Ein Perspektivwechsel tut fast immer gut. Noch dazu bietet die angloamerikanische Musikschriftstellerei meist einen bestens lesbaren, analytisch klaren Stil, fern aller ästhetischen Schwurbelei – so auch der arrivierte US-Musikkritiker Alex Ross. Deshalb also: kein Zurückschrecken vor 750 reinen Textseiten, vertieft durch 100 Seiten Anmerkungen und einem breit angelegten Register. Auch weil Gloria Buschor und Günter Kotzor gekonnt die nötige Fachsprache mit den ästhetischen Beschreibungen und Urteilen des versierten Autors übersetzen und mischen konnten.

Ross hat nicht die x-te Wagner-Interpretation verfasst, sondern den Horizont von Wagners Lebensende bis circa ins Jahr 2000 gespannt: Was hat der Komponist geschaffen und wie haben seine Werke, seine Schriftstellerei und seine oft ausufernden Äußerungen dann die Kunstwelt der Moderne beeinflusst? Also untersucht Ross den schon zu Lebzeiten einsetzenden „Wagnerismus“ in Lyrik, Prosa, Malerei, Theater, Tanz, Architektur und Film bis in unsere Zeit. Selbst musikalisch ausgebildet, wollte Ross wohl ein auch künstlerisch geformtes Buch schreiben. Folglich hat er seine 15 Kapitel „werk-nahe“ benannt, vom eröffnenden „Rheingold“ etwa über „Nibelheim“ zu „Venusberg“, „Nothung“ und „Siegfrieds Tod“ bis zu „Walkürenritt“. Dass am Ende „Parsifal“-nahe „Die Wunde“ steht, signalisiert auch, dass Ross kein Problem der vielfältigen Wirkungsgeschichte ausspart, vor allem nicht den für ihn klar zu Tage liegenden Antisemitismus Wagners samt breit belegter Nachwirkung: Da bleibt Ross ganz auf der Linie des ihn beratenden Hans Rudolf Vaget, britischer Kollegen wie Barry Millington und hierzulande Jens Malte Fischer. Hier und bei der vielfach umrissenen politischen Nachwirkung Wagners, seiner Instrumentalisierung und des Missbrauchs zeigt sich eine Leerstelle der Analyse: Der seit 1989 neue Werk-Horizonte eröffnende, mit „Richard Wagner in Deutschland“ die gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte grundlegend beleuchtende Udo Bermbach ist nur einmal kurz genannt, seine „Erdung“ Wagners in der Politikgeschichte zu wenig verarbeitet. Erfreulicherweise aber hebt Ross die Bedeutung und Stellung von George Bernard Shaws kleinem Wagner-Brevier von 1896 hervor. Nur wurde Shaws 1906 dann im Kaiserreich erscheinendes Büchlein kaum rezipiert: Auch nicht in Neu-Bayreuth ab 1951, sehr wohl in der DDR und im „Leipziger Ring“ von 1974-76 – und 1976 dann im Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ von Chéreau zunächst als „linker Skandal“.

Doch weit darüber hinaus eröffnet Ross tiefe Einblicke in den schon zu Lebzeiten Wagners in Frankreich entstehenden „Wagnerisme“ mit Mallarmés „le dieu Wagner“ hin zu W.H. Audens „absolute shit“ inmitten der englischen Wagner-Verehrung. Siegfrieds Trauermarsch wird bei Lenins Beerdigung gespielt und Zionist Theodor Herzl erholt sich bei „Tannhäuser“. Neu ist der – wenn auch etwas breit geratene – Blick auf Wagners Wirkung in Amerika. Speziell den auf dort blühende Sängerromane Willa Cather oder Sidney Lanier, auf Owen Wisters Wagnerianische Cowboys und Walt Whitman: Die farbige Literaturgröße W.E.B. du Bois versteht „Lohengrin als Utopie eines rassefreien Gemeinwesens“. Ross zeigt die nahezu weltweite literarische Breitenwirkung des Tristan-Akkords und der Liebeshandlung. Weit über Seiten zu Nietzsche, Oscar Wilde und Thomas Mann hinaus verfolgt der Autor Wagners heimatsuchenden „Holländer“ in Joyces „Ulysses“, in T.S. Eliots „The Waste Land“ und Virginia Woolfs „The Waves“ und zeigt Dutzende anderer Spuren auf. Differenziert wird die Problematik „Wagner-Hitler-Nationalsozialismus“ erörtert, etwa, dass Wagner in dieser Phase in Angloamerika zum „guten Deutschland“ gerechnet wurde – bis hin zu dem Faktum, dass Filmsequenzen der US-Bomberflotte der „Walkürenritt“ unterlegt ist – lange vor „Apocalyse Now“, in dem dann der „deutsche Wille zur Macht durch einen God-bless-America-Imperialismus ersetzt wurde“. Insgesamt bringt das Kapitel „Wagner im Film“ von Stummfilm-Musik bis zu Stanley Kubrick, Ken Russell und Coppalas Opus viel Informatives.

In der abschließenden „Wunde“ zum „Wagnerismus nach 1945“ bestätigt Ross die von Udo Bermbach schon ausgeführte Kontinuität von Neu-Bayreuth auf etlichen alten Schienen, ehe dann mit dem Engagement von DDR-Regisseuren und Chéreau wirklich die Neu-Interpretation begann. Das aus US-Sicht oft als „German Trash“ abqualifizierte „Regietheater“ würdigt Ross mit den Namen Herzog-Syberberg-Melchinger-Berghaus-Schlingensief-Alden-Konwitschny-Herheim etwas zu pauschal, doch dann mit Schluss-Urteil „die Mühe wert, weil es zu außergewöhnlichen Einsichten führen kann“. Das gelingt auch Alex Ross mit erhellenden Seiten zu „Wagner in der Bildenden Kunst“: von Henri Fantin-Latour, Odilon Redon, über Kandinsky, Franz Marc, die endlich entdeckte Hilma af Klint bis zu Anselm Kiefer. Passagen über Loïe Fuller und den Ausdruckstanz, über Isodora Duncan und d’Annunzio – all das rundet sich zu einer lohnenden Tour d’Horizon mit den „Besten und schlimmsten Eigenschaften des Menschen“, mit mal einem „Sieg der Kunst über die Wirklichkeit“, mal einem „Sieg der Wirklichkeit über die Kunst“ – also einer „Tragödie extremer Unvollkommenheit“ um Wagners Werk. Die Quintessenz seines enorm gehaltvollen Bandes hat Ross schon auf Seite 421 selbst formuliert: „Wagner bleibt das Monster im Herzen des modernen Labyrinths, dem man nicht entrinnen kann.“ 

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUM BUCH

Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“
907 Seiten, Rowohlt Verlag