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Achim Müller

Kunst in der Krise!?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Interviews Iris Steiner

Aus aktuellem Anlass starten wir in dieser Ausgabe eine neue Reihe und fragen Macher, Visionäre, Forscher und Politiker: Welche Zukunft hat die Kultur? Diesmal: Achim Müller, Direktor Forschung und Projekte am Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) Berlin, sowie Jochen Sandig, Kulturunternehmer und Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Sprechen wir über die „Zukunft der Kultur“. Brauchen wir gerade jetzt eine solche Diskussion? Oder ist das nur populistisches Säbelrasseln in einem Land, wo Kunst und Kultur staatlich unterstützt werden?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller
(Foto Annette Hempfling)

Diskussionen über die Zukunft von Kultur und ihre Rolle in der Gestaltung von Gesellschaft – auch in Bezug oder Konkurrenz zu anderen drängenden Themen wie der Klimakrise oder gesellschaftlicher Polarisierung – gab es ja auch vor der alles überschattenden Corona-Pandemie immer. Die aktuelle Situation stellt nun schlagartig einen großen Teil der konkreten kulturellen Praktiken und Institutionen in Frage: Sei es durch Kontakt- und damit Veranstaltungs-, Kapazitäts- und Partizipationsbeschränkungen, durch verändertes Freizeitverhalten und Bewertungen seitens des Publikums (wie „Geht ja auch ohne“, „Das ist endgültig etwas für wenige“), oder schließlich durch die absehbaren Legitimierungs- und Verteilungsdebatten angesichts öffentlicher Sparzwänge und anderer Problemfelder (Nachhaltigkeit, Diversität, Bildung). In diesem Licht braucht es natürlich spezifische Debatten über die Rolle von Kultur in der Bewältigung der Krise im Allgemeinen als auch im Speziellen über Reaktionen in Institutionen, künstlerischen Formen, Vermittlungsarbeit und Kommunikation.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig
(Foto Jean-Baptiste Millot)

Der Begriff der Zukunft weckt bei vielen Menschen Sorgen und Ängste. Zukunft aktiv zu gestalten, ist ein schöpferischer Akt. Kommt nicht gerade den Künsten hier eine wachsende Verantwortung gar mit dringlicher Notwendigkeit zu? Ebenso scheint mir das Schicksal unserer Gesellschaft existenziell mit der Zukunft der Kultur verknüpft. Wer oder was sind wir denn überhaupt ohne Kultur? Zum kulturellen Geschehen gehören in der Regel drei wesentliche Elemente: der Raum, die künstlerischen Akteure – auf und hinter der Bühne – und das Publikum. Nur wenn dieser Dreiklang auch in eine zeitlich synchrone reale Zusammenkunft treten kann, kann die Magie der Kreation zum echten Erlebnis werden. Mithilfe der Technologie kann der Raum auch virtuell sein, das kennen wir vom Film. Aber das Digitale wird niemals den realen physischen Raum vollständig ersetzen, dies gilt ebenso für die Resonanz der Akteure mit dem Publikum. Ich spiele gerne mit Worten und so habe ich entdeckt, dass die Zukunft wortwörtlich in der ZUsammenKUNFT steckt. Kultur ist ein unverzichtbarer Teil einer lebendigen demokratischen Gesellschaft und steht in ihrer Systemrelevanz dem Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungssystem in nichts nach. Kultur wirkt als Transmitter zwischen allen Bereichen des menschlichen Lebens. Die Leitplanken in Richtung einer positiven Zukunft symbolisieren für mich unter anderem die beiden Bücher „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch und „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. In diesem Korridor müssen wir auch die politische Debatte um die finanzielle Existenzsicherung der Kultur führen, denn Investitionen in die Kultur sichern eine lebenswerte Zukunft.

Hat die Pandemie mit den damit verbundenen starken Einschränkungen des Kulturbetriebs Auswirkungen, die Sie nicht erwartet hatten? Haben Sie Erkenntnisse gewonnen über unverhoffte soziokulturelle Entwicklungen oder – im Gegenteil – hatten Sie andere erwartet?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die bisherigen Entwicklungen haben Hypothesen auf der Grundlage früherer Untersuchungen des Instituts für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) bestätigt: Unsicherheit in weiten Teilen des Publikums verbunden mit leicht verfügbaren und vielfältigen digitalen Alternativen führt zu häufig ungewisser Auslastung selbst der begrenzten Kapazitäten; die Resonanz auf digitale Angebote von Kulturinstitutionen ist sehr unterschiedlich, in der Konkurrenz zu aufwendig produzierten Angeboten im Streaming- und Gaming-Bereich können nur wenige technisch mithalten, Teilnehmerzahlen sind häufig relativ gering. Um nachhaltig einen gleichwertigen Platz neben den traditionellen Formen einzunehmen, müssen die digitalen Angebote Teil einer digilogen Gesamtstrategie sein, mit kontinuierlicher Content-Entwicklung, Aufbau der entsprechenden künstlerischen, kommunikativen und technischen Kompetenzen/Mitarbeiter, Ausbau der technischen Infrastruktur und Anpassung von Organisationsprozessen. Viele Institutionen suchen Lösungen allerdings vor allem in der Innensicht oder im Austausch mit ähnlichen Institutionen, selten in Partnerschaften und durch Lernen außerhalb der eigenen Disziplin oder gar im Bereich der Wirtschaft. Daneben gibt es Gegenbeispiele von großer Lern- und Handlungsfähigkeit – meist von Institutionen, die bereits vor der Pandemie aktiv und strategisch auf Strömungen wie die Digitalisierung oder die Ausdifferenzierung des Kultur-und Freizeitverhaltens reagiert haben und dafür mit anderen Institutionen oder Unternehmen kooperiert haben.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Schon vor der Pandemie gab es ein komplexes globales Thema mit existentieller Notwendigkeit lokaler Antworten zur Krisenbewältigung: die Erderwärmung und der damit verbundene Klimawandel. Für den Globalen Klimastreik am 20. September 2019 habe ich ein Transparent mitentwickelt, auf dem stand geschrieben: „Wir machen zusammen Halt.“ Niemand konnte ahnen, wie abrupt und radikal ein solches Haltmachen in einem ganz anderen Kontext überhaupt möglich sei. Die Corona-Pandemie mit der Gefahr des exponentiellen Wachstums von Ansteckungen hat uns dazu gezwungen. Haben wir die Zeit zum Nach-Denken genutzt oder auch zum Vor-Denken? Wir brauchen neue Konzepte des Zusammenlebens und des Wirtschaftens. Ich würde mir wünschen, dass wir noch stärker dazu bereit sind, hier etwas zu verändern. Bei den Schloss Fest Spielen richteten wir Anfang 2020 an unsere Künstlerfamilie und das Publikum drei Fragen: „Wo stehst Du? Was bewegt Dich? Wohin gehen Wir?“ Wenn wir aus Corona etwas lernen können, dann ist es, das gemeinsame WIR zu entdecken und unseren Narzissmus und Egoismus zurückzustellen. Die gute Nachricht: Ich habe viel Solidarität unter meinen Intendanten-Kollegen erlebt und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.

Welchen neuen Ansatz würden Sie der Politik zum jetzigen Zeitpunkt an die Hand geben? Wie würden Sie persönlich vorgehen?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Hier würde ich zwei Bereiche hervorheben: Zum einen sollten Zielvereinbarungen oder Projektvorgaben zur Gewinnung und Bindung von Publikum („Audience Development“), heute häufig mit dem Konzept von „Diversität« verknüpft, angesichts der drohenden Erosion gerade auch in den Kernpublika nachjustiert werden. Programme wie zum Beispiel das 360° sollten im Sinne echter Diversität stärker ausbalanciert werden: Neben der derzeit im Mittelpunkt stehenden Integration unterrepräsentierter Personengruppen sollten für die Verankerung in der Bevölkerung insgesamt auch die Pflege des treuen und engagierten Kernpublikums und die Ansprache häufig eher unterhaltungsorientierter Gelegenheitsbesucher fokussiert werden. Aktivitäten sollten dabei auf empirisch ermittelten Verhaltensmustern und Präferenzen beruhen, sonst droht statt der angestrebten Integration einfach Desinteresse. Zweitens sollten Anreize gesetzt und Ressourcen bereitgestellt werden, um die Reichweite durch digitale Angebote zu erhöhen. Dabei sind Gesamtstrategien zu priorisieren, bei denen die Content- und Formatentwicklung in den Aufbau von Kompetenzen, technischer Infrastruktur und spezifischer Kommunikationsstrategien eingebettet ist. Das Programm „Neustart“ der KSB weist da in die richtige Richtung. Um Wissenstransfer anzuregen, sollten insbesondere Kooperationen mit technologischen Partnern (z.B. Software-/Games-Entwickler) unterstützt werden – angelehnt an „Tandemförderungen“ wie „Doppelpass“.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Was sich am dringendsten ändern muss, sind die lähmende Stagnation und das Festhalten an alten Prinzipien und Privilegien. Wir brauchen Mut zum Neuanfang. Die „Große Transformation“ bedeutet, große Ziele für eine nachhaltige gemeinsame Welt in allen Bereichen zu etablieren und systematisch umzusetzen: Keine Armut. Bildung und Kultur für Alle. Die Gleichheit aller Menschen, egal welcher Geschlechter und Herkunft kann und muss Realität werden. Der Planet Erde darf nicht weiter zerstört und ausgebeutet werden, sondern soll als Lebensraum und Heimat aller zukünftigen Generationen erhalten werden. Den Künsten kommt dabei die verantwortungsvolle Rolle als Katalysatoren dieses Wandlungsprozesses zu. Der Traum einer besseren Welt hat die Vereinten Nationen zum gemeinsamen Masterplan der Sustainable Development Goals als globale Agenda 2030 geführt. Ein wichtiger Kompass, der uns bereits seit vier Jahren in die Hand gelegt wurde. Wie ich persönlich dabei vorgehe? Ich nehme diesen Kompass ernst und suche leidenschaftlich gerne auch nach Wegen, die noch niemand gegangen ist. Es ist ein langer Weg, aber er führt uns vielleicht zum Ziel, wenn wir beginnen, ihn zu gehen. Als Intendant habe ich mich entschlossen, die traditionsreichen Ludwigsburger Schlossfestspiele als ein zeitgemässes Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit zu begehen und zu feiern. Dies bedeutet, Vielfalt, Zugänglichkeit und Regeneration konsequent zusammen zu denken.

Hat die momentane Situation Auswirkungen auf Ihre zukünftige Arbeit? Werden Sie etwas verändern, weil Sie erst jetzt die Relevanz erkannt haben?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die digital unterstützte Arbeit ist noch stärker „angekommen“ – ich arbeite derzeit fast ausschließlich mit internetbasierten Forschungs-, Vermittlungs- und Moderationsmethoden. Die Potenziale dieser Technologien waren ja schon bekannt, nun haben sich die Rahmenbedingungen verändert, machen physische Kontakte zum Risikofaktor, beeinträchtigen sie oder schließen sie über juristische Regelungen gar aus. Dadurch ist der Bedarf nach möglichst intensiver digitaler Interaktion natürlich gestiegen. Die in dieser Zeit gewonnenen Erfahrungen werden sicher auch die zukünftige Arbeit prägen, hin zu einem Mix aus rein digitalen Methoden und Formaten, solchen, die auf physischer Begegnung und Interaktion beruhen, sowie hybriden Formen, die physischen mit digitalem Austausch verknüpfen.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir lernen, mehr im Moment zu leben und flexibel zu planen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, auf Entwicklungen zu reagieren, und brauchen dafür vor allem Verlässlichkeit der Finanzierung. Materielle Ressourcen sind notwendig, um das Personal und die Künstler zu finanzieren und durch das tiefe Tal der geringeren Einnahmen hindurch zu führen. Besonders hart trifft es die nicht-öffentlich geförderte Veranstaltungsbranche. Dringend müssen wir Zugänglichkeit zu einem breiten 360-Grad-Publikum herstellen. Musik und Tanz sind universelle Sprache, die alle Menschen verstehen, sie haben ihren Ursprung im rituellen und transformativen Akt. Beide Künste sind vergänglich und gleichzeitig in der Lage, die Zeit anzuhalten, sie geben uns eine Ahnung von der Ewigkeit – ein wunderschönes Paradoxon. Genauso oszillieren wir als Teile ständig zwischen der materiellen und der immateriellen Welt. Corona hat dafür unsere Sinne geschärft.

Welche Bedeutung hat Kultur für unsere Gesellschaft? Ist Ihnen jetzt – vielleicht aufgrund der Einschränkungen – etwas aufgefallen, was Ihnen vorher nicht so bewusst war?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Es ist hinlänglich und kontrovers diskutiert worden, welche Bedeutung Kultur, präziser der Kulturbereich/-betrieb, grundsätzlich für gesellschaftliche Diskurse und Prozesse hat – dem ist in der hier gebotenen Kürze wenig hinzuzufügen. Politisch/organisatorisch bestätigt sich in der Krise positiv wie negativ Vertrautes: Das deutsche Kultur-(finanzierungs-)system erweist sich bisher als erstaunlich widerstandsfähig, Unterstützung und Rechtssicherheit wurden relativ schnell und partnerschaftlich bereitgestellt. Nur wenige Stimmen haben bisher die Situation dazu genutzt, das System grundsätzlich in Frage zu stellen. Ob dies in den Zeiten des Abbaus öffentlicher Defizite so bleibt, ist abzuwarten. Die einschneidende grundlegende Erkenntnis ist wohl, wie stark der bestehende Kulturbereich auf erprobten kulturellen Praktiken des physischen Kontaktes beruht – falls Corona und damit die Kontaktbeschränkungen auch nur annähernd bestehen bleiben, könnte dies im Kulturbetrieb ähnlich massive strukturelle Auswirkungen haben wie die Digitalisierung oder andere technologische Umbrüche.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Kultur schafft Gemeinschaft. Kultur spendet Trost. Die Künste öffnen geistige Räume. Die Künste stellen seelische Verbundenheit her. Es muss doch jenseits der Arbeit und Produktivität auch Raum und Zeit für Rituale geben, für Feste, die wir feiern. Als verantwortlicher Intendant der Schloss Fest Spiele möchte ich die drei Begriffe zum Tanzen bringen: Das Schloss, das Fest und die Spiele. In Zeiten von Corona gehen wir verstärkt in die Außenräume: Marktplatz, Schlosshof und Blühendes Barock bilden in Ludwigsburg einen spannungsreichen Dreiklang an sehr unterschiedlichen Räumen. Es ist phänomenal zu erleben, dass gerade in diesen leicht zugänglichen offenen Räumen ein Schlüssel zur Öffnung liegt. Wenn wir wirklich Schwellen abbauen wollen und die Künste nicht als Zeitvertreib für ein elitäres Bildungsbürgertum begreifen, sondern radikal als ein gelebter demokratischer Resonanzraum, dann müssen wir auch neue Orte bespielen.

Sehen Sie in der jetzigen Situation auch eine Chance, etwas zum Besseren zu verändern?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Sicher kann die Bewältigung der Corona-Krise auch eine konkrete Form von bürgerschaftlichem Gemeinsinn schaffen, ein „Das haben wir gemeinsam überwunden!“, das in einer Zeit, in der sich in den sozialen Medien quasi autarke Resonanzräume ausdifferenzieren, von großem Wert wäre. Die Herausforderung für Kulturinstitutionen besteht dabei unter anderem darin, neben internem Krisenmanagement als handfester und integrierender Gestalter des öffentlichen Lebens zu agieren – und nicht vorrangig als Forderungssteller im Verteilungskampf um öffentliche Unterstützung. Ansatzpunkte in Form von „Good-Practice-Beispielen“ gibt es, von künstlerischen Formaten, auch im öffentlichen und im digitalen Raum, über den Aufbau digitaler Kompetenz und Infrastruktur bis hin zu branchenübergreifenden Partnerschaften mit Gastronomie und Einzelhandel für die Aufrechterhaltung des Lebens im öffentlichen Raum trotz Corona. Nun gilt es, dass diese guten Beispiele sich in der Breite durchsetzen. Als Beitrag dazu haben wir am IKMW ein eigenes Projekt aufgesetzt: Wir nehmen Auswirkungen und Strategien von Theatern und freien Gruppen in Deutschland auf und dokumentieren Best-Practice-Beispiele. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen zu integrierten digilogen (digital/analogen) Strategien erweitern die bewährten Praktiken durch zeitgemäße digitale wie hybride Ansätze und werden auch in der nach Corona sicherlich digitaleren Welt von Bedeutung sein. Ende November werden wir Ergebnisse vorstellen – selbstverständlich digital.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir befinden uns in einem Krieg gegen uns selbst. Der Mensch zerstört die Natur, die Umwelt, seinen Lebensraum. Wir brauchen eine doppelte Hinwendung zum „Terrestrischen“, wie der französische Philosoph Bruno Latour es fordert, und gleichzeitig zum „Menschlichen“. Daher habe ich vor vier Jahren gemeinsam mit Alexandra Mitsotakis, Irene Papaligouras und anderen Partnern das World Human Forum in Delphi gegründet. Mein Leben ist bestimmt durch die ständige Suche nach einem dritten Weg, einem Plan C. Wir müssen das Ökonomische, Ökologische und Soziale in Einklang bringen, oder besser: in einen wohlklingenden Dreiklang!

Dramaturgie denkt Corona

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Text Florian Maier, Illustrationen Beatrice Schmucker

Als Anfang Juni die Einladung zu einer neuen Veranstaltungsreihe mit dem klangvollen Titel „Dramaturgie denkt Corona“ ins E-Mail-Postfach flattert, ist meine Neugier schnell geweckt. Der Pandemie und ihren nach wie vor unwägbaren Konsequenzen stehen auch wir als Musiktheater-Magazin rat- und machtlos gegenüber, als Kulturjournalisten wurden wir in den Wochen und Monaten nach dem Shutdown in der Arbeit am „orpheus“ immer wieder von der Realität eingeholt. Nun also die Initiative des noch jungen dramaturgie-netzwerks, im Rahmen eines Gesprächsformats an vier aufeinanderfolgenden Mittwochabenden zum Erfahrungsaustausch unter Dramaturginnen und Dramaturgen zu bitten, flankiert von Expertenbeiträgen unterschiedlichster Couleur. Spontan melde ich mich an. Selbst Dramaturg, nutze ich Gelegenheiten zum persönlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen gerne, schätze es, bei den Jahreskonferenzen der dramaturgischen gesellschaft und den Workshops der zugehörigen AG Musiktheater neue Impulse aufzusaugen, eigene Erfahrungen kritisch zu hinterfragen, in oftmals auch unerwartete Richtungen weiterzudenken. Diesmal soll es um Gegenwart und Zukunft der „drei Ps“ – Programm, Publikum, Personal – gehen. Ein uferloser Themenkomplex mit unendlich vielen Facetten.

Eine Art „Corona-Leitfaden“?

Und so wähle ich mich wenige Tage darauf gespannt in den Zoom-Videochat ein und sehe mich knapp 50 weiteren Teilnehmern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum gegenüber, darunter durchaus das ein oder andere bekannte Gesicht. Die virtuelle Gesprächskultur der neuen Corona-Realität hat nun also auch die Dramaturgie erreicht, schießt es mir durch den Kopf. Zu Beginn fühlt sich diese Art der Kommunikation noch fremd an. Aber schließlich gibt es viel zu besprechen, immensen Bedarf zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, die Hoffnung, in der Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen anderer Häuser den Schlüssel zur klareren Sicht in der ungewissen Fahrt durch den coronalen Nebel zu finden. Das treibt auch mich um: Bis zum Frühjahr war ich selbst mehrere Jahre für einen Festivalbetrieb tätig, bevor ich – unabhängig von Corona, aber zeitlich parallel zur aufkommenden Krise – fest in die Redaktion des Magazins „orpheus“ gewechselt bin. Mit der Perspektive des Veranstalters bin ich daher vertraut und kann erahnen, wie es sich anfühlen muss, wenn in langer und liebevoller Arbeit gereifte (Spiel-)Pläne von heute auf morgen plötzlich Makulatur sind. Das Fatale an einer Pandemie: Niemand weiß, ob Plan B auch morgen noch greift oder dann längst wieder durch neue Alternativen ersetzt werden muss. Keiner kann sagen, wann der Weg zurück in die Normalität führen wird. Ist das überhaupt realistisch? Oder wird die „neue Realität“ unsere post-pandemische Gesellschaft deutlich und anhaltend verändert hinterlassen? Zum jetzigen Zeitpunkt können darauf keine konkreten Antworten gegeben werden, anerkannte wie selbsternannte Experten verschiedenster Disziplinen sind sich in vielen Fällen uneins. „Dramaturgie denkt Corona“ empfinde ich daher als sehr stimmigen Titel – Denkstoff ist schließlich mehr als genug vorhanden in diesen Zeiten.

An einem Strang

Das sehen auch die Initiatoren des dramaturgie-netzwerks so. Sie betrachten ihre Online-Gesprächsreihe als Plattform, „in der Sorgen Gehör finden, lang brennende Kritik ihren Platz hat und neue Ideen fürs Theatermachen während und nach Corona wachsen können“. So vielschichtig und vielgestaltig die Kunstform Theater ist, so unübersichtlich und verzweigt ist der Dschungel an thematischen Räumen, der sich daraus eröffnet. Kann diese Fülle an Diskussionsstoff in vier zweistündigen Videochats überhaupt sinnvoll kanalisiert werden? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja, sie kann. Sollte jemand verbindliche Antworten, eine Art „Corona-Leitfaden“ für die darstellenden Künste erwartet haben, wird er enttäuscht worden sein. „Dramaturgie denkt Corona“ setzt auf Inspiration und Teamgeist, will das „Theater der Zukunft“ andenken und Visionen Realität werden lassen. Das kann nicht im Sprint gelingen, das erfordert langen Atem. Und viel Input, der untrennbar miteinander verknüpft ist. Die drei eingangs genannten Ps erhalten im wöchentlichen Wechsel ihren jeweils eigenen Schwerpunkt und am Ende ein gemeinsames Resümee – sie komplett separiert voneinander zu betrachten, ist ohnehin eine Sache der Unmöglichkeit. Das Personal kreiert Programm für das Publikum – so banal das klingt, so allgemeingültig ist es.

Theatrale Baustellen

Bevor es in den Gedankenaustausch geht, eröffnet jede Zoom-Konferenz mit zwei Impulsvorträgen. Im Laufe der Wochen entspannt sich ein dichtes Netz an weitläufigen Eindrücken: „Weltenbauerin“ Christiane Hütter berichtet von ihrer Arbeit an partizipativen theatralen Effekten im öffentlichen Raum, von interdisziplinären Ansätzen zur Kreation einer postdigitalen Gemeinschaft mit den Mitteln von Storytelling und Game Design. Christian Römer, in der Heinrich-Böll-Stiftung für den Bereich Kultur und Neue Medien zuständig, empfindet den Begriff der „hybriden Formate“ als Worthülse, die es erst noch zu füllen gelte, plädiert dafür, den digitalen Mehrwert einer Produktion schon von der Konzeption her zu denken. Leyla Ercan, Agentin für Diversität am Staatstheater Hannover, kritisiert, dass das Programm, das unsere Theater anbieten, zugeschnitten und maßgeschneidert sei auf ein Kernpublikum, das nur 10 Prozent der Gesellschaft umfasse und eine diversere Besucherstruktur qua sozialer, ökonomischer und kultureller Barrieren verhindere. Achim Müller, Direktor Forschung und Projektmanagement am Berliner Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW), geht noch einen Schritt weiter: In dem Bestreben, Publikumsbindung als auch -erweiterung für immer ausdifferenzierte Milieus zu erreichen, müssten Theater noch präziser auf präferenzorientierte Ansprachen achten – sonst drohe nicht das Empfinden von Barrieren, sondern schlicht weiterhin Desinteresse. Auf der anderen Seite des Bühnenvorhangs schwelen derweil strukturelle Brandherde, wie Katrin Hiller (Produktionsleiterin, Beraterin für Personal- und Organisationsentwicklung) im Geiste des Veränderungsmanagements zu bedenken gibt. Lösungen für Wege aus dem personell hierarchisch bis (selbst-)ausbeutend funktionierenden Theatersystem müssten jetzt in Zeiten von Corona gebündelt und angestoßen werden, sonst sei die Chance einer nachhaltigen Zäsur irgendwann ungenutzt verstrichen. Adil Laraki (u.a. GDBA-Landesverbandsvorsitzender NRW) formuliert in deutlichen Worten: Während sich die Theater auf der Bühne als die größten Moralisten präsentieren, würden Hierarchien aus dem 19. Jahrhundert die Mitwirkenden hinter den Kulissen krank machen – Arbeit mit der Angst verursache vielerorts körperliche wie psychische Gefährdungen, denen endlich durch neue vertragliche Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden müsse.

Hybride Diversität

Mehr als genug Denkstoff also, der schon in der Kürze der Darstellung hier unglaublich umfangreich erscheint. Eines aber wird klar – unsere Theaterlandschaft steckte schon lange vor Corona in einer Krise, die viele Facetten kennt: Überproduktion und damit einhergehende zweifelhafte Produktionsbedingungen, schlechte Bezahlung bei hohem Leistungsdruck, gerade im Musiktheater der Fokus auf immergleiches Kernrepertoire und das fadenscheinige Gegenargument von Wiederentdeckungen und modernen Experimenten (die nach der Uraufführung doch viel zu oft wieder in der Versenkung verschwinden). Kurzum: die Maxime „Schneller, höher, weiter“, die unsere Kulturbetriebe dem Zeitgeist entsprechend längst erfasst hat.

Ich höre den Impulsvorträgen interessiert zu, reflektiere eigene Erfahrungswerte – und denke über das „Theater der Zukunft“ nach, über das wir hier philosophieren, phantasieren, debattieren möchten. „Ist es überhaupt realisierbar?“, nagen Zweifel an mir. Und dann kommt auch schon wieder der Gedanke an die Pandemie in mir hoch: Bei all dem Leid und den Einschränkungen, die sie mit sich bringt, hat sie auch Gutes mit unserer Welt und uns Menschen gemacht, indem sie – zumindest zeitweise – Grenzen aufzeigt. Unsere Umwelt hat erstmals seit Jahrzehnten Luft zum Durchatmen, zeigt längst verloren geglaubte Seiten. Eingesperrt mit uns selbst, besinnen wir uns auf Familie und Freundschaften, auf die schönen Künste und ihre Bedeutung für unser Leben. Ob das „Theater der Zukunft“ realisierbar ist? Wenn wir Theaterschaffenden uns nicht zusammenschließen und gemeinsam für unsere Visionen eintreten, dann lautet die Antwort ganz sicher „Nein“. Gerade deshalb ist „Dramaturgie denkt Corona“ ein Format mit Zukunft, ein Format für die Zukunft.

Was nun?

Nach den Impulsvorträgen werden wir in Kleingruppen aufgeteilt, die sich verschiedenen Aspekten des jeweiligen Wochenthemas widmen. Im Vergleich zum etwas unpersönlichen „Plenum“ kehrt eine familiärere Atmosphäre ein: Während die Impulsvorträge bei bis zu 50 Zuhörern naturgemäß eher Frontalunterricht gleichen, besteht nun auch die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen, Sorgen zu schildern, von Ideen im eigenen künstlerischen Umfeld zu berichten. Die Stärke unserer „dramaturgischen Zunft“ bewährt sich auch virtuell, wie ich freudig feststelle: Neuerungen aus dem Schauspiel treffen auf Lösungsansätze aus dem Musiktheater, freie Künstlerinnen und Künstler auf Festangestellte, interessierte Teilnehmer aus angrenzenden Feldern wie Theaterpädagogik und Marketing auf solche mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Dramaturgie.

Sorgen werden laut: Wird soziale Distanz die neue gesellschaftliche Norm – und wenn ja, wie gehen wir damit um? Welche theatralen Erzählungen wirken dagegen? Wird es ein „Massensterben“ in der freien Szene geben, die den Stadt- und Staatstheatern bezüglich Innovationen oft um einiges voraus ist und doch den ersten Rang unter den wirtschaftlich gefährdeten Bühnenkünsten einnimmt? Können Autorinnen und Autoren, Komponistinnen und Komponisten angesichts der aktuellen Lage kaum noch eingehender Tantiemen weiterhin ihren Berufen nachgehen? Werden weniger junge Menschen künstlerische Berufe wählen, aus Angst, dass diese keine Zukunft haben? Verstärkt Corona Barrieren, gerade in der Vermittlung an Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Kosmos Theater? Wird die Pandemie die Arbeitsbelastung durch Mehraufwand an kleinen legitimierenden Experimenten eher noch erhöhen?

Weltenbau

Demgegenüber stehen aber auch viele hoffnungsvolle Gedanken im Raum: Wenn die Abgabe von Bühnenbildern aktuell plötzlich online möglich ist, statt einzig hierfür quer durch Deutschland zu reisen – wieso dann im Sinne von Klima und Nachhaltigkeit nicht auch in Zukunft? Können neue digitale Formen in sinnhafter Nutzung auch Türen öffnen, Neugier sowohl in „Theaterjunkies“ als auch bei bisher nicht erreichten Besuchersegmenten wecken? Könnte es nicht gerade jetzt Zeit sein für eine zeitgemäße Neuerfindung des Abosystems, die stärker auf individuelle Bedürfnisse eingeht und Zusatznutzen buchbar macht? Wieso nicht einmal auf demokratische Programmentscheidungen setzen, die Zuschauer miteinbeziehen in die Spielplangestaltung? Kann eine Reflexion der Aufgabengebiete eine zukunftsfähige Neustrukturierung ermöglichen, die neben einer klaren Definition von hauseigenen Qualitätskriterien und Selbstverpflichtungen nicht nur das eigene Profil stärkt, sondern auch Raum für Fortbildungen, Homeoffice und familienverträgliche Arbeit lässt? Und ist es nicht vorstellbar, dass ein verstärktes Netzwerk zwischen den Häusern nicht zwangsweise ein Risiko für die abgegrenzte, schützende Einzigartigkeit bedeutet, sondern vielmehr ein Ziehen an einem Strang, eine Erleichterung vieler Prozesse?

Achim Müller betitelt die nun beginnende Saison in seinem Impulsvortrag als „letzte Spielzeit der Seligen“ – Budgets hierfür seien noch vor Corona bewilligt worden, danach begännen ökonomisch und damit zwangsweise auch künstlerisch wahrhaft ungewisse Zeiten. Die Theaterszene steht unzweifelhaft vor dem größten Umbruch unserer Zeit: Was wird der Krise zum Opfer fallen – und was sollte sich ohnehin ändern? Wegen des großen Interesses plant das dramaturgie-netzwerk gerade eine Fortsetzung der Gesprächsreihe, möchte sich in diversen Arbeitsgruppen verschiedenen zentralen Themenfeldern wie Leitungsmodellen, Arbeitsbedingungen, dramaturgischen Denkräumen, internationalen Vernetzungen und nicht zuletzt Organisationsmodellen der Zukunft widmen. Am Ende der vierten Sitzung, die unter dem Titel „Was nun?“ ein erstes Resümee zu den gewonnen Erkenntnissen der drei Ps zieht und zugleich zur weiteren aktiven Mitgestaltung der Plattform einlädt, verlasse ich die digitale Konferenz mit einem guten Gefühl. Wir sind gerade alle Laien im Umgang mit der Krise. Das kann aber auch eine Chance sein – wenn man sich ihr stellt.

Das dramaturgie-netzwerk entstand 2019 als Zusammenschluss mehrerer Dramaturginnen und Dramaturgen und ist eine eigenständige Sektion des ensemble-netzwerks. Es versteht sich selbst als Thinktank für die Stadttheater der Zukunft, das dem Denken auch theaterpolitischen Aktivismus folgen lässt. Die Initiative tritt für Solidarität, Mitbestimmung und Teamarbeit ein, will sowohl die Strukturen der öffentlich geförderten Theaterinstitutionen als auch die konkreten Arbeitsbedingungen von Theaterschaffenden verbessern und wirkt als Beratungs- und Vernetzungsstelle. „Dramaturgie denkt Corona“ wurde durch das ensemble-netzwerk finanziell und infrastrukturell ermöglicht, Kooperationspartner ist die dramaturgische gesellschaft (dg).

www.ensemble-netzwerk.de/drnw


Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 05/2020.

Beatrice Schmucker (Illustrationen):
www.redhood.de
schmucker-kunst.redhood.de