Bochum / Ruhrtriennale (August 2021) Noch immer öffnet Olga Neuwirths „Bählamms Fest“ avantgardistische Horizonte
Kein Zweifel, das Werk hat seinen Ort gefunden. Die monumentale Industriearchitektur der Bochumer Jahrhunderthalle verbindet sich wie von selbst mit dem 1940 entstandenen Horrorszenario der britisch-mexikanischen Surrealistin Leonora Carrington, aus dem Elfriede Jelinek mit ausgesprochenem Sinn für Musikalität und szenischen Effekt ein Libretto als Steilvorlage für die Komposition der mit ihr befreundeten Olga Neuwirth destilliert hat. „Bählamms Fest“ wurde 1999 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt. Die Geschehen tragen sich in einem Haus auf einsamer Heide und seiner Umgebung zu, wo Mensch und Tier – selbst vorweihnachtlich – vor Kälte klirrende Beziehungen unterhalten. Als Alternative zum rohen Ehemann flüchtet sich Theodora in ein Verhältnis zu dessen Halbbruder Jeremy, einem Mischwesen aus Wolf und Mensch, das die keifende Schwiegermutter ausgerechnet mit dem beschränkten Haushund gezeugt hat. Der Geliebte entführt Theodora in Traumwelten wie dem nächtlichen „Fest der Lämmer“, reißt zwischendurch aber so manches Schaf, bis ihn Theodoras Angetrauter zur Strecke bringen kann. Final möchte sie dem Hingerafften ins Jenseits folgen, erhält aber von diesem den Auftrag zu fortgesetztem Erdendasein bei zugleich bewahrter Jugend. Widerborstig beschließt sie zu altern.
Neuwirths Partitur gibt sich zitatenfreudig bis hin zu Jagdhornsignalen. Markenzeichen der Komposition ist die unmerkliche Überführung von Vokal- und Orchesterpart in elektronische Klänge. Frappant zelebriert Neuwirth dieses elektroakustische Morphing am Übergleiten der Countertenorpartie des Mischwesens Jeremy ins Heulen eines Polarwolfs. Aus der Verwobenheit der menschlichen Stimme mit herkömmlichem Orchesterinstrumentarium und Elektronik ergibt sich als kompositorische Klimax der – auf freilich völlig neue Weise – melodiöse Zwiegesang von Chimäre und vernachlässigter Ehefrau. Soweit die Begebnisse es hergeben, erzählt das irische Regieduo Dead Centre stringent. Dennoch bleibt weiter Raum für das geheimnisvoll Unerklärliche. Nicht allein das „Fest der Lämmer“ kommt wie der Gegenentwurf zu einem Mysterienspiel daher. Wobei der Sinn für Skurrilität und Sarkasmus erhalten bleibt, den bereits das mitten auf die Heide gesetzte spießige Einfamilienhaus in Nina Wetzels Bühnenbild bezeugt. Innerhalb des Eigenheims gestatten Jack Phelans Videos verblüffende Schauplatzwechsel und perspektivische Verzerrungen.
Nicht mindere Meriten erwirbt sich die musikalische Umsetzung des intermedialen Werks. Sylvain Cambreling geht mit dem Ensemble Modern oft geradezu musikantisch und mit Sinn für ironische Spitzen zu Werk. Dirigent und Klangkörper verbinden sich mit der von José Miguel Fernandez und Manuel Poletti erzeugten Live-Elektronik zur Synthese. Andrew Watts lässt Jeremy verführerisch über kantable Linien gleiten. Theodora schmiegt sich bei Katrien Baerts vokal in die Fänge des Wolfsmenschen. Gloria Rehm spielt virtuos und leichthin mit den ironischen Koloraturgirlanden Elizabeths, der unvermittelt auftauchenden ersten Ehefrau des Hausrohlings.
Michael Kaminski
„Bählamms Fest“ (1999) // Musiktheater von Olga Neuwirth