeit für solche Entscheidungen – das ist das einfache Ergebnis (lacht). Auch die nächsten Projekte von SY11 werden sehr spannend. Für den August plane ich in Sofia eine große Gala gemeinsam mit Plácido Domingo. Wir haben uns sicherheitshalber für ein Open-Air-Konzert vor der Alexander-Newski-Kathedrale entschieden, einem wunderbaren Ort. Auf diese Weise können wir die Restriktionen einhalten und trotzdem hoffentlich viele Menschen teilhaben lassen. Und es ist uns wichtig, die Botschaft zu senden, dass Kunst gerade auch heute einen würdigen Rahmen verdient. Daneben sind noch einige Konzerte rund um meine neue CD geplant, unter anderem in Genf und Barcelona.

Sie scheuen nicht vor neuen Wegen zurück. Sehr passend dazu ist Ihr neues Album konzipiert, das Sie gemeinsam mit Leonardo García Alarcón und seiner Cappella Mediterranea aufgenommen haben: „Rebirth“. Ist „Rebirth“ etwas, das Sie mit dieser Zeit verbinden?
Tatsächlich ja. Es handelt sich um ein Projekt, das schwerpunktmäßig um Alte Musik kreist. Ausgehend von diesen teils 500 Jahre alten Stücken bauen wir eine Brücke über die Jahrhunderte – bis hin zu einem Song von ABBA, der eng mit dieser Art Klangerfahrung verbunden ist. Ein Experiment, das zeigen soll, wie zeitlos und global Musik ist. „Rebirth“ ist also menschlich wie auch künstlerisch gemeint. Wir möchten die Musik verschiedener Länder – Spanien, England, Italien, meine Heimat Bulgarien – nebeneinanderstellen. Es ist erstaunlich, wie sie sich so sehr ähneln kann, obwohl die Menschen damals kaum Möglichkeiten zum Austausch hatten, geschweige denn die mediale Vernetzung des 21. Jahrhunderts. Und da sprechen wir wieder von etwas, das heute wichtiger scheint denn je: Musik verbindet – gestern wie heute!

EMPFEHLUNG

„Rebirth“
Sonya Yoncheva, Leonardo García Alarcón, Cappella Mediterranea
1 CD, Sony Classical

„Momentaufnahme in Echtzeit“

Intendant Heribert Germeshausen über Dortmunder (Theater-)Strategien im Corona-Jahr 2020

Intendant Heribert Germeshausen über Dortmunder (Theater-)Strategien im Corona-Jahr 2020

Die Oper Dortmund legt gemeinsam mit dem Forschungsinstitut für Musiktheater (fimt) der Universität Bayreuth ein Buch mit dem Titel „Oper 2020. Eine Dokumentation aus der Oper Dortmund“ vor. Im Fokus: die Bestandsaufnahme ästhetischer sowie kulturpolitischer Dortmunder (Theater-)Strategien aus dem Frühjahr und Sommer des vergangenen Jahres. Regisseurinnen und Regisseure sowie Mitarbeiter des Hauses kommen ebenso zu Wort wie der städtische Kulturdezernent, der Composer in Residence Thierry Tidrow und Ensemblemitglieder der Jungen Oper. Wir unterhalten uns mit Intendant Heribert Germeshausen über die Motivation, das Corona-Jahr 2020 zum Inhalt eines Buches zu machen, Visionen seiner Dortmunder Intendanz sowie ästhetische und betriebswirtschaftliche Wege durch die Pandemie.

Interview Florian Maier

Hinter „Oper 2020“ steht die Idee einer „Momentaufnahme in Echtzeit“. Es verwundert ein wenig, dass die Chronologie der Ereignisse im August 2020 abbricht, das Buch aber erst jetzt erscheint – mehr als ein halbes Jahr später, inmitten einer noch viel schwerwiegenderen zweiten pandemischen Welle, die Sie nicht mehr berücksichtigt haben. Ist Ihre Publikation ein reines Zeitdokument fürs Archiv?
Es braucht natürlich immer einen gewissen Vorlauf, bis ein Buch korrekturgelesen ist und die weiteren Produktionsschritte abgeschlossen sind. Wir wussten in dieser dynamischen Situation nicht, ob nach der zweiten auch noch eine dritte Welle kommt. Und hatten deshalb die Sorge, dass der Band immer nur einen Zwischenstand abbildet, wir ihn immer wieder verschieben würden und am Ende dann doch ganz auf Eis legen. Dabei bleiben die Fragen, die wir in „Oper 2020“ behandeln – nämlich in erster Linie, wie wir mit der Situation umgehen – ja ganz grundsätzlich. Graduell stellen sie sich vielleicht etwas verschärft, aber im Prinzip ändert sich nur, dass man letztlich sechs oder acht Produktionen statt vier anpassen muss. Das Buch enthält als kleinen Nachtrag eine Mail, die ich am 14. Oktober 2020 an unser gesamtes Ensemble verschickt habe. Darin habe ich die geplanten Anpassungen für die zweite Hälfte der laufenden Spielzeit erläutert. Im Ergebnis entspricht diese Mail auch heute noch fast unserem Status quo, lediglich eine weitere Oper mussten wir seitdem noch in die nächste Spielzeit verschieben. Alle anderen Produktionen sind so abgesichert, dass wir sie auf jeden Fall zeigen können – es sei denn, irgendjemand schließt die Theater bis zur Sommerpause komplett …

Heribert Germeshausen (Foto Björn Hickmann)

Würden Sie die Publikation also als eine Art „Gebrauchsanweisung“ an Strategien und Ideen beschreiben, deren Lektüre sich auch für andere Häuser lohnt?
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die irgendwelche generellen Empfehlungen zum Schließen und Öffnen der Häuser geben. Eine andere Gruppe – darunter auch ich – hat etwas verständnislos darauf reagiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder nur für seine Situation vor Ort sprechen sollte, eine Handreichung für andere Häuser betrachte ich als nicht wirklich zielführend. Das Buch ist insofern eine Situationsbeschreibung aus unserem Theater. Vielleicht erkennen sich andere darin wieder, entwickeln für ihre Häuser ähnliche Strategien. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass sich das Infektionsgeschehen, die Rechtsträgersituation, die maßgeblichen Entscheider im Kulturdezernat und der Stadtkämmerei bis hin zum Finanzministerium regional oft sehr voneinander unterscheiden. Gerade deshalb ist es kaum möglich, Handlungsempfehlungen für andere abzuleiten.

Sie leiten die Oper Dortmund unter dem Arbeitstitel „Ruhr-Oper 21“ – und setzen in Ihrer Intendanz auch stark auf partizipative Formate, die im Buch erläutert werden und ganz auf die Soziokultur der (Stadt-)Gesellschaft in lebendigem Austausch mit den Menschen vor Ort zugeschnitten sind. Verkompliziert dieser logistisch aufwendige Ansatz das Manövrieren durch die Krise?
In diesem Bereich erweist sich Corona als besonders problematisch. Letztlich steuert die Pandemie jetzt die einzelnen Projekte. Wir fragen uns bei jedem Format, ob wir es trotz der aktuellen Umstände realisieren können und ab welchem Zeitpunkt wir es verschieben müssen. Dahinter verbergen sich allerdings oft mehrdimensionale Auswirkungen. Denn auf der anderen Seite haben wir mit „Sounds of Dortmund“ jetzt ein Live-Konzept in ein Filmprojekt umgewandelt, das die Sichtbarkeit der Oper untermauert. Der Film war einer der größten Erfolge unseres Online-Spielplans und stieß auch im Kulturdezernat der Stadt auf große Begeisterung. Ein Projekt wie dieses trägt also auch zur Legitimation des Hauses in einer Zeit bei, in der alle öffentlich-rechtlichen Institutionen nochmals besonders kritisch auf dem Prüfstand stehen.

Auch die Nachwuchsarbeit liegt Ihnen sehr am Herzen – neue Impulse haben Sie etwa für die Junge Oper an Ihrem Haus angestoßen, die als eine der ersten im deutschsprachigen Raum über ein eigenes, spezifisches Ensemble verfügt. Mit „Beyond Opera – Ein Festival für Entdecker*innen“ planen Sie darüber hinaus ein Outreach-Festival, das neue Besucherschichten für das Musiktheater begeistern soll. Ist Vermittlungsarbeit während der Krise überhaupt sinnvoll umsetzbar?
Gegenwärtig versuchen wir das über digitale Kanäle, da wir natürlich nicht in die Kindergärten und Schulen gehen können. Unsere Theaterpädagogik hat gerade ein Opern-ABC entwickelt, das im Februar/Anfang März produziert wird. Das Ganze ist nachhaltig angelegt, wir werden es auch nach Corona noch drei, vier Jahre im Internet anbieten. Wir wollen Kindern und Jugendlichen damit die Theaterwelt in einem Fünf-Minuten-Format mit 26 Folgen näherbringen: Was ist ein Opernhaus, was ein Philharmonisches Orchester? Wir geben Einblicke in unsere Produktionen, machen mit berühmten Komponisten wie Mozart vertraut und zeigen auch die Arbeit in den Werkstätten. Das Opern-ABC ist einerseits allgemeingültig konzipiert, andererseits durch Beispiele aus der Oper Dortmund aber auch regional verankert. Leitende Figur ist ein Mädchen, das in ein geheimnisvolles Zimmer kommt, durch einen Bilderrahmen in unser Opernhaus fällt und dann die ganze Institution erkundet. Unsere neuen digitalen Räume betrachte ich als zusätzliche wichtige Spielstätten und Kommunikationskanäle – ersetzen können sie eine große Opernbühne „im richtigen Leben“ aber nicht. Erst bei der Rückkehr ins Analoge kann die Kunstform Oper wieder ihren ganzen Zauber entfalten.

Mit der Konzertreihe „Musik auf Rädern“ zu Gast in einer Justizvollzugsanstalt (Foto Lena Feuser)

Stichwort analoge Strategien: In „Oper 2020“ kommen unter anderem Regisseure wie Nikolaus Habjan und Martin G. Berger wie auch Ihr Technischer Direktor, die Leiterin der Kostümabteilung und Ihr Composer in Residence Thierry Tidrow zu Wort. Gab es Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Positionen, die Sie besonders überrascht haben?
Auf jeden Fall die Flexibilität, Kreativität und Hilfsbereitschaft, mit der die einzelnen Abteilungen auf die neue Situation reagiert haben und die sich hoffentlich auch im normalen Alltag erhalten wird. Ein großer Teil unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollte unbedingt weiterarbeiten, natürlich unter sicheren Bedingungen. Die Initiativen reichten vom Maskennähen bis zur Produktion eines Hörspiels, eine Idee aus der Mitte unseres Jungen Ensembles. Berührt hat mich auch die Erkenntnis, was mit mobilen Formaten dann doch erreichbar ist. Mit unserem Opernensemble waren wir beispielsweise in einer Justizvollzugsanstalt und hatten dort einen sehr emotionalen Auftritt. Empfangen wurden wir mit vielen Buhrufen, am Ende haben wir den Pausenhof unter großem Applaus wieder verlassen. Im Grunde ist ein Zwischenergebnis auf jeden Fall die starke und heilende Kraft der Musik. Das führt nochmals neu vor Augen, wie sinnvoll und wichtig das ist, was wir hauptberuflich tun.

Kurz vor den erstmaligen Theaterschließungen machte Peter Konwitschnys Inszenierung von Aubers Oper „La muette de Portici“ an Ihrem Haus Schlagzeilen als „Geisterpremiere“, die gerade noch rechtzeitig vor knapp 25 Journalistinnen und Journalisten aufgeführt wurde – um dann bis dato in der Versenkung zu verschwinden. Durch den noch wesentlich längeren Lockdown im Winter 2020/21 droht inzwischen vielerorts ein Premierenstau – gerade auch im Musiktheater mit seinem langen Planungsvorlauf. Wird der Pandemie auch Fertigproduziertes zum Opfer fallen, das nachträglich überhaupt nicht mehr zur Aufführung gelangen kann?
Das ist tatsächlich nur beim genannten Werk der Fall. Es sind inzwischen noch eine Reihe weiterer Produktionen premierenreif, die wir alle „einfrieren“ und zu einem späteren Zeitpunkt der Öffentlichkeit vorstellen. Sehr schwierig sind die sechs Jahre meiner Dortmunder Intendanz. Ich hatte sie komplett durchgeplant, mit Festivals wie dem Wagner-Kosmos und vielen aufeinander Bezug nehmenden Premieren – im Prinzip gedacht als eine Art „Gesamtkunstwerk“. Darin eine neue sinnvolle Ordnung zu bringen, war nicht ganz leicht, ist aber jetzt im Großen und Ganzen gelungen. Wir mussten einige wenige Produktionen in den letzten beiden Spielzeiten absagen, für die allerdings noch keine Regieteams engagiert waren. Es gab einen einzigen weiteren Fall, wo sich ein Regievertrag leider nicht mehr realisieren lässt. Insgesamt sind es mittlerweile sieben Produktionen – im Prinzip eine gesamte Spielzeit – die wir bis 2024 in einer sinnvollen Reihenfolge nachholen müssen.

„Geisterpremiere“ im März 2020 und Opfer der Pandemie: Peter Konwitschnys Inszenierung der Auber-Oper „La muette de Portici“ (Foto Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Damit wandert unser Blick von der Kunst zum Management: Als Kind wollten Sie lange Zeit Dirigent werden, haben dann Jura und Betriebswirtschaftslehre studiert – um schließlich doch beruflich in der Oper Fuß zu fassen. Ein Umweg mit Perspektiven, die Ihnen gerade jetzt besonders weiterhelfen?
Das kann ich auf jeden Fall unterstreichen. Was allerdings im Rückblick wie eine langfristige Strategie wirkt, kam tatsächlich eher durch unterstützende Zufälle zustande. Es war bei mir wie bei vielen Kindern und Jugendlichen aus kulturinteressierten Familien, in denen es keine Künstler gibt: einerseits die große Begeisterung, andererseits aber auch die elterliche Sorge, ob das eigene Kind wirklich in einer solch unsicheren Branche arbeiten sollte. Während meines Jura-Studiums habe ich es dann eine Zeit lang nicht mehr ertragen, in die Oper zu gehen, weil sie ohne mich stattfand und ich sie nicht einfach als Zuschauer genießen konnte. In einem Prozess, der sich über anderthalb Jahre erstreckte, habe ich realisiert, dass ich Oper wirklich selbst gestalten muss, um glücklich zu sein. Deshalb habe ich über Umwege all meine Praktika in Opernhäuser gelegt. Als Quereinsteiger war es anfangs sehr schwierig, weil ich für die klassischen Einsteigerpositionen als überqualifiziert galt und für die nächsthöheren dann schon mangelnde Berufserfahrung hatte. Insofern bin ich sehr froh und dankbar, dass mir der Einstieg über die Dramaturgie geglückt ist. In der jetzigen Situation hilft mir mein Hintergrund tatsächlich sehr, gerade auch im Gespräch mit Sponsoren oder Finanzpolitikern. Das sind die Kommilitonen, mit denen ich von der Denkweise her in meinem BWL-Studium sehr viel zu tun hatte und bei denen grundsätzlich – anders vielleicht als bei Jura-Studenten – ein kulturelles Interesse deutlich weniger stark ausgeprägt ist. Insofern hat mir meine Studienzeit einen wertvollen Einblick in die Denkweise von Menschen, die nicht so kulturaffin sind, ihre Ausbildung und Argumentationsweise gewährt. Durch dieses Wissen kann ich natürlich auch Strategien für den persönlichen Umgang entwickeln. Und das wird sich zukünftig sicher als hilfreich erweisen.

EMPFEHLUNG

Merle Fahrholz, Heribert Germeshausen, Ulrike Hartung, Anno Mungen (Hg.): „Oper 2020. Eine Dokumentation aus der Oper Dortmund“
212 Seiten, Königshausen & Neumann

Jetzt muss Schluss sein!

Ein breites Bündnis namhafter Kunstschaffender fordert die sofortige Öffnung der Kulturstätten

Ein breites Bündnis namhafter Kunstschaffender fordert die sofortige Öffnung der Kulturstätten

Wie steht es um die Kunstfreiheit in Zeiten der Pandemie? Christian Gerhaher, prominenter Kopf der Initiative „Aufstehen für die Kunst“, beklagt „das offensichtlich geringe Interesse an den Künsten vonseiten der Politik“ und hat zusammen mit seinen drei Kollegen Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Hansjörg Albrecht und Kevin Conners sowie der renommierten Berliner Kanzlei Raue den Kampf aufgenommen: gegen das derzeitige Kultur-Totalverbot und ein mutmaßlich verfassungswidriges Handeln des Staates. „Macht das Tor zur Kultur auf. In Euren Köpfen“, wütet auch Schriftsteller Gert Heidenreich am 27. Februar in der FAZ. Ist nun die Zeit des „Erduldens“ endgültig vorüber? Wir haben nachgefragt beim österreichischen Charaktertenor Wolfgang Ablinger-Sperrhacke. Man darf hoffen …

Interview Iris Steiner

Was möchten Sie mit Ihrer Initiative erreichen?
Das große Ziel ist eine rechtliche Klärung, inwieweit die grundgesetzlich äußerst stark geschützte Kunstfreiheit „einfach so“ seit einem Jahr außer Kraft gesetzt werden kann. Wir sind seit März 2020 in verschiedenen Formen des Lockdowns, was zu Beginn auch durchaus gerechtfertigt war. Durch diverse Feldversuche im Laufe des Jahres – etwa bei den Salzburger Festspielen – wurde bewiesen, dass Kultur mit Hygienemaßnahmen durchaus stattfinden kann. Auch die Öffnungen der Häuser im September und Oktober liefen völlig problemlos. Nichtsdestotrotz wurde seit November alles komplett und ohne stichhaltige Begründung geschlossen, während gleichzeitig Gotteshäuser fast ohne Einschränkungen durchgehend geöffnet blieben.

Warum glauben Sie, dass ausgerechnet der Kunst- und Kulturbereich anscheinend grundlos so starken und dauerhaften Total-Verboten unterlegen ist?
Unser Kunstbetrieb wird hauptsächlich von staatlicher Seite finanziert, was eine Schließung recht einfach macht. Thomas Hengelbrock wurde beispielsweise auf Nachfrage von zwei Ministerpräsidenten und einem regierenden Bürgermeister mitgeteilt, dass die Bevölkerung diese Verbote akzeptiert und man sie deshalb auch durchzieht. Das ist insgesamt unser Problem: Klagen müssen die Künstler, weil etwa Intendanten als Angestellte von Kommune oder Staat kein Klagerecht hätten. Die Rechtsträger hingegen werden ja nicht gegen sich selber klagen. Auf Anstrengung der Staatskapelle Dresden gibt es jetzt zum Beispiel einen Prozess beim Arbeitsgericht Chemnitz, auch um ein Statement zu setzen, dass Kurzarbeitergeld alleine monatelanges quasi Berufsverbot nicht ausgleichen kann.

Was würden Sie Bundeskanzlerin Merkel oder Ministerpräsident Söder gerne sagen?
Kunst ist ein Lebensmittel. Sie definiert das Erbe der Menschheit und wenn man sieht, was von der übrig geblieben ist über die Jahrtausende, sind es immer Kunstwerke und Bauten. Keiner weiß, wer vor 100 Jahren bayerischer Ministerpräsident war, aber jeder kennt Goethe und Shakespeare. Das zum einen. Zum anderen haben gerade Deutschland und Österreich aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber der Kunstfreiheit, die ja bekanntlich während der NS-Zeit aufs Schärfste unterdrückt wurde. Ein schlimmes Erbe, da müsste viel mehr historische Sensibilität walten. Die Kultur bei der schrittweisen Öffnung als letztes zu berücksichtigen, wie jüngst in einem Vorschlag des Berliner Oberbürgermeisters Müller geschehen, ist in mehrerlei Hinsicht ein Unding. Nach einem Jahr Pandemie sollte man endlich kapiert haben, dass man jedes Theater hinsichtlich Publikumskapazität und Hygienekonzept einzeln betrachten muss. Viele Studien haben der Kultur mit das geringste Innenraumrisiko überhaupt attestiert.

Wie ist das genaue weitere Vorgehen der Initiative geplant? Ihr im November angekündigter Weg eines Eilantrags auf Wiederöffnung wurde bisher ja nicht beschritten …
Es gab bereits jetzt – pikanterweise noch Tage vor der vereinbarten nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 3. März – eine offizielle Stellungnahme des Ministeriums, dass alle Theater bis zum 31. März geschlossen bleiben sollen. Dies wurde den Mitarbeitern der Häuser bereits mitgeteilt, basiert jedoch zum jetzigen Zeitpunkt auf keiner Rechtsgrundlage. Sobald sich diese Ankündigung durch eine offizielle Verordnung bestätigt, werden wir am 6. oder 7. März dagegen Klage einreichen.

Wer kann sich daran beteiligen – und wie?
Wir freuen uns über jede Unterstützung, mit Ausnahme von „Querdenkern“ aller Art, von denen wir uns ausdrücklich distanzieren, da unser Eilantrag auf Maskenpflicht, Testungen und Hygienekonzepten beruht. Wir brauchen vor allem finanzielle Hilfe für Medienarbeit und die ebenfalls nicht gerade kostengünstige Klage. Jeder kann uns über unsere Website eine Spende zukommen lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob wir nicht letztendlich bis zum Bundesverfassungsgericht gehen müssen. Allerdings gibt es einen ganz gesunden Optimismus, was den Erfolg unseres Eilantrags betrifft. Sollten die Spendeneinnahmen dann die Ausgaben übersteigen, werden wir das Geld an durch die Pandemie mittellos gewordene Künstler weiterreichen.

www.aufstehenfuerdiekunst.de

Weiblich, spritzig, jung

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

von Maike Graf

„Jung“: ein Wort mit einem ähnlich breiten Bedeutungsspektrum, wie die Meinungen zu einer Operninszenierung bei einem großen Auditorium auseinandergehen. In manchen Kontexten meint der Begriff „schön“, „frisch“, „neu“ und „frei“. Wieder andere denken an „nicht so erfahren“ – als hätte das karrieristisch „Junge“ noch nicht genügend Lebenszeit gehabt, alle wichtigen (alten) Bücher zu lesen. Auf der einen Seite wünscht man sich Stars und das Altbewährte. Auf der anderen ist „jung“ aber genau das, was die Kulturbranche braucht – mit Formaten für Kinder und Jugendliche oder auch experimentellen Publikumssituationen. Manchmal ist „jung“ also mit einem gleichgültigen Mundzucken versehen und manchmal mit strahlenden, faszinierten Funken in den Augen.

Die Regisseurin Ilaria Lanzino ist „jung“. Weil sie 30 Jahre alt ist, weil sie in mancher Hinsicht Regie-Debütantin ist, aber auch weil sie spritzig und agil auftritt. Dass das irgendwann irrelevant wird, erlebe ich Ende Oktober 2020 bei einer Probe zu Manuel de Fallas Stück „Meister Pedros Puppenspiel“ an der Deutschen Oper am Rhein. Hier passieren oft viele Dinge gleichzeitig: Gerade spielt die Regisseurin, über eine Breite von sechs Opernsitzen hinweg, einem Darsteller auf der Bühne eine Geste vor. „Grööößer!“ ruft sie dabei über den halben Zuschauerraum. Während daraufhin wieder die Probenmusik erklingt, wendet sie sich, mit einer Stimme in Zimmertemperatur, an ihre Puppentheaterregisseure, spricht leise zu ihren Regieassistenten, was gleich an der Szene verändert werden muss, und sprintet dann, von jetzt auf gleich, doch auf die Bühne, um mit dem Darsteller die gerade geprobte Szene zu reflektieren. Ich habe schon lange keine Regieführenden mehr rennen sehen. Aber das ist Lanzino, die eher über die Sitzreihen springen würde, als langsam und gemütlich den ordentlichen Weg über den Bühnenzugang zu wählen oder gar jemand anderes zu schicken. Bei dieser Power fragen sich die Probenden an diesem Tag nicht, wofür das Stück jetzt eigentlich „tipptopp“ gemacht wird, so der Anspruch der Regisseurin, obwohl die Premiere im November 2020 vorerst entfallen muss.

Kampf gegen Windmühlen: Manuel de Fallas „Meister Pedros Puppenspiel“ harrt Corona-bedingt weiter seiner Premiere (Foto Jochen Quast)

„Allora!“

Es ist nicht die einzige Corona-bedingte Extremsituation für Ilaria Lanzino in dieser Spielzeit. Die letzte ging allerdings ein wenig besser für die Regisseurin aus. Ihre Inszenierung von Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ erwuchs (durch die Verschiebungen aufgrund der ersten Bühnenschließungen) von einem Doppelabend in dem Format „Young Directors“ der Deutschen Oper am Rhein nicht nur zur alleinig abendfüllenden Oper, sondern auch zur Eröffnung einer Spielzeit, auf die viele Opernliebhaber so sehnsüchtig gewartet hatten.

Auf die Frage nach ihrem Inszenierungsstil ruft sie „Allora!“, hüpft auf ihrem Stuhl in eine aufrechte Haltung und rückt sich selbst in eine erklärende Rolle, in der sie viel, aber elegant gestikuliert. Nachdem sie zufällig bei Spotify, wo sie oft nach neuem Repertoire stöbert, auf den „Kaiser von Atlantis“ stieß, musste sie sich eingestehen: „Das Stück ist besser als ich und alles, was ich daraus machen könnte.“ Was für sie heißt, es nicht aus einer arroganten Erhabenheit zwanghaft umzuinterpretieren. Bei anderen Stücken ist das ganz anders, „da muss ich das richtig knallhart neu interpretieren, weil sie Werte vertreten, die ich nicht im Geringsten teile“. So beispielsweise bei der Oper „Straszny Dwór“ („Das Gespensterschloss“) von Stanisław Moniuszko, dem Werk, mit dem sie 2020 den renommierten 11. Europäischen Opernregie-Preis (EOP) gewann. Dieses Stück aus dem 19. Jahrhundert vertritt Werte, die man heute als „männlich-chauvinistisch“ bezeichnen würde. Um sich zu distanzieren, wird Lanzino Symbole des polnischen Feminismus und Drag Queens auf die Bühne stellen, flüstert sie mir zu. Und ja, die Inszenierung soll bald auch in Polen, in Poznań, auf die Bühne kommen – dem Land, das gerade seine LGBT-ideologiefreien Zonen verteidigt hat.

Wer also einen kleinsten gemeinsamen Nenner in den Inszenierungen von Ilaria Lanzino zu finden sucht, die sich von Kinderoper über Uraufführungen hin zu großer und schwergewichtiger Oper erstrecken, der entdeckt ihn in der Spielfreude der Darstellerinnen und Darsteller ihrer Produktionen. Das ist kein Zustand, in dem es darum geht, wie viel Spaß von der Bühne strömt, und auch keiner, der die Motivationsfähigkeit der Regisseurin ausdrückt. Nein, die Sängerinnen und Sänger in den Produktionen von Lanzino schauspielern unglaublich gut! Eine Aussage, die in Bezug auf Oper nicht immer fällt.

Probenabhängig

„Ich gebe im Wort ‚Musiktheater‘ der Musik nicht automatisch die höhere Bedeutung. Die Musik darf natürlich nicht kaputtgemacht werden und es muss im Spielen auch eine Temperaturbalance geben. Aber es ist trotzdem das Wichtigste, dass die Szene lebendig ist“, beteuert die Regisseurin. Sogar im Gespräch hat sie eine derartige Ausdrucksstärke, dass man manchmal vergisst, in der Opernkantine und nicht auf der Bühne zu sitzen. An erster Stelle steht für Ilaria Lanzino, den Singenden ihre Charaktere „sehr sehr“ bewusst zu machen und gemeinsam die kleinsten Gesten, genauesten Gesichtsausdrücke und sogar Hand- oder Fußstellungen zu spitzen. Etwas, was sie nicht nur zuhause in ihrem Regiebuch plant, sondern gemeinsam vor Ort erarbeitet. Manchmal auch mit viel Mühe, weil das Schauspiel kein so großer Teil des Bildungsbetriebs sei, „der sehr auf Stimmenpornographie fokussiert ist“, kritisiert sie mit dem Begriff von Regisseur Peter Konwitschny, der den Fokus auf rein klangliche Befriedigung anprangert.

Müde ist Ilaria Lanzino bei diesen intensiven Proben aber nie. Sie hat nicht einmal einen Hauch von Augenringen, obwohl sie in der letzten Zeit drei Dienste gemacht hat, um die zwei Besetzungen für „Meister Pedros Puppenspiel“ einzustudieren und das Wort Urlaub eigentlich nicht kenne, wie sie sagt. „Ich bin probenabhängig“, beschreibt sie den rauschartigen Zustand, den die Bühne in ihr auslöst. „Die Proben sind wie eine Droge für mich.“ Und wenn sie einmal nicht arbeitet? „Eigentlich tue ich nur so, als würde ich nicht arbeiten“, lacht sie. „Ich gehe dann ins Kino, ins Theater oder schaue zuhause einen Film und lasse mich inspirieren.“  Die Regisseurin zwinkert, während sie gefüllt von Spannung über ihr arbeitsdurchzogenes Leben schwärmt, das ihr die größte Inspirationsquelle ist: „Du musst leben, um auch lebendige Menschen zu inszenieren.“

Auf der Probebühne (Foto Michal Leskiewicz)

Von wiehernden Pferden zur Regie

Dass die Sängerinnen und Sänger ihr vertrauen und sich, gerade im Spielen, über ihre eigenen Grenzen pushen lassen, liegt daran, dass Lanzino weiß, wovon sie spricht. Sie hat nämlich selbst Gesang studiert. Ein Bachelor und ein Master, das passiert nicht aus Versehen. Heute lacht sie darüber, dass es eher Glück war, bereits mit 16 und noch während der Highschool am Provinzkonservatorium in Lucca angenommen zu werden; bei Giovanni Dagnino, einem Lehrer, der seine Studierenden gerne mit besonders viel unterschiedlichem Repertoire beschäftigt. Die Regisseurin, die so aufs Schauspielern setzt, nimmt auch in unserem Gespräch immer wieder verschiedene Rollen ein und spielt mir die Szene ihrer Aufnahmeprüfung vor: „Beim Vorsingen muss der einzige Bewerber neben mir ein wieherndes Pferd gegeben haben. ‚Singen Sie bitte!‘ – ‚Hüüüüooopffff.‘ – ‚Vielen Dank, der Nächste!‘ Und dann komme ich und singe halb schief eine Aria antica. Sie fragten sich wohl: ‚Nehmen wir das wiehernde Pferd oder das halbtalentierte Mädchen? Na gut, dann eben das Mädchen. ‘“

„Das Gesangsstudium war sehr leidenschaftlich, ich habe oft die Highschool geschwänzt, um ins Konservatorium zu gehen“, schmunzelt sie in sich hinein. Aber nach einer Hospitanz bei Benedikt von Peters „Aida“ in Berlin habe sie sich dann für die Regie entschieden. Bis dahin wollte sie für ein weiteres Gesangsstudium nach Köln, aber das Singen sei immer mehr ein „Schauen wir mal, wie es kommt“ gewesen. Als sie das realisierte, sattelte sie um – auf das Metier, in dem sie sich tatsächlich durch die „bigger vision“ der Oper wühlen kann und nicht nur eine Partie lernt und nicht weiß, was im zweiten Akt passiert. „Jetzt springe ich nicht ab, die Regie ist mein Traumjob und mein Leben. Aber das Singen hilft mir trotzdem sehr sehr bei meiner Arbeit, weil ich konkrete Lösungen aus dieser Erfahrung einbringen kann. Beispielsweise, an welchen Stellen die Singenden atmen können, damit sie meine Ideen realisieren.“

Die Frage, ob es bei der ganzen Liebe zum Schauspiel dann nicht viel eher das Sprechtheater ihr Metier gewesen wäre, braucht man daraufhin auch nicht mehr zu stellen. Denn es war immer die Musik, seitdem sie mit acht Jahren das erste Mal Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ auf der Anlage ihrer Mutter gehört und sich dann durch die Kirchenmusik und Mozarts „Requiem“ unwiderruflich in die Welt der Musik verliebt hatte.

Sensibles Gespür für bildstarke und vielschichtige Deutungen: Szene aus Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ (Foto Hans Jörg Michel)

„Sehr sehr“

Ist Ilaria Lanzino jetzt jung oder etabliert? Wie ist sie im Vergleich zu den „gräulichen Urgesteinen“ zu positionieren? Ehrlich gesagt gibt es so viele Dinge, die sie besser beschreiben, als sie als „jung“ zu charakterisieren, was auch immer das heißen mag. Vielleicht sollten wir das Wort, bei dem sich sowieso jeder und jede für eine eigene Interpretation entscheiden kann, beiseitelegen und stattdessen sagen: Ilaria Lanzino ist energiegeladen, temperamentvoll, fantasiesprudelnd, hemmungslos. Und was sie noch charakterisiert, ist ihre große liebevolle und respektvolle Geste gegenüber der Bühne, der Oper und der Regie. Auch dass sie jede Kollegin und jeden Kollegen beim Namen nennt oder dass sie immer „sehr sehr“ sagt, um einen Umstand zu verdeutlichen, denn die einfache Form reicht einfach nicht.

„Sie singt und spricht und tanzt mit einer Freude, Hingabe und ganzen Körperlichkeit, dass man nur staunt – und das alles unterfüttert mit fachlicher Kompetenz“, erkennt Regisseur Axel Köhler bereits in ihrer Zeit als Regieassistentin seiner „Fledermaus“-Produktion an der Deutschen Oper am Rhein. Charakteristika, die sie auch heute noch auszeichnen.

„I’m here to watch your art!“, ruft Tenor David Fischer von der Bühne, um zu erklären, warum er da ist, obwohl seine Szene gar nicht mehr geprobt wird. „Love you!“, ruft Lanzino zurück. Ob es nun ihr großartiger „Kaiser von Atlantis“ ist, die Corona-bedingt verschobene Produktion von „Meister Pedros Puppenspiel“ oder ihr „Gespensterschloss“, das nach Polen auch in Wiesbaden zur Aufführung kommen soll: We should be there to watch her art!

Die letzte Primadonna

Eine Hommage an Leonie Rysanek

Eine Hommage an Leonie Rysanek

von Peter Sommeregger

Wenn man 23 Jahre nach ihrem Tod das Ehrengrab der Sopranistin Leonie Rysanek auf dem Wiener Zentralfriedhof besucht, wird man dort – Sommer wie Winter – frische Blumen, oft auch ein brennendes Grablicht sehen können. „Die Rysanek“ oder auch nur „Leonie“ genannte Künstlerin hat sich in ihrer Heimatstadt einen Ruhm und eine Beliebtheit erworben, an der auch ihr Tod im Jahr 1998 kaum etwas änderte.

Die am 14. November 1926 geborene Rysanek war Wienerin durch und durch – dass sie aus einer ursprünglich tschechischen Familie stammte, ist bekanntlich gute wienerische Tradition. Die Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg, alle Hoffnungen der Eltern ruhten auf Leonie und ihrer älteren Schwester Lotte. Beide zeigten früh musikalisches Talent und begannen nach dem Krieg ein Gesangsstudium an der Wiener Musikakademie bei Bariton Rudolf Großmann, den die blutjunge Leonie trotz großen Altersunterschiedes auch heiratete. Er begleitete sie zu ersten Engagements an das Landestheater Innsbruck, wo sie 1949 als Agathe im „Freischütz“ debütierte, und an das Saarbrücker Opernhaus.

Der Beginn einer Weltkarriere

Ein entscheidender Karriereschritt gelang ihr 1951 als Sieglinde in Bayreuth, als Wieland Wagner sie für die ersten Festspiele nach dem Krieg engagierte und damit schlagartig berühmt machte. Der groß dimensionierte Sopran der Rysanek, im Timbre unverwechselbar, entfaltete in der Höhe eine Durchschlagskraft und ein Leuchten, das zu ihrem Markenzeichen werden sollte. Die Sieglinde blieb eine ihrer wichtigsten und erfolgreichsten Partien – und auch das darauffolgende Engagement an der Bayerischen Staatsoper wurde ein großer Erfolg. Die Rysanek glänzte im jugendlich dramatischen Repertoire zwischen Wagner, Richard Strauss, Verdi und Puccini. Herausragend: Ihre Helena in der „Ägyptischen Helena“ von Richard Strauss – eine Aufführung aus dem Münchner Prinzregententheater, die bis heute auf CD nachzuhören ist. Als die Wiener Staatsoper 1955 ihr wieder aufgebautes Haus an der Ringstraße eröffnete, war Leonie Rysanek bereits für das Ensemble engagiert. Mit der Kaiserin in Strauss’ „Frau ohne Schatten“ fand sie 1955 ihre Lieblingsrolle und eroberte sich bereits in den ersten Wiener Jahren die Gunst des anspruchsvollen Wiener Publikums im Sturm. Es sollte eine lebenslange Liebesbeziehung bleiben.

Die fünfziger Jahre kann man auch insgesamt als Beginn ihrer großen Karriere bezeichnen. Leonie Rysanek gastierte an großen europäischen Opernhäusern, Dirigenten vom Rang eines Herbert von Karajan und Karl Böhm hatten sie längst für sich entdeckt. Es schien sich abzuzeichnen, dass die Opernhäuser von Wien und München die Fixpunkte ihrer Tätigkeit bilden würden. Da öffnete sich mit einem Vertrag der Oper von San Francisco die lukrative US-amerikanische Schiene. Schnell avancierte sie auch dort zum Publikumsliebling, stand in San Francisco als Senta, Sieglinde und Aida auf der Bühne. Zur Spielzeiteröffnung 1957/58 sang sie eine der wenigen Male die Turandot und erhielt eine bedeutungsvolle Chance, als sie nach einer Absage von Maria Callas die Lady Macbeth übernahm. Diese Partie sagte die Callas dann auch an der New Yorker Met ab, und so wurde aus dem schon geplanten Met-Debüt der Rysanek eine Lady Macbeth anstelle einer Aida. Für nahezu drei Jahrzehnte war Leonie Rysanek ab diesem Zeitpunkt eine der beliebtesten Sängerinnen der New Yorker Metropolitan Opera – und Ende der fünfziger Jahre eine der gefragtesten Sängerinnen weltweit.

Erfolge und Rückschläge

Der Druck dieses Erfolgs kulminierte im Sommer 1959 nach einer „Ariadne“-Premiere in München in einem gesundheitlichen Zusammenbruch. Die Saison in San Francisco musste abgesagt werden, um eine notwendige Ruhepause einzuhalten. Am 7. Dezember 1959 war sie zurück und nun endgültig an der Weltspitze angekommen – zehn Jahre nach ihrem Innsbrucker Debüt zur Eröffnung der Mailänder Scala als Desdemona an der Seite Mario del Monacos.

Im Oktober 1960 fügte sie an der Met mit der gefürchteten Partie der Abigaille in Verdis „Nabucco“ ihrem Repertoire eine weitere Rolle hinzu, von der sie sich aber aus Sorge um ihre Stimme bald wieder verabschiedete. Erneut stellte sich eine Nervenkrise ein, die sie zu einer etwa sechsmonatigen Pause zwang. In den frühen sechziger Jahren pendelte sich die Zahl der jährlichen Auftritte bei knapp 50 ein, eine weise Beschränkung. Die Intensität ihrer Rollenporträts machten die Rysanek zu einer Ausnahmeerscheinung im internationalen Opernbetrieb. Die Leidenschaft ihrer Tosca etwa ließ ihre Partner als Scarpia um Leib und Leben fürchten, so sehr identifizierte sie sich mit der Rolle.

Hervorzuheben ist auch ihr Erfolg als Kaiserin in einer neuen „Frau ohne Schatten“, die Herbert von Karajan 1964 zum 100. Geburtstag von Richard Strauss in Wien dirigierte. Mitte der sechziger Jahre war sie darüber hinaus auch wieder regelmäßiger Gast in Bayreuth und konnte in Wieland Wagners letzter „Ring“-Inszenierung ihren Triumph als Sieglinde von 1951 wiederholen. Leider verhinderte sein plötzlicher Tod ein Rollendebüt als Isolde, außer dem „Liebestod“ in einigen Konzerten hat die Rysanek diese Rolle bedauerlicherweise nie gesungen.

Das Jahr 1968 markierte einen privaten Neubeginn. Nach der Scheidung von Rudolf Großmann heiratete sie den Journalisten und Musikwissenschaftler Ernst Ludwig „Elu“ Gausmann, der seine Ehefrau von da an managte. Sie erweiterte ihr Repertoire um die Milada in Smetanas „Dalibor“, ein weiteres Rollendebüt als Salome erfolgte in München. Später feierte sie auch in Wien und an der Metropolitan Opera Erfolge mit dieser Rolle. Mit Cherubinis „Medea“ in Wien und Ponchiellis „La Gioconda“ in Berlin nahm die Rysanek dazu zwei Glanzrollen von Maria Callas in ihr Repertoire auf.

Langsamer Abschied

Im Frühling 1981 sang sie zum ersten und einzigen Mal die Elektra – in einem Film von Götz Friedrich mit Karl Böhm am Pult – und reihte sich mit nur einer einzigen Produktion eindrucksvoll in die Reihe großer Interpretinnen dieser Partie ein. 1982 folgte die Kundry im „Parsifal“ unter James Levine in Bayreuth. Im Februar 1984 feierte die New Yorker Met ihren Star mit einer triumphalen Gala zum 25-jährigen Hausjubiläum. Ab 1985 erweiterte sie ihr Repertoire um die Charakterrolle der Küsterin in Janáčeks „Jenůfa“, später folgte noch die Kabanicha aus „Káťa Kabanová“.

Es war die Zeit des langsamen Abschieds von ihren Glanzrollen, die Rysanek wechselte von der Salome zur Herodias, von der Chrysothemis zur Klytämnestra. Sie sang die Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“ und setzte ihre internationale Karriere nicht zuletzt durch eine kluge Auswahl ihrer Partien ungebrochen fort. Im Alter von 70 Jahren erst nahm sie von der Bühne Abschied – an der Met als Gräfin, in Salzburg letztmalig als Klytemnästra. Leider verstarb sie nur wenige Monate später, am 7. März 1998, in Wien an einem Krebsleiden.

Um Leonie Rysaneks Karriere zu würdigen und aus heutiger Sicht richtig einzuordnen, muss man bedenken, dass diese Laufbahn nicht annähernd so stark von den Medien unterstützt wurde wie heutige Karrieren. Ihre Wirkung, ihren Ruhm erwarb sie sich ausschließlich durch Auftritte, die durch ihr Charisma und ihre darstellerische Intensität zum Ereignis wurden. Sie war wohl die letzte Primadonna, die ohne Agentur, ohne medienwirksame TV-Auftritte und über weite Strecken auch ohne Schallplatten-Einspielungen ihren internationalen Ruhm über Jahrzehnte erhalten konnte.

Diskographie

Vor allem die frühen Jahre von Leonie Rysaneks Karriere sind auf Schallplatte dokumentiert. Unter Ferenc Fricsay sang sie die Leonore im „Fidelio“, Karl Böhm wählte sie als Kaiserin für die allererste Plattenaufnahme der „Frau ohne Schatten“. Furtwängler spielte mit ihr als Sieglinde die „Walküre“ ein, in dieser Rolle ist sie auch unter Karl Böhm in seinem Bayreuther „Ring“ von 1965 zu hören. Studioaufnahmen von „Ariadne auf Naxos“, dem „Fliegenden Holländer“, von Verdis „Macbeth“ und „Otello“ entstanden in Wien, New York, London und Rom. In späteren Jahren zeigte sie sich unzufrieden mit der Art und Weise, wie komplette Opern aufgenommen wurden, und lehnte weitere Plattenverträge ab.

Der Großteil der Diskographie der Sängerin besteht daher aus Live-Mitschnitten, die ihrem Temperament und ihrer Bühnenpräsenz ohnehin viel eher gerecht werden. Manche dieser Mitschnitte erschienen bei offiziellen Labels, wie ihre Salome, Medea und Küsterin. Daneben kursieren auf dem Graumarkt Dutzende von Auftritten an den verschiedensten Opernhäusern. Filmdokumente mit der Rysanek sind dagegen leider eher dünn gesät, außer dem „Elektra“-Film hat sich wenig erhalten. Für jeden, der sie auf der Bühne noch erleben durfte, bleibt sie zweifellos unvergesslich!

„Eigentlich bin ich ja Konzertpianist“

Ein Nachruf auf Stefan Mickisch

Ein Nachruf auf Stefan Mickisch

von Stephan Knies

Noch vor Kurzem empfing er mich in seiner Schwandorfer Villa zum Interview – wie viele derartiger Gespräche wuchs sich auch dieses aus zur abendfüllenden Angelegenheit. Die druckreife Beantwortung von Fragen interessierte ihn dabei überhaupt nicht, eine intensive Diskussion angereichert mit Grünem Veltliner, mit von seiner Frau gereichtem Essen und seinem Lieblingsgetränk Jägermeister hingegen sehr. Wir redeten stundenlang über russische Literatur, die Einzigartigkeit von Lou Salomé, über Astrologie und die Deutsche Bahn. Der Lockdown nehme ihn mit, sagte er, er halte es nicht aus mit Maske herumzulaufen, und er sehne sich entschieden danach, endlich wieder spielen zu dürfen. Sein schon immer stark ausgeprägter Widerspruchsgeist arbeitete sich ab an den aktuellen Verboten und deren Verhältnis zum Grundgesetz. Dass er sich mit seinen Äußerungen zuletzt – verbal um sich schlagend – Sympathien verscherzt hatte, wusste er sehr wohl. Aber jede Art von Vorschriften-Willkür stellte sein Selbstverständnis als freier Künstler nun mal empfindlich in Frage. Neben den sechs soeben herausgekommenen Doppel-CDs zu sinfonischen Werken von Beethoven und Richard Strauss hatte er noch ein, zwei weitere wie immer live aufgenommene Vorträge zur Veröffentlichung in petto. Die anderen Mitschnitte wollte er nicht zeigen, sie waren ihm dafür nicht gut genug – perfektionistisch war er, „wie Brahms“, der ja schließlich auch alles verbrannt hat, was die eigenen Ansprüche nicht erfüllte. Und eine weitere Überraschung hielt der Mann, der berühmt geworden ist mit seinen Operneinführungen, an diesem Abend noch parat: Oper interessiere ihn eigentlich gar nicht! Immerhin sei er aufgewachsen mit Schumann und eben Brahms, mit Klaviermusik und Sinfonik, er sehe sich zuerst als Konzertpianist und erst dann als Wagner-Experte. Sein Ernst? Die Frage, auf welche Projekte er sich freue, brachte ihn dann doch schnell zurück zur Oper. Wagner wollte er ab April im Rahmen einer Gastprofessur in Finnland präsentieren, und Korngolds wiederentdeckte Oper „Das Wunder der Heliane“ unbedingt mal erarbeiten … Widersprüche waren stets seine Begleiter.

Stefan Mickisch hat mehr als 3.000 Auftritte absolviert, davon allein rund 500 in Bayreuth. Was hat ihn angetrieben? Allerhöchste Ansprüche an die eigene Virtuosität und Intelligenz, an die philosophische Einordnung und erzmusikalische Durchdringung „seiner“ Werke, an seine Spontaneität und seinen immer präsenten Humor – und an die Hirnwindungen seines trotzdem stets bestens amüsierten Publikums. Diese besondere Begabung hat ihm Einladungen in alle Musikzentren der Welt gebracht, aber auch Anfragen nach Dubai oder Neu-Delhi. Immer mit im Gepäck: sein breiter Oberpfälzer Zungenschlag, unverkennbar auch in den Vorträgen auf Englisch und den Sprachaufnahmen auf Japanisch. Eine besondere Beziehung verband ihn mit Wien: Hier hatte er im Konzerthaus einen eigenen Zyklus, hier entstanden viele seiner Live-Mitschnitte, an der Volksoper brachte er zeitweise jährlich eine neu erarbeitete Opernarbeit heraus, für den ORF hat er die 271 von ihm teilweise neu definierten Leitmotive aus Wagners „Ring des Nibelungen“ aufgenommen – allein diese Leistung wird singulär bleiben. Nur wenige Tage nach unserem gemeinsamen Abend wurde sein Tod vermeldet, das Interview sollte sein letztes werden. In Wien wollte er begraben werden. Stefan Mickisch wird fehlen.

Oper reloaded

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Während die Theaterwelt mit dem Lockdown kämpft, schwimmen einige junge Künstler gegen den Strom, gründen die Kammeroper Salzburg und bringen blitzschnell eine „Digital Opera“ mit tagesaktuellem Bezug zur Uraufführung. Hält das Format, was es verspricht?

von Florian Maier

Freitag, 1. Mai 2020. Oder auch: Tag 47 der sozialen Isolation in Österreich. Das Erstlingswerk „Tag 47“ der erst wenige Tage zuvor ins Leben gerufenen Kammeroper Salzburg feiert via YouTube Premiere. Die knapp 20-minütige Komposition entsteht in einer Zeit des gesellschaftlichen wie künstlerischen Stillstands – und nutzt gerade diese Situation als kreativen Anker. Im Fokus stehen Menschen unserer Zeit, die durch Corona auf sich selbst zurückgeworfen werden, die in ihren Wohnungen Gefangene ganz persönlicher Krisen sind. Häusliche Gewalt, Entfremdung in einer Liebesbeziehung auf räumlicher Distanz, in der Einsamkeit sich zuspitzende Psychosen: „Tag 47“ legt den Finger in die Wunde von Problemen, die unter „normalen Umständen“ wahrscheinlich unentdeckt unter der Oberfläche weitergebrodelt hätten.

Die jungen kreativen Köpfe hinter dem Werk – Komponist Gordon Safari (38), Regisseur Konstantin Paul (22) und Ausstatter Michael Hofer-Lenz (24) – bezeichnen ihre Uraufführung als „Digital Opera“. Und verstehen darunter eine Komposition, die nur digital gespielt werden kann und soll. Angesichts unzähliger Streaming-Angebote aus der Konserve gelingt ihnen damit ein durchaus erfrischendes Signal: Corona bedeutet nicht nur Stillstand, auch Neues kann aus der Krise erwachsen. Die Idee dazu kam Safari in einer schlaflosen Nacht Mitte April. Als Dirigent, Organist und Gründer des Ensembles BachWerkVokal hatte er bis dato eher mit dem klassischen Künstlerproblem „Zu viele Ideen, zu wenig Zeit“ zu kämpfen. Nun also die plötzliche Unmöglichkeit, längst geplante Projekte in den vorgesehenen Bahnen zu realisieren. Und: der aufkeimende Gedanke, dieser Krise aktiv und kreativ zu begegnen und der theatralen Dimension von Corona mit einer Kurzoper nachzuspüren. Die Vision zur Kammeroper Salzburg war geboren, Paul und Hofer-Lenz sofort begeistert mit an Bord. In einem Zeitraum von nur zehn Tagen entstanden Libretto und Partitur zu „Tag 47“, wurden die Partien einstudiert, das Rohmaterial gefilmt und die einzelnen Spuren im Feinschnitt am PC übereinandergelegt. Ein Sprint mit absoluter Punktlandung: Nur 20 Minuten vor der Online-Premiere wurde das „Endprodukt“ fertig.

Gordon Safari, Initiator und Komponist von „Tag 47“ (Foto Michael Brauer)

„Wie soll die alte Nähe wieder entstehen?“

Die elektronische Anmutung der Komposition wird dabei vom Isolationsgebot bestimmt. Safari entschied sich für die Arbeit mit elektronischen MIDI-Klängen (angereichert durch wenige ausgewählte konventionelle Instrumente), die inhaltlich plausibel mit der ästhetischen Ausgangslage von „Tag 47“ harmonieren: Die Webcams der Protagonisten erlauben uns einen Blick in ihre Privatsphäre – die Guckkästen einer imaginären vierten Wand. Was sich dahinter abspielt, sind atmosphärisch aufflackernde Szenen des Jahres 2020. Vincent und Gregor sehen sich seit Wochen nur noch im Videochat, hadern mit ihrer abstumpfenden Liebe, ringen um Worte und gegenseitige Aufmerksamkeit. Sarah wird hinter verschlossenen Türen von ihrem Ehemann geschlagen und versucht, ihr Leid zum Beweis auf Video festzuhalten. Laura kämpft mit ihren Psychosen, verliert sich in schizophrenen Phasen – am Ende erhängt sie sich.

In einer Abfolge kurzer, sich teils überlappender Momentaufnahmen nehmen wir am Leben dieser Menschen teil, ohne sie wirklich kennenzulernen. Wer sind sie? Wie wurden sie zu dem, was sie jetzt sind? Das Format der Kurzoper kann diese Fragen naturgemäß nur sehr eingeschränkt beantworten. Dem Team der Kammeroper Salzburg gelingt es dennoch, die Gemütszustände einer neuen Realität in soghaften Klangkulissen zu transportieren. „Lass es endlich morgen sein …“, vernimmt man Laura inmitten ihres finalen psychischen Zusammenbruchs. Und da dieses „Morgen“ noch in weiter Ferne liegt, verlieren sich die Figuren in Lethargie und Hysterie, Schicksalsergebenheit und Hoffnungsschimmern. Trompete, Cello und Orgelcluster bereichern die elektronische Komponente von Safaris Werk um akzentuiert gesetzte Kontraste – digitale Klänge gehen mit sakralen Anleihen Hand in Hand. Ein junges, motiviertes Solistenensemble dringt tief in die Emotionen der Charaktere vor, verleiht ihnen Stimme. Und nicht zuletzt ermöglichen filmische Montagetechniken ästhetische Spielereien, die dem Format gut zu Gesicht stehen.

Ehrgeizige Pläne

Ein durchaus gelungenes Experiment also, auf das sich Safari, Paul und Hofer-Lenz da eingelassen haben. Und dennoch entsteht ein schaler Beigeschmack, wenn man sich mit der Öffentlichkeitsarbeit der Kammeroper Salzburg befasst. Von der Kreation eines „neuen Genres von Musiktheater“ ist dort zu lesen, sogar von der Eröffnung eines „neuen Kapitels der Operngeschichte“ die Rede. Überaus große Worte, die die Uraufführung ihrer „Digital Opera“ flankieren – zumal das zeitgenössische Musiktheater seit Jahrzehnten mit ebenso ambitionierten Projekten aufzuwarten weiß und im Dschungel des World Wide Web nicht gänzlich zuverlässig prüfbar ist, welche digitalen Opernangebote nicht vielleicht schon in der Vergangenheit verwirklicht wurden.

Nichtsdestotrotz darf man auf die weitere Entwicklung der Kammeroper Salzburg gespannt sein. Die Vorbereitungen zum Spielplan 2020/21 sind bereits in vollem Gange, der Sprung in klassische Theaterräume ebenso wie progressive Konzepte der Verschmelzung mit Technik, Medien und Digitalität geplant. Der programmatische Fokus soll auf selten gespielten Werken des 20. und 21. Jahrhunderts wie auch Uraufführungen liegen. „Wir wollen alle Fässer wieder aufmachen, alle Fragen nochmals stellen. Was macht Musiktheater für die Menschen interessant, die der Opernbetrieb der letzten Jahrzehnte vergessen hat?“, äußert sich der künstlerische Leiter Konstantin Paul zu den ehrgeizigen Plänen. Eine leichte Aufgabe haben sich er und seine Kollegen nicht gestellt. Zum Mut eines Neuanfangs mitten in der Krise kann man dem Team der Kammeroper Salzburg aber nur gratulieren. Die Zeit wird zeigen, ob „Tag 47“ als zeitgeistiges Symptom einzustufen sein wird – oder der „Digital Opera“ eine nachhaltige Zukunft beschieden ist.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 04/2020 und erweckte auch das Interesse unseres crossmedialen Kooperationspartners RTS Salzburg. Diesbezüglich ein „Heimspiel“ für die Kammeroper Salzburg: Florian Maier beschäftigte sich im Mai 2020 mit dem digitalen Erstling „Tag 47“, Christoph Lindenbauer sah sich nun die aktuelle Uraufführung „Im Westen nichts Neues. Im Süden aber auch nicht.“ (Februar 2021) genauer an.

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