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Rezensionen

2. Dezember 2025

Aufbruch in die Komfortzone

Augsburg / Staatstheater Augsburg (November 2025)
Nicolais „Lustige Weiber von Windsor“ bringen (gemütlich) zum Lachen

Augsburg / Staatstheater Augsburg (November 2025)
Nicolais „Lustige Weiber von Windsor“ bringen (gemütlich) zum Lachen

Sir John Falstaff bricht am Staatstheater Augsburg im wahrsten Sinne des Wortes in das kleinkarierte, bürgerliche Windsor ein. Dessen spießige Trostlosigkeit zeigt sich schon während der Ouvertüre: das gekachelte Bühnenbild, die Männer in kariertem Grünton, die Frauen in gelben Kostümen im Stile der britischen Konservativen der 60er (Ausstattung: Lena Brexendorff). Eine Welt, die an ihrer eigenen Ordnung erstickt. Frau Fluth wie Frau Reich möchten raus aus dieser, ihrer Spießbürgerlichkeit. In einer Sänfte aus Plüsch und Lametta, mit Rüschen und glitzerndem Chaos, in Leoparden-Leggings und rosa Crocs tritt nun ihre Rettung auf. Falstaff ist in Christian Poewes Inszenierung kein Bacchant, sondern vielmehr ein komischer Vogel: bunt, laut, deplatziert. Er muss sich in dieser Welt nicht beweisen oder selbst aktiv werden; sein bloßes Auftreten genügt, um sie in Bewegung zu setzen.

Lustig sind vor allem die holzschnittartig überzeichneten Figuren und deren oft slapstickhafte Aufeinandertreffen – ein Humor, der gefallen will. Wilhelm Zentner schrieb über Nicolais Oper, sie sei zu ihrem Verständnis an keinerlei Voraussetzungen gebunden; dieses Prinzip wird hier im positivsten Sinne eingelöst.

Insbesondere musikalisch überzeugt die Aufführung: Unter GMD Domonkos Héja entfalten die Augsburger Philharmoniker ein rundes, farbenreiches Klangbild, das Nicolais Partitur fein ausleuchtet. Dass in den Rezitativen die jeweilige Muttersprache der Darstellerinnen und Darsteller erklingt, bleibt überraschend verständlich, nicht zuletzt dank starker Bühnenpräsenz. Sängerisch zeigt der Premierenabend Licht und Schatten: Sally du Randt singt technisch versiert, ohne jedoch die kecke Leichtigkeit ihrer Frau Fluth ganz zu erreichen, während Kate Allen Frau Reich ausdrucksstark gestaltet. Claudio Zazzaros Fenton klingt leider gepresst, während seine Mitstreiter Markus Hauser (Dr. Cajus) und Oliver Huttel (Junker Spärlich) komödiantische Akzente setzen. Avtandil Kaspeli zeichnet seinen Falstaff mit routinierter Bassbuffo-Energie, obgleich sich Textfehler bemerkbar machen.

Trotz allem geht das Konzept der Inszenierung, die bürgerliche Welt Windsors zu überwinden, nicht so recht auf: Gezeigt wird nicht die Auflösung oder Überwindung der bürgerlichen Normen, sondern deren Fortführung in neuer ästhetischer Form. Die schrille, überbordende Singularität Falstaffs wird von allen Bürgern in ihrem Sommernachtstraum einfach kopiert – seine Andersartigkeit wird selbst zur Norm. Scheinbare Neuerungen wie ein kurzer Kuss zwischen Frauen oder die Heirat von Dr. Cajus und Spärlich bleiben Gesten ohne Sprengkraft. Gleichzeitig bleibt das Biedermeier-Bühnenbild während der gesamten Aufführung unverrückt, sodass die Inszenierung eigentlich selbst entlarvt, dass die alte Ordnung formal intakt bleibt.

Mit Andreas Reckwitz gesagt: Falstaffs Singularität wird kopiert, die Bürger erleben scheinbare Freiheit, folgen aber in Wahrheit einer neuen impliziten Norm – Transformation ersetzt Überwindung. So wird die Inszenierung zum unfreiwilligen Spiegel jener Gesellschaft, die sie überwinden will: prächtig unterhaltend und strukturell unverändert.

Hendrik Ruhe

„Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849) // Komisch-fantastische Oper von Otto Nicolai

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Augsburg

2. Dezember 2025

Heiligabend mit Teufelsballett

München / Bayerische Staatsoper (November 2025)
Rimski-Korsakows „Nacht vor Weihnachten“ nicht mehr als routiniert

München / Bayerische Staatsoper (November 2025)
Rimski-Korsakows „Nacht vor Weihnachten“ nicht mehr als routiniert

Das Pendant – Tschaikowskis Oper „Pantöffelchen“ – wird ab und zu gegeben, doch Rimski-Korsakows Gogol-Vertonung desselben Stoffes bleibt im Prinzip eine Leerstelle im Repertoire deutschsprachiger Länder. Sie heißt „Die Nacht vor Weihnachten“ und folgte 1895 Rimski-Korsakows Vertonung der „Mainacht“ (ebenfalls nach Gogol). Beide Werke ähneln sich nicht nur im Schauplatz – ein ukrainisches Dorf –, sondern auch in der Märchenhaftigkeit, der Lüsternheit eines Honoratioren plus allgemeiner Trinkfreude bis hin zu einer Hochzeit vor großem Feiertag. In der Mainacht ist es Pfingsten, in der „Nacht vor Weihnachten“ das Christfest. Doch wird dieses bei Gogol/Korsakow überlagert von den heidnischen Feiern der winterlichen Sonnenwende: Von nun an werden die Tage wieder länger; Licht, Leben und Wachstum erwachen neu. Der Volksglaube erhält dabei Auftritt mit Hexe, Teufel, Zauberer – und vielen festlichen „Koljada“-Gesängen.

Der teils ukrainisch-stämmige Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski tritt seit Jahren nachdrücklich für die Kulturen seiner russisch-ukrainischen Herkunft ein – jetzt also mit der „Nacht vor Weihnachten“. Dabei ist der Vierakter kein unproblematisches Stück, weil er mehr episodenhaft als in einem geschlossenen Bogen eine provinzhaft-nette Posse umreißt: Wie der Schmied Wakula gegen Teufelsmacht letztlich doch bei der selbstverliebten Oksana landet, indem er ihr Pantöffelchen der Zarin höchstselbst als Geschenk überreicht.

Wenn sich nun final Wakula und Oksana ganz in Weiß in die Arme fallen, dann blitzt nach einem bunten Abend der Gedanke nicht nur an Scherz, Satire, Ironie auf, sondern auch an Persiflage. Barrie Kosky ist als Regisseur einmal mehr an der Staatsoper zugange, diesmal routiniert das abspulend, was mutmaßlich beim Publikumsdurchschnitt Effekt macht, insbesondere bei einer Art „Familienabend“: Komik, Clownerie, auch Klamauk. Sein Rahmen für die Inszenierung: Ein Dorfvölkchen bringt – unter der Spielleitung eines boshaften Springteufels – sich selbst auf die Bühne. Erprobt wirbelig das Ganze, und auch ein zwölfköpfiges Teufelsballett sowie ein schwer feminin wirkendes Diversitätsballett sind – ausufernd – mit von der Partie. Mal wird Can Can getanzt, mal Kasatschok. Na ja. Im abstrahierenden Schneeflocken-Bühnenbild von Klaus Grünberg ist Hauptprotagonistin gleichsam Frau Holle. Viele, viele Papierschnipsel und einige Gänsefedern schaffen winterlich-weiße Gefühle.

Rimski-Korsakows Musik tönt dazu unter der liebevollen Leitung Jurowskis blühend spätromantisch, lautmalerisch, volkstümlich, chorisch kraftvoll bis hin zur hymnischen Weihnachtsfeier. Gleichzeitig singen Elena Tsallagova als Oksana und Sergey Skorokhodov als Wakula vortrefflich; sie mit einem so substanzreichen wie beweglichen Sopran, er mit tenoralem Metall ohne Kanten und Härte. Ekaterina Semenchuk spielt Wakulas Mutter Solocha als Schlachtross, und einmal mehr beweisen Violeta Urmana (Zarin) und Sergei Leiferkus (Dorfvorsteher) langjährige Bühnenpräsenz.

Rüdiger Heinze

„Ночь перед Рождеством“ („Die Nacht vor Weihnachten“) (1895) // Ein wahres Weihnachtslied. Oper von Nikolai Rimski-Korsakow

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

24. November 2025

„mit scharf Bruda“

Neustrelitz / Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz (November 2025)
Brüggemanns „Serail“-Döner kommt nicht über eine kalte Kartoffel hinaus

Neustrelitz / Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz (November 2025)
Brüggemanns „Serail“-Döner kommt nicht über eine kalte Kartoffel hinaus

Döner, Currywurst und Hamburger, Knarren, Drogen und Kleinkriminelle: Willkommen im Neustrelitzer Straßen-Imbiss … äh, Landestheater. Als erste Opernpremiere der Jubiläumssaison zum 250. Geburtstag des „Theaters für die Seenplatte“ steht Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf dem Spielplan. Regisseur Axel Brüggemann verlegt das Singspiel kurzerhand in die fettige Bude des türkischen Kleinkriminellen Sascha Pelim (vormals Bassa Selim). Und bedient nicht nur in dessen Werbung („Pelim’s Döner mit scharf Bruda“) Klischees, sondern auch darüber hinaus, wenn etwa Osmin (profund: Ryszard Kalus) den „Ich hab’ Feierabend“-Orientalen mimt. Das mag für einen Lacher reichen, nicht aber für ein in sich schlüssiges Konzept geschweige denn die Dramaturgie eines zweieinhalbstündigen Abends.

Stattdessen gibt es (Programm-)Einführungen zu (Mozarts) „kulturellen Aneignungen“ und zum „Plot“, werden reichlich Zwiebeln geschnitten und schlichte örtliche Anbiederungen geprobt. „Ganz Neustrelitz ist in meiner Hand!“ tönt Pelim (abgezockt: Patrick Khatami), dessen Imbiss von einer Horde feiernder Fußballfans der örtlichen TSG-Kicker geentert wird – vermutlich auch eine kulturelle Aneignung, allerdings eher der platten Art. Denn über diese vermeintlich zeitgenössischen Situationsübertragungen hinaus gelingt dem Regie-Debütanten Brüggemann keinerlei stimmige Personenführung und Fortentwicklung der Handlung. Mit der Folge von Rampengestehe und unlogischen Details: Ein gesprengter Tresor lässt sich nun einmal nicht wieder verschließen …

Schade um diese verpatzte Eröffnungspremiere der Jubiläumssaison des zweitältesten Theaters der Republik: Hatte doch hier dereinst Herzog Adolf Friedrich IV. für Aufsehen gesorgt, als der Regent in der Saison 1775/76 aus der Truppe des Wanderprinzipals Peter Florenz Ilgener sein Strelitzer Hoftheater formte, das fortan ein wöchentlich wechselndes Programm von Shakespeares „Hamlet“ bis Schillers „Räuber“ präsentierte – und damit den Grundstein legte für eine bildungsbürgerliche Residenzstadt, deren Geist bis heute in dem 20.000-Einwohner-Ort fortwirkt.

Wenigstens musikalisch kann sich die Produktion durchaus hören lassen: Generalmusikdirektor Daniel Geiss hat die Neubrandenburger Philharmonie im Griff, wenn diesem Mozart auch ein wenig mehr Feinarbeit in der Artikulation und federnde rhythmische Präzision zu wünschen gewesen wäre. Die fünf Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich trotz ihrer Rollendebüts sängerisch ordentlich (Lars Tapperts Belmonte allerdings mit mancher Ungenauigkeit in der Tongebung) bis eindrucksvoll (Yeonjoo Katharina Jang beweist als Konstanze nicht nur technische Souveränität). Zumindest ein kleiner Trost angesichts der misslungenen Döner-Regie.

Christoph Forsthoff

„Die Entführung aus dem Serail“ (1782) // Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart mit Dialogtexten von Axel Brüggemann

Infos und Termine auf der Website von Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz

4. November 2025

„Aida“ auf der AIDA

Kassel / Staatstheater Kassel (Oktober 2025)
Das neue „Interim“ bietet im Multifunktionsraum fast schon zu viel

Kassel / Staatstheater Kassel (Oktober 2025)
Das neue „Interim“ bietet im Multifunktionsraum fast schon zu viel

Es riecht noch nach frischer Farbe. Gerade einmal 18 Monate waren es von der ersten Idee bis zur Eröffnung des „Interim“, der Ersatzspielstätte des Kasseler Opernhauses während der technischen Sanierung. Intendant und Regisseur Florian Lutz zeigt zur Eröffnung mit Giuseppe Verdis „Aida“, was der Multifunktionsraum kann.

Der modulare Theaterbau – komplett rückbaubar zur Wiederverwendung an anderen Orten – bietet mit einem Bühnenraum von 25 mal 50 Metern und einer Höhe von 18 Metern Platz für bis zu 850 Gäste. Der Holzboden erstreckt sich über die gesamte Fläche, die Obermaschinerie mit 28 Zügen über die komplette Raumlänge. Im Boden eingelassen sind ein variabler Orchestergraben und eine Schwerlast-Drehscheibe. Eine umlaufende Gerüstgalerie dient als Spielfläche und Zuschauerraum. Die flexiblen Sitztribünen bieten unterschiedliche Varianten: Guckkasten, Raumbühne und immersive Arena. Bei „Aida“ steht die Tribüne auf der Drehscheibe, die die Zuschauer um 180 Grad zu einer Spielfläche im Hintergrund bewegt.

Verdis Oper spielt auf dem gleichnamigen Kreuzfahrtschiff. Chor und Statisten bevölkern auf Liegestühlen das Sonnendeck im Bühnenraum von Sebastian Hannak. Darunter sind auch einige Zuschauerinnen und Zuschauer – man kann „Adventure-Sitze“ an der Bar und im Restaurant buchen, geführte Ortswechsel durch „Crewmitglieder“ inbegriffen.

Statt ägyptischen Pyramiden gibt es Politik an Bord (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Heerführer Radamès (Gabriele Mangione) wird zu Wolodymyr Selenskyj, Priester Ramfis (Sebastian Pilgrim) ist Donald Trump. Als Priesterin (Daniela Vega) erleben wir Ursula von der Leyen, der ägyptische König (Ian Sidden) ist Frank-Walter Steinmeier. Aidas Vater Amonasro (Filippo Bettoschi) erinnert an Putin – inklusive filmischem Pferderitt. Aidas Rivalin Amneris, hinreißend dargestellt von Emanuela Pascu, kommt mit einem Porsche auf die Bühne gerollt. Aida arbeitet als Servicekraft auf dem Luxusschiff. Sie wird von Ilaria Alida Quilico grandios in ihrer Zerrissenheit zwischen Liebe und Loyalität dargestellt. Leinwände und Bildschirme (Videos: Konrad Kästner) untermalen jede Sekunde mit großflächigen Projektionen: Nachrichtenschnipsel, Livebilder und KI-generierte Sequenzen.

Das Staatsorchester Kassel unter Leitung von Ainārs Rubiķis überzeugt schon bei den ersten leisen Tönen und füllt den Raum auch in den kraftvollen Momenten. Gerade die Abstimmung zwischen Orchester und den überall im Raum befindlichen Solisten gelingt und schafft – je nach Sitzplatz – ungewöhnliche Gänsehautmomente. Es ist schon etwas Besonderes, wenn der sich gerade noch neben einem an der „Schiffsbar“ befindliche Mensch nicht als Zuschauer, sondern als Chorsänger entpuppt (hervorragend einstudiert von Marco Zeiser Celesti und Anne-Louise Bourbion). Fast möchte man mitsingen und mitspielen.

Der Start ist gelungen – es gibt freundlichen Applaus, einige Buhs für die Inszenierung und Jubel für die musikalische Seite des Abends.

Marcus Leitschuh

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Kassel

31. Oktober 2025

Don Giovanni wird platt gemacht

Hannover / Staatsoper Hannover (Oktober 2025)
Mozarts „Oper aller Opern“ auf ihren psychologischen Kern abstrahiert

Hannover / Staatsoper Hannover (Oktober 2025)
Mozarts „Oper aller Opern“ auf ihren psychologischen Kern abstrahiert

„Are you Donna Elvira? Are you Don Giovanni?“ Mitten in der laufenden Inszenierung von Mozarts Oper erscheinen diese Fragen wie von Zauberhand geschrieben auf dem riesigen weißen Bühnenprospekt. Die Zauberhand gehört der Live-Zeichnerin Anni von Bergen. Vom Bühnenrand aus entwirft sie mit Pinsel und schwarzer Farbe synchron zum Bühnengeschehen Figuren, Symbole, Linien oder auch schon mal bei besonders leidenschaftlichen Szenen wütend hingeworfene Kleckse und Spritzer. Eine Kamera projiziert alles direkt auf den Prospekt. So entsteht ein sich ständig änderndes Bühnenbild, das die Handlung kommentiert, karikiert oder auch fokussiert. Die Riesenfläche ist durchbrochen von Türen, Toren oder kleinen Balkons und Fenstern in der Höhe. Das sind Öffnungen für Abgänge und überraschende Auftritte, für heimliches Beobachten oder Liebesgeplänkel in luftiger Höhe.

Mehr Bühnenbild ist nicht, weil Regisseur Bastian Kraft das szenische Auf und Ab des Werks auf seinen psychologischen Kern abstrahiert. Allein durch Gesang und schauspielerische Aktionen entfaltet das komplett in Weiß gekleidete Ensemble auf leerer Bühne die seelischen Konstellationen dieses erotischen Beziehungsdesasters. Nur ein Eimer, gefüllt mit schwarzer Farbe, spielt eine ekelig symbolische Rolle. Wenn es emotional brenzlig wird, tauchen die Akteure ihre Hände auch mal in die dunkle Masse und eine Umarmung oder ein gewaltsamer Zugriff hinterlässt Spuren auf der weißen Kleidung. Am Schluss der Oper sind alle beschmutzt und nichts ist übrig vom anfänglich unschuldigen Weiß.

So eine fast surrealistische Reduzierung der Handlung funktioniert natürlich nur, wenn das Ensemble mit vokaler rund schauspielerischer Qualität dem theatralischen Anspruch der Mozart-Partitur entsprechen kann. Das gelingt in Hannover überzeugend. Mario Hartmuth, 1. Kapellmeister des Hauses, zaubert mit seiner inspirierenden Leitung einen Mozart hervor, der mit vielen Klangdetails überrascht. Auf der Basis einer historisch orientierten Aufführungspraxis entstehen dramaturgisch gelenkte Klangwechsel zwischen Esprit und Empfindsamkeit.

Niemand muss dabei auf der Bühne stimmlich forcieren. Matteo Guerzè gibt der Titelfigur eine aufregende Mischung aus Kaltschnäuzigkeit, spöttischer Ironie und zärtlich klingendem Liebestheater. Zugleich aber lässt er die seelische Tragik seiner Liebesunfähigkeit durchscheinen, die Mozart so tiefgründig in die Musik einwebt. Serhii Moskalchuk spielt und singt den Diener des Frauenhelden derart präsent, dass man diese Inszenierung ohne Not auch „Die Abenteuer des Leporello“ nennen könnte. Herrlich quirlig, dämlich und naiv kommen mit stimmlicher Klasse Ketevan Chuntishvili als Zerlina und Yannick Spanier als Masetto daher. Olga Jelínková als Donna Anna und Cassandra Doyle als Donna Elvira sind virtuos singende Damen, bestimmt von Rachsucht, Bereitschaft zum Verzeihen und schließlich tödlicher Wut auf den ewigen Betrüger Don Giovanni. Ihnen gesellt sich mit herrlichem Tenor SeungJick Kim als Don Ottavio zur Seite.

Zum Schluss fährt Matteo Guerzè nochmal zu dramatischer Hochform auf, wenn er sich der Reueforderung des steinernen Komturs (sonor: Daniel Eggert) widersetzt. Währenddessen klappt die weiße Wand unentrinnbar zu Boden und macht im wahrsten Sinne des Wortes Don Giovanni platt. Ob alle am Schluss eine Antwort auf die Menetekel an der Wand gefunden haben, bleibt verborgen. Der Jubel aber ist gewaltig und langanhaltend. 

Claus-Ulrich Heinke

„Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni“ ( 1787) / Dramma giocoso von Wolfgang Amadeus Mozart

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Hannover

29. Oktober 2025

Im Spiegel

Prag / Národní divadlo (Oktober 2025)
Mozarts „Idomeneo“ als Selbsterforschungstrip

Prag / Národní divadlo (Oktober 2025)
Mozarts „Idomeneo“ als Selbsterforschungstrip

Dass der Katalane Calixto Bieito heute mehr ein gefragter europäischer Regisseur als der Garant für einen kalkulierten Skandal ist, wird schon daran erkennbar, dass sein „Idomeneo“ von der Staatsoper in Prag und dem La Monnaie in Brüssel gemeinsam produziert wird. Das Recht der ersten Nacht liegt dabei im Mozart-affinen Prag: in der grandios im alten Glanz neu erstrahlenden Staatsoper zwischen Nationalmuseum und Hauptbahnhof.

Verschmiertes Blut, klirrende Ketten und ein gezücktes Messer gibt es zwar auch diesmal – aber gut dosiert und als Metaphern für eine eher psychologische Innenschau jenes Königs, der dem Gott Neptun in schwerer See leichtfertig ein Menschenopfer verspricht, wenn er gerettet würde. Dass der dafür ausersehene erste Mensch, dem er begegnet, sein eigener Sohn Idamante ist, verleiht dieser Oper des 25-jährigen Mozarts ihre tragische Dimension. Es ist selbst da zwar schon seine zwölfte Oper, aber die erste von den im engeren Sinne großen. Schon wegen des musikalischen Drives, der weit über die Seria-Enge hinausweist.

Für ihre Bühne hat Anna-Sofia Kirsch bewegliche transparente Mauerwinkel gebaut. Mit diesen lassen sich auf offener Szene leicht verschiedene Raumsituationen simulieren, ohne dabei die eher psychologisierende Konstellation zu verlassen, bei der vor allem Idomeneo mit sich in Dauerfehde liegt. Wenn die Protagonisten in der Klemme stecken, imaginieren diese Wände beklemmende Enge. Wenn dem Staat eine Katastrophe durch ein Ungeheuer droht, rasselt ein riesiges Netz voller Kanister mit Getöse vor den Füßen des angstverschreckten Volks hernieder. Beim zentralen Quartett beklagen sie nicht nur alle die Misere, in der sie stecken, sondern versuchen sich auf unterschiedliche Art umzubringen – was ihnen natürlich nicht gelingt.

Die Kostüme von Paula Klein behaupten ungefähre Gegenwart. Der Aktenkoffer, den Idomeneo nach seiner Rettung immer dabei hat, offenbart spät, auch für die Zuschauer, sein Geheimnis. Die Innenseite ist ein Spiegel – der Besitzer dieses Koffers ist vor allem mit der Selbsterforschung befasst. So erklingt die Deus-ex-machina-Stimme von Zdeněk Plech, die ihn am Ende in Pension schickt und Idamante und Ilia die Macht übergibt, aus dem Graben, aber Idomeneo bewegt die Lippen dazu, als käme sie aus ihm. Auch eine Möglichkeit, ohne die Götter auszukommen.

Konrad Junghänel setzt mit dem Orchester der Staatsoper lustvoll auf die vorwärtstreibende Dynamik dieser Musik, wobei ihm das Protagonisten-Ensemble willig dabei folgt. Mit seiner Erscheinung, vor allem aber mit dem kraftvoll markanten Timbre seiner Stimme rückt Evan LeRoy Johnson tatsächlich Idomeneo auch vokal ins Zentrum. Ohne sich optisch als Mann zu verkaufen, ist Rebecka Wallroth jener Idamante und Jekatěrina Krovatěva die von ihm geliebte Ilia. Petra Alvarez Šimková steigert sich imponierend klar und kraftvoll in die Verzweiflung der bei Idamante chancenlosen und hier recht isolierten Elettra hinein. Wenn die Produktion in Brüssel herauskommt, mag es andere musikalische Akzente geben. Die kluge Inszenierung bietet dafür Raum.

Dr. Joachim Lange

„Idomeneo“ (1781) // Dramma per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

14. Oktober 2025

Mord ist auch keine Lösung

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Oktober 2025)
Der neuen Figaro-Oper „Der tollste Tag“ fehlt die Innovation

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Oktober 2025)
Der neuen Figaro-Oper „Der tollste Tag“ fehlt die Innovation

Das Gärtnerplatztheater eröffnet die neue Saison mit einer Uraufführung – mehr oder weniger. Johanna Doderers Oper „Der tollste Tag“ ist eine Adaption von Peter Turrinis gleichnamigem Theaterstück, das wiederum Beaumarchais’ Komödie „La folle journée ou Le mariage de Figaro“ überschreibt, nach der schon Mozart und Da Ponte ihr Meisterwerk „Le nozze di Figaro“ fertigten. Die Prämisse ist spannend: Was, wenn es kein Happy End gibt? Wenn diese Komödie tatsächlich eine Tragödie ist, wie Turrinis Figaro ausruft?

Düster ist es auf jeden Fall. In Doderers von einem dunklen, vollen Orchesterklang geprägter Komposition schwebt von Anfang an eine Melancholie und Hoffnungslosigkeit mit, die anderen Figaro-Opern fehlt, wobei die Musik trotz Eduardo Brownes gekonntem Dirigat bisweilen in den Hintergrund rutscht. Turrinis Libretto ist härter, direkter als seine Vorlage, die zahlreichen sexuellen Anspielungen sind deutlich näher an der Oberfläche, ohne unangenehm zu werden.

Das war’s dann aber schon mit Innovation. „Der tollste Tag“ ist schlicht eine Nacherzählung von Beaumarchais’ Komödie, bis Figaro den Grafen tötet, als dieser Susanne vergewaltigen will. Danach könnte es noch richtig spannend werden, aber die Oper ist vorbei. Bazillus, der von Juan Carlos Falcón wunderbar schmierig gestaltete Hofintrigant, ruft noch müde die Revolution aus, die aber wohl auch keine Hoffnung hat, Figaro und Susanne fliehen. Mord ist also auch keine Lösung.

Susanne, noch bei Mozart mit die aktivste Figur, bleibt in „Der tollste Tag“ sehr auf die Opferrolle beschränkt. Bezeichnend, dass Regisseur Josef E. Köpplinger im Programmheft-Interview kaum ein Wort über sie verliert. Auch die Gräfin begehrt eher, als dass sie handelt. Das mag Absicht sein, Stichwort: Unterdrückung, überzeugt aber nicht – schade, sind die beiden Figuren mit Anna-Katharina Tonauer und Réka Kristóf doch exquisit besetzt! Handeln und Verhandeln darf vor allem Figaro, den Daniel Gutmann mit kernigem Bariton zum Leben erweckt. Den Grafen Almaviva singt Daniel Schliewa mit imposantem Heldentenor, Anna Agathonos ist souverän als Marcelline und Cherubin hier eine Sprechrolle. Paul Clementi gelingt es, die Figur jugendlich und gleichzeitig fast so unangenehm-übergriffig wie den Grafen zu spielen.

Intendant Köpplinger bringt die Hoffnungslosigkeit der Neuerzählung gemeinsam mit Ricarda Regina Ludigkeit gewohnt detailverliebt auf die Bühne. In den Fokus rückt er vor allem das körperliche Begehren der Figuren. Mehr als einmal befinden sich Darstellende in mindestens zweideutigen Positionen, im Mittelpunkt von Heiko Pfützners Bühnenbild steht ein schmutziges Bettgestell und der Graf absolviert seinen ersten Auftritt im ultraknappen Lederstring – anders als die Perücke des von Timos Sirlantzis überragend dargestellten Don Guzman di Stibizia mit eingebautem Safe kein Glanzstück der Kostümbildnerin Birte Wallbaum.

Die Frage, warum die Figaro-Geschichte unbedingt neu erzählt werden muss, bleibt unbeantwortet.

Adele Bernhard

„Der tollste Tag“ (2025) // Oper von Johanna Doderer (Musik) und Peter Turrini (Libretto)

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters am Gärtnerplatz

11. Oktober 2025

Zwischen poppigen Buchdeckeln

Blindenmarkt / Herbsttage Blindenmarkt (Oktober 2025)
Comichaftes für Oscar Straus’ „Schokoladensoldat“

Blindenmarkt / Herbsttage Blindenmarkt (Oktober 2025)
Comichaftes für Oscar Straus’ „Schokoladensoldat“

In der 36. Saison der von ihm gegründeten Herbsttage Blindenmarkt wirft sich Intendant Michael Garschall mit Oscar Straus’ „Schokoladensoldat“ (nach George Bernard Shaws Satire „Helden“) wieder ins niederösterreichische Operetten-Feld. Zweieinhalb vergnüglichste Stunden später gibt es statt Schlachtengetöse nurmehr donnernden Applaus und Standing Ovations.

Die Geschichte um den Schweizer Hotelierssohn Bumerli, der in serbischer Uniform zwischen die Fronten gerät, packt Regisseur und Bühnenbildner Marcus Ganser in zwei poppige Buchdeckel, dazwischen comichafte Schwarz-Weiß-Videoprojektionen: ein stimmiges Gesamtkonzept. Den Kontrapunkt bilden die stilisierten, auf keine Epoche festgelegten, knallbunten und leicht karikaturesk angelegten Kostüme (Anna-Sophie Lienbacher). Einem Seiltänzer gleich schlängelt sich Gansers Regie so durch ein Meisterwerk der Gattung und trifft den ironischen Grad zwischen romantischer Heldenverklärung und subversivem Humor fast immer genau. Hie und da schießt er einen Millimeter übers Ziel hinaus, etwa dann, wenn Nadina den „Held ihrer Träume“ vor einer projizierten, monumentalen Heldenstatue und rotem Hintergrund besingen muss.

Dabei erweist sich Ganser in den Dialogen als feinsinniger Könner, der es versteht, seinem bestens zusammengestellten Ensemble auch das letzte Körnchen Ironie zu entlocken – ganz unprätentiös. Dem Comic-Konzept konsequent folgend stehen echte, schnörkellose Typen auf der Bühne, die Straus’ Operette selbst zum Star machen. Während es am Premierenabend im ersten Akt noch etwas Anlauf braucht, schnurrt die Szene ab dem zweiten in perfektem Timing ab, verführt, reißt mit und verfängt vor allem mit jener leisen Komik, die zwischen den Zeilen steht.

Die erstklassige Solistenriege macht es möglich. Lena Stöckelles Nadina ist etwas zu sehr brave Tochter denn stolze Bulgarin, weiß aber nach der Pause vollauf zu überzeugen. Martin Mairinger als Bumerli weiß jene sympathisch-freche Unverschämtheit und Schlitzohrigkeit, die es für die Rolle braucht, köstlich auszuspielen. Und Lukas Johan macht aus seiner Partie ein Kabinettstück, indem er jenen Grad Ernsthaftigkeit trifft, der den aufschneiderischen Alexius schließlich komisch wirken lässt. Jasmin Bilek als Mascha gestaltet das für sie eingelegte Solo zu einer Musterstunde in Sachen Couplet-Gesang; da tritt auch die unnötige Ballett-Umrandung in Superheldinnen-Kostümen ganz in den Hintergrund. Georg Kusztrich erweist sich als großer Charakterkomiker allererster Güte, sein Popoff ist ein Ereignis: herzerfüllt, dann wieder militaristisch autoritär – bei ihm stimmt jeder Ton, jede noch so kleine Geste.

Das Kammerorchester Ybbsfeld, dynamisch nicht immer ganz sängerfreundlich, aber in der Lautstärke wohltuend zurückgenommen, musiziert einen sensiblen, transparenten, witzigen Oscar Straus. Da capo!

Daniel Hirschel

„Der Schokoladensoldat“ (Originaltitel: „Der tapfere Soldat“) (1908) // Operette von Oscar Straus

Infos und Termine auf der Website der Herbsttage Blindenmarkt

30. September 2025

Dem Tode geweiht

Würzburg / Mainfranken Theater Würzburg (September 2025)
Packende Lesart von Verdis „La traviata“

Würzburg / Mainfranken Theater Würzburg (September 2025)
Packende Lesart von Verdis „La traviata“

Mit Verdis Seelendrama „La traviata“ gelingt dem Mainfranken Theater in der Blauen Halle ein eindrucksvoller Saisonstart. Das hat drei Gründe: das sehr sängerdienliche, auf feinste emotionale Nuancen der Musik eingehende Dirigat des neuen Generalmusikdirektors Mark Rohde, die exzellente Sängerriege vornehmlich in den Hauptrollen, und die lebendige, ganz auf die menschlichen Konflikte konzentrierte Regie von Olivier Tambosi und Christiane Boesiger in einem schlichten, vorwiegend schwarzen, aber auch glitzernden Bühnenbild (ebenfalls Tambosi) mit drehbaren Stationen und wenigen Requisiten zur Andeutung der Schauplätze.

Als Kontrast zur heutigen Kleidung kommt der Chor im letzten Akt in bunter Karnevals-Maskerade (Kostüme: Lena Weikhard). Das Leben draußen, nach dem Tod, geht eben weiter. Drinnen wird alles bestimmt von der Krankheit Violettas. Gleich zu Anfang, während der Ouvertüre, ist sie in ihrem weißen Gitterbett zu sehen: als Hinweis auf ihre tödliche Krankheit, die Schwindsucht. Ihr Aufbegehren gegen ihr unentrinnbares Schicksal zieht sich durch die ganze Oper – so jung will sie nicht sterben.

Das fein aufspielende Philharmonische Orchester Würzburg beginnt luzid, lässt sich oft viel Zeit, breitet auch untergründig Düsteres aus neben aufmunternd spritzigen Momenten, steigert, wo nötig, mit Verve. Dass diese innerlich packende, melancholisch stimmende Tragödie so überzeugend und menschlich ergreifend über die Bühne geht, liegt auch an den Sängerinnen und Sängern, vor allem aber an der Darstellung der Violetta durch die Georgierin Sophie Gordeladze. Ihr klarer, reiner, unaufdringlich virtuoser Sopran verfügt über eine strahlende Höhe und eine schimmernde Kopfstimme, drückt alle Facetten von hinschmelzender Liebe bis zu innerer Verzweiflung wunderbar aus, gestaltet die Arien mit locker eingebundenen Koloraturen. Alfredo wird von Juraj Hollý bestens als impulsiver Liebhaber verkörpert; sein fülliger, wohlklingender Tenor steigert sich immer mehr bis zum schönen Schlussduett. Als Salonlöwin Flora gefällt Vero Miller mit glamouröser Ausstrahlung und kraftvoll glänzender Stimme. Barbara Schöller gibt sicher singend eine besorgte Annina, Leo Hyunho Kim als Vater Germont, ein bärtiger, würdevoller alter Mann, gestaltet mit seinem vollen Bariton den bürgerlichen Patron überzeugend. Der Chor, lebendig eingebunden ins Geschehen, singt wohltuend abgestuft mit rundem, weichem Klang.

Renate Freyeisen

„La traviata“ (1853) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Mainfranken Theaters Würzburg

30. September 2025

Willkommen(d)es Miteinander

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2025)
Tobias Kratzer begeistert mit seiner Antritts-Inszenierung „Das Paradies und die Peri“

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2025)
Tobias Kratzer begeistert mit seiner Antritts-Inszenierung „Das Paradies und die Peri“

Groß sind die Erwartungen an Tobias Kratzer, den neuen Intendanten der Staatsoper Hamburg. Mit Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ gelingt ihm zum Auftakt ein erster Meilenstein für eine neue Ära.

Die Peri, ein gefallener Engel, muss eine Gabe finden, um wieder in den Himmel zu dürfen. Die ersten zwei Versuche – das Blut eines Freiheitskämpfers und der letzte Seufzer einer Frau, die mit ihrem pestkranken Geliebten sterben will – reichen nicht. Erst die Tränen eines reuigen Verbrechers, berührt vom Anblick eines Kindes, öffnen das Himmelstor.

Kratzer setzt in der Suche nach der Erlösung auf starke Bilder: beginnend mit einer Peri, die mit verbliebenen Federn versucht, wieder zu fliegen, über einen Chor, der endlos hektisch von beiden Seiten über die Bühne läuft und Peri den Anschluss verwehrt, bis zu Kindern, die unter einer Glaskuppel mit Autos und Flugzeugen spielen, während Schornsteine alles vernebeln und sie umkommen lassen. Absperrbänder und Quarantäne-Zelte zu „stirbt jetzt, als hätte er keinen Freund“ offenbaren Kratzers akribische Liebe zum Libretto wie auch der Abschlusschor „Sei uns willkommen, sei uns gegrüßt!“, der sich vor allem ans Publikum richtet.

Denn neben Konflikten, Pandemien und Umweltproblemen geht es Kratzer um die Beziehung zwischen Bühne und Publikum: Wie können wir alle gemeinsam mit der Kunst eine Rolle spielen? Zur Verdeutlichung wird im Publikum (inszeniert) gebuht, geschlafen, Mundschutz getragen, geweint, während die Kamera all das auf eine LED-Wand überträgt. Die zeigt schon beim Einlass das Publikum, überschrieben mit „Willkommen!“ – wie auch beim finalen Coup: Der Engel wird zum Bühnenarbeiter, die Peri zum Teil des Chors. Wenn das Saallicht zu den letzten Klängen („Sei uns willkommen“) angeht, stürmt die Peri von der Bühne. Kunst und Gemeinschaft als Erlösung und Paradies – oder doch nicht?

Kratzers bewährtes Kreativteam begeistert auch hier: Rainer Sellmaier sorgt mit einer cleanen grauen Bühne und Elementen wie Plastik-Palmen und verklärend-kitschigen Himmelsbildern sowie mit zeitlos-schlichten Kostümen für die ideale Projektionsfläche. Video (Manuel Braun) und Licht (Michael Bauer) unterstreichen pointiert.

Auch musikalisch ist der Abend ein präzises Miteinander, wie man es an diesem Haus selten gehört hat. GMD Omer Meir Wellber balanciert mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg die eingängige Musik Schumanns wunderbar. Der entfesselte Chor (Leitung: Alice Meregaglia) beeindruckt mit Volumen und spielt endlich auch. Und ausnahmslos alle Solistinnen und Solisten glänzen.

Wie Vera-Lotte Boecker als Peri jegliche Feinheiten zum Ausdruck bringt – selbst wenn sie durch die Publikumsreihen klettert und auf Stuhllehnen stehend singt –, ist wahrlich paradiesisch. Annika Schlichts angenehm heller Klang fesselt schon zu Beginn, Tenor Kai Kluge brilliert klar und ausdrucksstark als dauerpräsenter Erzähler, Christoph Pohl überzeugt u.a. als strenger Herrscher mit markantem Bariton, Countertenor Ivan Borodulin verzaubert als Engel mit seinem berührend-feinen Klang und Lunga Eric Hallams warme Stimme lässt gemeinsam mit Eliza Booms wohligem Sopran die Sterbeszene noch dramatischer wirken. Auch schauspielerisch sind alle Singenden überirdisch.

Kratzer schlägt an der Staatsoper Hamburg ein neues Kapitel auf – und das Publikum? Scheint erlöst!

Christoph Oscar Hofbauer

„Das Paradies und die Peri“ (1843) // Weltliches Oratorium von Robert Schumann

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Hamburg

kostenfreier Stream bis 26. Dezember 2025 auf arte.tv