Registrierung
Kategorie

Rezensionen

5. März 2025

Waldmenschen im Stehtheater

Wien / Wiener Staatsoper (März 2025)
Bellinis „Norma“ ohne Spannung und große Emotionen

Wien / Wiener Staatsoper (März 2025)
Bellinis „Norma“ ohne Spannung und große Emotionen

Seit 28 Jahren war in Wien keine szenische „Norma“ mehr zu sehen, und nun erlebt man zwei Neuproduktionen innerhalb einer Woche. Die Abstimmungsprobleme der Wiener Opernhäuser haben den Vorteil, dass bei plötzlicher Erkrankung von Juan Diego Flórez ein anderer, eingesungener Pollione in der Stadt weilt. Während Flórez in der Generalprobe den liebenden, zärtlichen Verführer von unschuldigen Priesterinnen ausgezeichnet mimt und mit stimmlicher Schönheit aufwartet, gibt sich Einspringer Freddie De Tommaso eher als arroganter, grober Machtmensch mit Hitlerbärtchen, der wie ein Schlächter ein Unschuldslamm zur Schlachtbank (ent)führen will. Diese Pollione-Charakterisierung wird von der Produktion des MusikTheaters an der Wien übernommen und passt dort besser zum Gesamtkonzept. Zwar verfügt De Tommaso über die nötige Stimmkraft und Dynamik, jedoch nicht über schön-geschwungene Legato-Linien, Geschmeidigkeit und strahlende Höhe. Ideale Sänger für diese Rolle sind beide Tenöre nicht.

Federica Lombardi ist als große Mozart-Interpretin mit lyrischem Sopran bekannt und zeigt bei ihrem Rollendebüt eine würdevolle Oberpriesterin, leidende Frau und liebende Mutter. Ihre Rachegelüste wirken weniger glaubwürdig als ihr Wunsch nach Liebe und Frieden, dramatische Steigerungen fehlen leider. Mit technischer Bravour, schönem Legato und weitgespannten Kantilenen meistert sie die anspruchsvolle Partie, sollte aber noch viel mehr berühren – wie beim innigen Gebet an die Mondgöttin oder bei ihrer Schlussarie. Auch der eine oder andere Spitzenton gelingt nicht glasklar. Die herrliche Höhe sticht bei Vasilisa Berzhanskaya als gehemmte Adalgisa heraus – ebenso ihre gehaltvollen tiefen Lagen, große stimmliche Agilität und eine umfassende Stimmgewalt. Man fragt sich, ob hier nicht eine zukünftige Norma zu erleben ist. Mit kräftigem, noblem Wohlklang-Bass verleiht Ildebrando D’Arcangelo dem greisen Vater Oroveso passendes Profil.

Michele Mariotti führt die Wiener Philharmoniker mit spielerischer Brillanz und kantabler Intensität in die geheimnisvolle Druiden-Welt. Besonders die charakteristische Einleitung am Anfang des zweiten Aktes erzeugt herrliche farbenreiche Klangschönheit und vermittelt eine beklemmende Stimmung, als Norma ihre Kinder töten will. Mit sensationeller Leistung beeindruckt auch der Chor, der den Schlusston von „Casta diva“ langgezogen hinwegschweben lässt.

Die Inszenierung von Cyril Teste zeigt die Druiden gekleidet wie Soldaten der Résistance, die sich als Gefangene ihrer Stadt verteidigen müssen; angesiedelt in einer Fabrikhalle, die auch als Lazarett dient. Umbauten gelingen ohne störende Pausen, wenn wenige Mauerteile einen Tempel stimmig darstellen oder das Esszimmer von Norma gezeigt wird. Allgegenwärtig ist der Wald als Projektion, wo mit Farben verschiedene Stimmungen erzeugt werden. Die Figuren sind offensichtlich Waldmenschen mit einem Fetisch für farbenreiche Tücher, die in religiös-rituelle Choreografien – etwas linkisch – eingebaut werden. Leider fehlt jegliche Personenführung, meist wird statisch gestanden und die Beziehungen zwischen den Protagonisten kommen darstellerisch nicht zum Ausdruck. Da hilft auch kein Live-Video mit berührenden Projektionen der Gesichter auf dem durchsichtigen Vorhang.

Susanne Lukas

„Norma“ (1831) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

Infos und Termine auf der Website der Wiener Staatsoper

3. März 2025

Am Abgrund

Dessau / Anhaltisches Theater (März 2025)
Die betörende Expressivität von Bergs „Wozzeck“

Dessau / Anhaltisches Theater (März 2025)
Die betörende Expressivität von Bergs „Wozzeck“

Georg Büchner und auch Alban Berg sind Menschen- und Weltsezierer, deren Dringlichkeit sich längst von selbst versteht: der Mensch als der Abgrund. Wozzeck ist einer davon, der „wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt“ läuft. Für das früh verglühte Dichtergenie Büchner war das Schicksal des 1824 hingerichteten Mörders so schreiend existenziell, dass er 1836, ein Jahr vor seinem Tod, sein Dramenfragment der Nachwelt zum Fraß vorwarf. Berg machte es 1925 zum operngeschichtlichen Ereignis!

Mit „Wozzeck“ ist ein Theater per se auf der richtigen Seite, weil es immer noch Abgründe und verhetzte Leut gibt. Und, weil man mit Büchner immer noch befürchten muss, dass Pfützen eigentlich Löcher in der Welt sind, in denen man auf Nimmerwiedersehen verschwinden kann. Vielleicht lassen sich Christiane Iven (Regie) und  Guido Petzold (Bühne) bei ihrer jüngsten Inszenierung (die zugleich der Beitrag des Anhaltischen Theaters zum 33. Kurt Weill Fest ist) von dieser Metapher leiten, wenn sie auf der Bühne einen Teich platzieren. In ihm verschwindet zwar niemand, aber Marie endet darin, nachdem Wozzeck sie mit brutaler Wucht erstochen hat.

Zwei Wände deuten die Innenräume an. Dahinter rumoren eine Waldprojektion und Gestrüpp. Wenn die beiden Wände nach oben entschweben, ist man im Freien, aber nicht in der Freiheit. Neben der Waldromantik gibt es auch eine beklemmende Backsteinfassade. Innen überzeichnet Arnold Bezuyen treffsicher einen Hauptmann in Unterhose zur Uniformjacke, der Wozzeck beim Rasieren für dumm verkauft. Hier versucht auch Michael Tews jenem Doktor einen Anschein von Seriosität zu verleihen, der Wozzeck als medizinisches Versuchskaninchen benutzt.

Kay Stiefermanns Wozzeck ist zwar nicht nackt, aber der Overall ist durchsichtig (Kostüme: Kristina Böcher). Bei seinem Sohn gleicht nicht nur diese Äußerlichkeit der des Vaters – wohl ein Zeichen für das ihm vorbestimmte Schicksal. Am Ende hat er das Messer in der Hand, mit dem Wozzeck Marie erstochen hat. Den Tiefpunkt der Erniedrigung erreicht er, wenn ihn der Tambourmajor, für den sich Torsten Kerl vokal und körperlich gewaltig aufplustert, als Urinal benutzt. So wie Stiefermann für die intensive Interpretation der tragischen Titelfigur bewusst eine gewisse Brüchigkeit einsetzt, lässt Ania Vegry die betörende Leuchtkraft ihrer Stimme als Marie aufscheinen und setzt dem Ensemble, das mit dieser düsteren Geschichte fasziniert, ein vokales Glanzlicht auf. Markus L. Frank entfaltet am Pult der Anhaltischen Philharmonie zu alldem die betörende Expressivität der Musik von Berg mit spätromantischer Geschmeidigkeit.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website des Anhaltischen Theaters

28. Februar 2025

Subversives Potenzial

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Februar 2025)
„Lady Macbeth von Mzensk“ erhebt Schostakowitschs Musik zum Protagonisten

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Februar 2025)
„Lady Macbeth von Mzensk“ erhebt Schostakowitschs Musik zum Protagonisten

Natürlich hat Stalins Urteil „Chaos statt Musik“ der Oper über die Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa mehr genützt als geschadet – zumindest auf lange Sicht. Wenn einem allmächtigen Diktator etwas so missfällt, dann muss es subversives Potenzial haben: also bedeutende Kunst sein. Die Russen jedenfalls, die das Werk in den zwei Jahren zwischen der Leningrader Uraufführung 1934 bis zur Verbannung von den Bühnen kennenlernten, waren begeistert. Wohl, weil sie sich verstanden fühlten. Heute, 50 Jahre nach dem Tod des Komponisten, hat seine „Lady Macbeth von Mzensk“ einen Stammplatz im Repertoire. Auch dank der Düsseldorfer Oper, an der sie 1959 das erste Mal auf einer deutschen Bühne zu sehen war.

Elisabeth Stöppler lässt in ihrer Inszenierung dem aus Belarus stammenden Chefdirigenten an der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, allen Raum, um mit den Düsseldorfer Symphonikern die grandiose Musik Schostakowitschs zum wichtigsten Protagonisten dieser Produktion zu erheben. Das gilt für die Orchesterpassagen, aber auch für das dramatische Parlando. Manchmal nimmt Stöppler sich vielleicht sogar etwas zu sehr mit ihrer Bildsprache zurück. Bei der Hochzeitsszene etwa, wenn der Pope die Sonne hochleben lässt (als wäre er der Generalissimus im Kreml), oder bei der Groteske auf der Polizeistation. Andererseits hätte man die orgiastische Musik zur Liebesnacht von Katerina und ihrem körperlich und stimmlich vor Vitalität strotzenden Liebhaber Sergej (Sergey Polyakov) nicht unbedingt mit einer gerade noch erkennbaren schnellen Nummer an der Tür illustrieren müssen. Hier ist die Musik so überdeutlich, dass man staunt, wie sie der Sowjet-Zensur seinerzeit durch die Lappen gehen konnte.

Annika Haller verzichtet für ihr fast schon abstraktes Zimmerlabyrinth unter einem Neonrahmen auf jede naturalistische Folklore. Sie beschränkt sich stattdessen mit geradezu klinischer Sterilität auf einen exemplarischen Raum. Das Rattengift für den übergriffigen (und bei Andreas Bauer Kanabas stimmgewaltigen) Schwiegervater lässt sich ebenso in einer modernen Küche unter die aufgewärmten Pilze mischen. Auch für die verpackte Leiche des aus dem Weg geräumten Ehemanns Sinowij (Jussi Myllys) findet sich da ein, wenn auch schlecht getarntes, Plätzchen. Der tote Schwiegervater geistert ohnehin wie das personifizierte schlechte Gewissen des Mörderpärchens durch die Szenerie. Der Marsch in die Verbannung wird in dieser Einheitsbühne – eher in oratorischer Formation – zelebriert. Als Katerina wird Izabela Matula zum vokalen und darstellerischen Kraftzentrum inmitten des durchweg fabelhaften Ensembles. Zudem ist ab und zu ein Dutzend Musiker mit seinen Trompeten und Posaunen auf der Bühne oder im Rang nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen.

Roberto Becker

„Леди Макбет Мценского уезда“ („Lady Macbeth von Mzensk“) (1934) // Oper von Dmitri D. Schostakowitsch

Infos und Termine auf der Website der Deutschen Oper am Rhein

24. Februar 2025

Dragqueen in fluider Traumfabrik

Hildesheim / Theater für Niedersachsen (Februar 2025)
Straus’ „Hochzeit in Hollywood“ als burleske und bittersüße Operetten-Spiele

Hildesheim / Theater für Niedersachsen (Februar 2025)
Straus’ „Hochzeit in Hollywood“ als burleske und bittersüße Operetten-Spiele

Die Originalfassung von Oscar Straus’ Operette „Hochzeit in Hollywood“ spielt, bis die Sängerin Mizzi und der Politikersohn Felix ihre Beziehung jenseits des Atlantiks fortsetzen, an einer kleinen Bühne, die – Selbstreferenz darf sein – Straus’ Millionenerfolg „Ein Walzertraum“ auf den Spielplan setzt. Intendant Oliver Graf, die Dragqueen Loreley Rivers als Mizzi und das Ensemble des Theaters überspitzen in ihrer rauschhaften Operetten-Vergegenwärtigung. Aus dem Textbuch von Leopold Jacobson und Bruno Hardt entsteht eine fluide Traumfabrik mit sich auflösenden Kategorien von Frau- und Mann-Mustern. Die dunkel lockende Ausstattung von Sebastian Ellrich steigert sich zu einem Traum in Schwarz, Weiß, Gold.

Anstelle von Champagner perlen Selbstpositionierungen. Denn Sängerin Mizzi soll wegen bürgerlicher Ausgrenzungsschablonen auf den Staatssekretär-Sohn verzichten und tut das schmerzlich gründlich. In Amerika treffen beide wieder aufeinander: die sich im Showbiz ihren Platz erobernde Diva und der abgesunkene Felix, welcher sich als Escort und Statist verdingen muss. Die wortreichen Versprechungen „Glamour, Skandal und Drama“ löst man mehr als reichlich ein. Alles schwirrt durcheinander: Wien und US-Amerika und echte Gefühle in sich ständig ändernden Fassaden- und Showkonstellationen.

Das zeigt die Premiere am Vorabend des Wahlsonntags gründlich und macht dabei die Gattung der Operette vor 1933 als Austragungsort von Emanzipationsdiskursen so deutlich wie deren Relevanz im Hier und Jetzt. Konsequenterweise enthält das frühere Heile-Welt-Genre auch Zündstoff aus Phänomenen der Globalisierung. Der Chor (einstudiert von Achim Falkenhausen) ist eine geschlechtsneutrale Gruppe mit Fräcken und Fliegen, die tfn_philharmonie unter Florian Ziemen dazu eine Wucht. Annika Dickel hetzt die Showgirls und -boys durch ein geordnetes Nachtleben.

Rivers bringt alle liebenswerten Gesetzmäßigkeiten der Travestie ins Spiel und bedient alle Träume. Sie ist Diva, Domina, Dompteurin. Geschafft wird bei allen Alters- und Publikumsgruppen, dass niemand mehr über die Orientierungen Hetero/Homo/Bi und alles dazwischen nachdenkt. Die Gegebenheiten entwickeln eine eigene, lustvoll-schmerzliche Dynamik. Schmerzlich gilt vor allem für den von Eddie Mofokeng mit Groove und Gefühl dargestellten Nino Namara, Mizzis temporären Lover.

Sonja Isabel Reuter (Garderobiere/Bessie) gibt eine Lernbeflissene in Sachen Showbusiness, Andrey Andreychik (Präsident/Teddy Vandermeere) setzt seine Rollen an einer Schnittstelle von Modestar à la Andy Warhol und Bankdienstleister. Jan Kämmerer macht vor allem als Regisseur mit feinen karikierenden Bonmots beste Figur. Wenn die Hürden von Konvention, Reglements und Missverständnissen abgetragen sind, stehen die Figuren sich noch immer selbst im Weg. Felix bleibt am Ende allein auf der Bühne, da wirkt das letzte Oscar-Straus-Lied fast zynisch. Dabei ist es Tenor Julian Rohde, der die schönsten Lieder und Schlager singen darf.

Roland H. Dippel

„Hochzeit in Hollywood“ (1928) // Operette von Oscar Straus

Infos und Termine auf der Website des Theaters für Niedersachsen

24. Februar 2025

Psychogramm eines Helden

Karlsruhe / Badisches Staatstheater Karlsruhe (Februar 2025)
Händels „Rinaldo“ in der zweiten Fassung von 1731

Karlsruhe / Badisches Staatstheater Karlsruhe (Februar 2025)
Händels „Rinaldo“ in der zweiten Fassung von 1731

„Rinaldo“, Georg Friedrich Händels erste für London geschriebene Oper, ist für die Karlsruher Händel-Festspiele ein bekanntes Werk. Schon 1981, bei den vierten Festspielen, stand die Oper auf dem Programm. Und man erinnert sich noch gut an jene Produktion, da damals zum ersten Mal ein Countertenor die Bühne des Badischen Staatstheaters betrat. Ab jenem Zeitpunkt gehörten die Altisten zu den gern gesehenen Gästen auf der Karlsruher Bühne, und fast jeder renommierte Countertenor wirkte irgendwann beim Ensemble der Händel-Festspiele mit.

Umso bedauerlicher ist es, dass es diesmal nicht gelingt, einen mitreißenderen Interpreten für die Titelrolle zu gewinnen als Lawrence Zazzo. Auf der Bühne, auf der in den letzten Jahren u.a. Max Emanuel Cenčić, Franco Fagioli, Jakub Józef Orliński und Valer Sabadus brillierten, nimmt sich Zazzo als eher biedere Besetzung aus. Wie viel ergreifender hätte wohl Cenčić „Cara sposa“ gesungen, wie viel virtuoser hätte Fagioli die „Venti turbini“ angerufen? Doch man entscheidet sich für die selten gespielte zweite Fassung der Oper von 1731, die gegenüber der von 1711 umfangreiche Umarbeitungen erfuhr und besonders im letzten Akt neue Akzente setzt. So wurde der Schluss ab dem Marsch geändert, was Zazzo die Arie „Or la tromba in suon festante“ erspart. Auch die Battaglia ist gestrichen, was das Heroisch-Kriegerische des dritten Aktes deutlich reduziert.

Das greift auch Hinrich Horstkotte auf, der in Personalunion sowohl Regie als auch Ausstattung übernimmt. Während er im Bühnenbild und in den Kostümen eine geradezu barocke Bühnenpracht erstrahlen lässt, wird der Titelheld bei ihm zur gebrochenen Figur. Nicht als siegreicher Held, sondern als traumatisierter Charakter steht Zazzo am Ende auf der Bühne.

Konventionell gezeichnet sind die weiteren Protagonisten, wenn man sich auch erst daran gewöhnen muss, dass Argante in dieser Fassung einem Alt anvertraut ist. Doch Francesca Ascioti macht viel aus der Partie, ebenso wie Valeria Girardello eine verführerische Armida gestaltet. Die gesangliche Krone gebührt indes Suzanne Jerosme als wunderbar singende Almirena mit der Arie „Lascia ch’io pianga“: ein gesanglicher Höhepunkt. Unbedingt erwähnt werden muss noch der Goffredo von Jorge Navarro Colorado, der nach wackeligem Beginn einen Koloraturtenor vom Allerfeinsten hören lässt.

Rinaldo Alessandrini und die Deutschen Händel-Solisten bieten Barock-Musik auf höchstem Niveau, wobei der Dirigent auch gern mal improvisieren lässt und auf die Spontaneität seiner Musiker setzt. So interessant es ist, die 1731er-Fassung kennenzulernen, das Pendant von 1711 wirkt doch frischer und musikalisch anspruchsvoller.

Manfred Kraft

„Rinaldo“ (1711/31) // Opera seria von Georg Friedrich Händel

Infos und Termine auf der Website des Badischen Staatstheaters Karlsruhe

12. Februar 2025

Aus einem Guss

Lübeck / Theater Lübeck (Februar 2025)
„Tristan und Isolde“ im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks

Lübeck / Theater Lübeck (Februar 2025)
„Tristan und Isolde“ im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks

Nach einer sehr ansprechenden „Tristan und Isolde“-Produktion vor zwölf Jahren setzt das Theater Lübeck seine beachtliche Pflege des Werks von Richard Wagner mit einer Neuinszenierung seines Opus summum fort. Regie führt Altmeister Stephen Lawless im Bühnenbild und den Kostümen von Frank Philipp Schlößmann, die musikalische Leitung liegt bei Generalmusikdirektor Stefan Vladar. Und wieder wird es im dezenten und stets stimmungsvollen Licht von Falk Hampel eine sehr gute, ja streckenweise emotional stark einnehmende Produktion.

Schlicht und einfach auf die Ideen Wagners abstellend, sieht man in einen breiten Schiffsrumpf, nicht so voll gerümpelt wie jener in Bayreuth im letzten Jahr. Hier sind nur zwei Sessel für Tristan und Isolde und ein paar Umzugskisten zu sehen. Dafür weist der Rumpf in der Mitte einen großen Spalt auf, der sich öffnet oder schließt, je nachdem, ob es auf der Bühne zu einer harmonischen Situation, also einer Annäherung zwischen Tristan und Isolde kommt oder diese Harmonie gestört ist. Dann sieht man einen großen Spalt, der sich nahezu bedrohlich öffnet. Das ist’s eigentlich schon mit der Optik, die durch eine ausgefeilte Personenregie ergänzt wird.

Das Sänger-Ensemble weiß diese außerordentlich nachvollziehbar umzusetzen. Lena Kutzner debütiert als Isolde mit großer und klar artikulierter Spielfreude sehr authentisch mit ihrem klangvollen jugendlich-dramatischen Sopran. Ihr ebenbürtig debütiert Ric Furman als großer und stattlich aussehender Tristan mit einem kraftvollen und höhensicheren Tenor und reizvoller baritonaler Unterlegung. Marlene Lichtenberg ist nach ihrem Rollendebüt in Glyndebourne als Brangäne ein echtes Erlebnis. Ihr bestens projizierender und kräftiger Mezzo hat in letzter Zeit noch an Potenz gewonnen, und darstellerisch verkörpert sie die Rolle mit einer äußerst einnehmenden Mimik.

Rúni Brattaberg ist als Marke schwer indisponiert und singt nur, um die Aufführung zu retten. Steffen Kubach gibt mit schönem Timbre und guter Resonanz einen auch darstellerisch ausdrucksstarken Kurwenal. Seine Interaktion mit Tristan im dritten Aufzug hat sehr viel Emotion, wie überhaupt Lawless in seiner Inszenierung Emotionen relativ viel Freiraum lässt. So wandelt Brangäne bei ihrem ersten Ruf langsam, fast mystisch über die Bühne, während sich im Hintergrund Tristan und Isolde im Dunkel näherkommen. Der meist etwas peinlich wirkende Kampf am Schluss läuft teilweise als Schattenspiel nur im Hintergrund ab und erzielt damit sogar mehr Wirkung.

Vladar dirigiert zum ersten Mal „Tristan und Isolde“ und weiß das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck zu einer ausgezeichneten Leistung zu motivieren, die den Abend in Verbindung mit Bühnenbild und Gesang im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks wie aus einem Guss werden lässt. Entsprechend ist der kaum enden wollende Applaus.

Dr. Klaus Billand

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Theaters Lübeck

11. Februar 2025

Kuss der Muse?

Wuppertal / Oper Wuppertal (Januar 2025)
Eine Wupperetten-Revue bekommt nichts so richtig „gewuppt“

Wuppertal / Oper Wuppertal (Januar 2025)
Eine Wupperetten-Revue bekommt nichts so richtig „gewuppt“

Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Frank Loessers Broadway-Hit „Guys and Dolls“ an der Oper Wuppertal auf dem Programm stand, wurde der Premieren-Applaus auch durch viele Buhs und Missfallensbekundungen („Raus aus unserem Opernhaus!“) überschattet. Das Musical hatte es eben nicht leicht beim überalterten Abo-Publikum, das allenfalls die Operette in seinen heiligen Hallen duldete. Mittlerweile hat sich das amerikanische Musiktheater an vielen Opernhäusern hierzulande einen festen (und meist auch finanziell erfolgreichen) Nischenplatz erobert. Die Wupperetten-Revue „Von Thalia geküsst“ bedient sich nun bei beiden Genres: Im Mittelpunkt stehen die Operetten-Melodien der goldenen 1920er und 30er Jahre von Ralph Benatzky über Eduard Künneke bis hin zu Mischa Spoliansky und zeitgenössische Chansons, umrahmt von einer musicalartigen Revue.

Ort der Handlung ist das legendäre, 1906 gegründete Wuppertaler Thalia-Theater, das der jüdische Schauspieler Robert Riemer 1929 übernahm und ihm mit einer Mischung aus Operetten, Revuen und Filmvorstellungen zu neuem Glanz verhalf – bis er 1933 vor den Nazis in die USA floh.

Und so stimmen auf den Bühnenhintergrund projizierte, historische Filmaufnahmen und Fotos aus jenen Tagen auf die von Dramaturgin Laura Knoll geschriebene Geschichte ein. Doch der Charme dieses Openings wird gleich von der so gar nicht zu einer Revue passenden Ouvertüre aus Franz von Suppès „Die schöne Galathée“ zunichte gemacht. Die kommt so bräsig aus dem Orchestergraben, dass man schon einzunicken droht, ehe es überhaupt losgeht. Leider überkommen einen diese Müdigkeitsattacken immer wieder während der nur knapp 90 Minuten dauernden Vorstellung, weil die Auswahl der 23 Musiknummern eher beliebig wirkt und die Inszenierung von Intendantin Rebekah Rota sie selten mit der Handlung korrespondieren lässt. Wenn man schon einem so schillernden Impresario wie Robert Riemer ein theatralisches Denkmal setzt, dann wäre eigentlich ein wenig Varieté-Zauber und Kino-Nostalgie angesagt gewesen, als nur betuliche Operetten-Seligkeit. Aber so bleiben die hell leuchtenden Showtreppen (Bühne: Sabine Lindner) unbetanzt, während das Tanz-Ensemble sich im Dunkeln an den nicht gerade dynamischen Choreografien von Edison Vigil abarbeitet. Selbst seine Referenz an „Singin’ in the Rain“ will durch die wenig schmissigen Operetten-Melodien nicht zünden.

Bleibt die schlichte Handlung, die durch die fehlenden Show-Qualitäten der Inszenierung den bescheidenen Unterhaltungswert des Abends tragen muss: Luise (Elia Cohen-Weissert) verliebt sich in Peter (Merlin Wagner), ihr Bruder Felix (Zachary Wilson) in Thalia (Edith Grossman), die Göttin des Theaters. Die war vom Himmel herabgestiegen, um Robert Riemer (Oliver Weidinger) und seine Frau Frieda (Vera Egorova) vor der Insolvenz zu retten. Ein mit viel Spielfreude und schönen Gesangsstimmen dargebotener Beziehungsreigen, dem Edith Grossman mit einer kleinen Stepp-Einlage wenigstens einen Hauch von Revue beschert.

Rolf-Rüdiger Hamacher

„Von Thalia geküsst“ (2025) // Eine Wupperetten-Revue mit Musik von Eduard Künneke, Ralph Benatzky, Franz Lehár u. a.; Buch und Dialoge von Laura Knoll

Infos und Termine auf der Website der Oper Wuppertal

21. Januar 2025

Käpt’n Dalands Spuk-Kaschemme

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wenn das Publikum den Zuschauersaal des Wiesbadener Staatstheaters betritt, ist auf der Bühne bereits eine Piraten-Motto-Party im Gange, zu der eine Texteinblendung erläutert, dass der Geschäftsmann Daland eine solche alle sieben Jahre veranstaltet. Zur Ouvertüre wird auf eine Leinwand ein wildes Amalgam aus Seefahrer-, Mantel-und-Degen- sowie Gruselgeschichte in Schwarz-Weiß-Optik projiziert: Eine junge Frau sitzt träumend am Spinnrad in einer Burg an felsiger Küste, davor brandet das Meer. Ein Seefahrer naht auf seinem Schiff, geht an Land, führt ein paar Degenkämpfe, erreicht endlich das Burgfräulein und – beißt ihr in den Hals (!).

Weil dies in Nachahmung expressionistischer Stummfilmästhetik mit einer Überzeichnung von Gestik und Mimik einhergeht, möchte man es für eine Parodie halten. Die Regie von Martin G. Berger meint es aber bitterernst. Sie deutet die Sage nämlich psychologisch als Ausdruck eines verdrängten Kindesmissbrauchs, der allmählich in eingeblendeten Filmrückblicken offenbart wird. Als dessen Konsequenz habe Dalands Frau einst ihren Mann verlassen und die Teenager-Tochter Senta mit sich genommen, um sie vor weiteren sexuellen Übergriffen des Vaters zu bewahren. Nun kehrt die erwachsene Senta zurück. In dieser Deutung ist der Holländer das Alter Ego Dalands, eine Projektion seiner düsteren Triebe.

Leider ist es unmöglich, die grotesk überzeichnete Spukgestalt mit überlangem Mantel, Piratenhut und Zottelbart (Kostüme: Esther Bialas) auch nur für eine Sekunde ernst zu nehmen. Schon deswegen funktioniert das Regiekonzept nicht, von den permanenten Reibungen des gesungenen Textes mit der gezeigten Handlung ganz abgesehen. Alles wirkt wie eine schräge Mischung aus Murnaus „Nosferatu“ und Disneys „Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme“. Entweder ist diese Komik unfreiwillig oder sie ist dem Thema des inzestuösen Kindesmissbrauchs unangemessen.

Schade ist es um die Besetzung, denn mit Tommi Hakala steht in der Titelpartie ein Sänger zur Verfügung, dessen kerniger Heldenbariton mühelos eine ungefährdete Höhenlage mit satter Tiefe verbindet. Seine Auftrittsarie („Die Frist ist um“) ist der erste musikalische Höhepunkt des Abends. Ideal besetzt ist die Senta mit Dorothea Herbert. Ihre Stimme besitzt jugendliche Frische und Kraft ohne Schärfe. Ohne Anstrengung kann sie in der „Ballade“ die Höhen attackieren, reich ist ihr Spektrum an Klangfarben und dynamischer Differenzierung. Young Doo Park bewährt sich als Daland mit seinem sonoren Bass, während Aaron Cawley als Erik sich nach starkem Beginn zunehmend mit der Höhenlage abmüht. Mühelos frisch präsentiert sich Lukas Schmidt als Steuermann, mit tadellosem Mezzo gibt Ariana Lucas die Mary. Nach der uneinheitlichen Ouvertüre fasst das Orchester unter seinem neuen Generalmusikdirektor Leo McFall im weiteren Verlauf Tritt und zeigt insgesamt eine solide Leistung. Der Chorklang ist kräftig und präsent.

Und doch läuft dieser musikalisch ordentliche und sängerisch teils beachtliche „Holländer“ szenisch in den Untiefen eines unausgegorenen Regiekonzepts auf Grund.

Dr. Michael Demel

„Der fliegende Holländer“ (1843) // Romantische Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden

14. Januar 2025

Nichts ist komischer als das Unglück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

„Fin de partie“ ist die einzige Oper von György Kurtág. Der ungarische Komponist (*1926) vertonte hierfür das französische Original von Samuel Becketts Einakter „Endspiel“. Nach einem zähen Entstehungsprozess wurde die Oper 2018 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Nach Stationen in Dortmund und Wien bringt jetzt auch die Berliner Staatsoper dieses finster-absurde Musiktheater auf die Bühne. Regie führt Johannes Erath, der bereits in Graz eng mit der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka zusammenarbeitete.

In „Fin de partie“ geht es um vier Überlebende einer ungenannten Katastrophe. Bühnenbildner Kaspar Glarner steckt sie in ein winziges vergilbtes Tapetenzimmer mit abgeklebten Fenstern. Hausherr Hamm, der mit Blindenbrille im Rollstuhl sitzt, drangsaliert seinen steifbeinigen Diener Clov. Hamms Eltern Nagg und Nell, die seit einem Tandem-Unfall keine Beine mehr haben, hausen in zwei Mülltonnen.

Während die Dortmunder Inszenierung von Ingo Kerkhof das Publikum quasi mit auf die Opernbühne holte, setzt Johannes Erath auf maximale Distanz. Das Geschehen im Zimmer ist eingerahmt wie eine Postkarte, dann wieder wird die Perspektive verfremdet und verzerrt. So blicken wir mit Naggs Augen aus der Mülltonne, durch einen kreisförmigen Ausschnitt, in den Raum hinein. Derweil wird auf die schwarze Fläche um diesen Ausschnitt herum schattenhaft projiziert, was jenseits der Mülltonne vor sich geht.

Dem intimen Kammerspiel für vier Sänger stellt Kurtág ein 60-köpfiges Orchester gegenüber. Das soll jedoch nicht für opulenten Klangrausch sorgen, sondern beleuchtet den stets verständlichen Text mit fragmentarischen Zwischentönen, schillernden Farben, filigranen Tongespinsten im Pianissimo. Celesta und zwei Knopfakkordeons sorgen für einen Hauch von Zirkus und Varieté. All diese hochkomplexen akustischen Feinheiten kosten Dirigent Alexander Soddy und die Staatskapelle Berlin wirkungsvoll aus. Feingefühl und Expressivität gehen dabei Hand in Hand.

Regisseur Erath liest das zwischen Absurdität und Tragik kippelnde Stück in erster Linie als Komödie. Visuell spektakulär ist am Ende ein umgestürztes Riesenrad, das die gesamte Bühne einnimmt. Clov und Hamm turnen kerngesund in silbernen Glitzeranzügen darauf herum. Im Zeichen des absurden Theaters, das unlogische Szenarien ausdrücklich erlaubt, ist so ein Eingriff durchaus legitim. Die vier Solisten bieten einen großen Abend und meistern fulminant ihre französischen Monologe, die mit unzähligen komplizierten Taktwechseln gespickt sind. Die feinfühlige Personenregie schärft die Charaktere und Interaktionen.

Nuanciert und spannungsreich singt der französische Bassbariton Laurent Naouri die ausufernden Selbstgespräche des in stoischer Würde an seinen Rollstuhl gefesselten Hamm. Bo Skovhus setzt seine enorme Bühnenpräsenz und sein Slapstick-Talent für den clownesken Diener Clov ein. Als Nell sinniert Dalia Schaechter mit mildem Mezzo ihren Erinnerungen und dem Endspiel ihrer Ehe nach. Aus ihrem Mund kommt ein zentraler Satz des Abends: „Nichts ist komischer als das Unglück.“ Stephan Rügamer als Nagg witzelt sich mit seiner mal schneidenden, mal schmeichelnden Tenorstimme durch seine letzten Stunden.

Der ausweglose Überlebenskampf der vier nicht voneinander loskommenden Gestalten wird hier in eine gehörige Portion Galgenhumor verpackt. Dennoch macht sich im Laufe der 100 pausenlosen Minuten immer mehr Beklemmung breit, das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Am Ende sorgen die grandiosen Sängerdarsteller und das funkelnde Orchester für begeisterten Applaus.

Antje Rößler

„Fin de Partie“ (2018) // Oper von György Kurtág

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Unter den Linden

24. Dezember 2024

Zu wissen, wer man ist

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

Das illustre Münchner Premierenpublikum – Anne-Sophie Mutter in der Königsloge – ist begeistert. Es gibt wiederholt Szenenapplaus und frenetischen Beifall mit Fußgetrampel am Ende. Star des Abends ist der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Tenor Xabier Anduaga. Er verkörpert Tonio, den Tiroler, der die Regimentstochter Marie einst vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrte, sich in sie verliebte und dem sie das Leben rettet, als das 21. Regiment der französischen Armee ihn als Spion köpfen möchte. Mit dem herrlichen Schmelz seines Timbres, voluminöser Strahlkraft und körperbetonten Spitzentönen interpretiert er auch die bekannteste Arie der Oper, die Cavatine „Ah! mes amis, quel jour de fête!“ mit neun hohen Cs, in der er sein Schicksal preist, Soldat und Bräutigam zu sein. Der gewaltige Beifall nach dieser Arie löst minutenlange Erstarrung auf der Bühne aus, ehe die Marquise de Berkenfield Marie als ihre „Nichte“ mit auf ihr Anwesen nimmt, um sie standesgemäß zu bilden und zu verheiraten.

Regisseur Damiano Michieletto und sein Bühnenbildner Paolo Fantin, die eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, setzen Gaetano Donizettis komische Oper „la fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene. Der realistische Wald im Hintergrund der Spielfläche, in dem sich plötzlich ein „Fenster“ in das Anwesen der Marquise öffnet, erscheint im zweiten Akt als Bild, aus dem die Soldaten einfallen, um Marie zurückzuholen. Mit den Kostümen von Agostino Cavalca bietet die Inszenierung wirkungsvolle Momente der Symbolik und ironischen Brechung. Doch erlangt sie damit keine Tiefe. Daran ändert auch die Schauspielerin Sunnyi Melles als Duchesse de Crakentorp und Erzählerin nichts. In neu verfassten Monologen an Stelle der Dialoge führt sie durch die Handlung und erklärt forsch: „Das Einzige, was im Leben zählt, ist zu wissen, wer man ist.“ Von all den Fragen um die psychologische Komplexität der Marketenderin Marie, das Frau-Werden eines Mädchens, das unter Soldaten aufwächst, sowie den historischen Kontext der Handlung, die das Programmheft aufwirft, berührt die Inszenierung keine. Vielmehr irritiert die romantische Verklärung des Soldatenlebens, die, angetrieben von den Trompetensignalen und Trommelwirbeln der Musik, immer wieder in Klamauk mündet.

So wird der Abend zu einem Fest für Melomanen. Neben Xabier Anduaga ist es Sopranistin Pretty Yende in der Rolle der Marie, die mit ihrer Bühnenpräsenz, ihrem darstellerischen Talent und ihrem Gesang, der sich von Lyrischem über halsbrecherische Koloraturen bis zu Durchbrüchen über den Schönklang hinaus erstreckt, das Publikum zu Beifallsstürmen hinreißt. Auch der Bariton Misha Kiria als Sergeant Sulpice und Maries Ziehvater sowie die Sopranistin Dorothea Röschmann als Marquise de Berkenfield und Maries leibliche Mutter überzeugen mit ihren komischen Übertreibungen und ihrem Gesang. Und Stefano Montanari geleitet das wie immer exzellent spielende Bayerische Staatsorchester mit Esprit durch alle Kontraste der Partitur.

Ruth Renée Reif

„La fille du régiment“ (1840) // Opéra comique von Gaetano Donizetti

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper