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Karin Coper

Barockes Glück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Wenn die Staatskapelle im November traditionell auf Reisen geht, wird die Berliner Staatsoper zum Treffpunkt von Größen aus der Alte-Musik-Szene. Denn dann richtet sie die Barocktage aus, die 2021 im Zeichen Frankreichs stehen. Zur Eröffnungspremiere ist das Ensemble Le Concert d’Astrée aus Lille mit seiner Leiterin Emmanuelle Haïm angereist. Im Gepäck hat es die Oper „Idoménée“ von André Campra, einem hierzulande wenig Bekanntem. Doch im Paris des frühen 18. Jahrhunderts gehörte der 1660 in der Provence geborene Komponist zu den bedeutendsten Vertretern des Opéra-ballets und seine komödiantischen „Les fêtes vénitiennes“ waren 1710 der saisonale Publikumsrenner. Der kurz danach entstandene „Idoménée“ gehört zur Gattung der Tragédie en musique. Die Handlung kreist um den Kreterkönig Idoménée, der bei der Rückkehr aus dem Krieg Schiffsbruch erleidet, vom Meeresgott Neptun gerettet wird und ihm dafür den ersten Menschen, den er an Land trifft, opfern muss. Als dies sein Sohn Idamante ist, bittet er vergebens um Mitleid. Wahnsinnig geworden, tötet er den jungen Mann. Zurück bleiben zwei seelisch verletzte Frauen: die gefangene Trojanerin Ilione und ihre Rivalin Électre, beide in Idamante verliebt.

Ihre Traumata, emotionalen Verstörungen und Beziehungskonflikte will Àlex Ollé von der Truppe La Fura dels Baus in seiner zeitlosen Inszenierung sichtbar zu machen. Die beweglichen Plexiglaswände, mit denen Alfons Flores die Bühne ausgestattet hat, werden zu einem Spiegelbild der Gefühle. Videos, die Seestürme mit Ertrinkenden, düstere Schlossräume oder Feuersbrünste zeigen, visualisieren Träume und Erinnerungen der Figuren. Die Götter sind ihre Projektionen und deshalb identisch gekleidet. Idoménée findet seinen Gegenpart in Neptun, Électre in Venus und der personifizierten Eifersucht und an Ilione zerren Doppelgängerinnen mit Stricken als Symbol für ihre Zerrissenheit. Denn auch die Aktionen der energetischen Tanz-Compagnie Dantaz und des Chores sind Ausdruck vom Innenleben der Figuren.

Es sind teils starke Bilder, doch die wirkliche Kraft geht von der Musik aus. Affekte stimmlich ausloten, das kann die wunderbare Solistenschar: der noble Idoménée von Tassis Christoyannis, der feinstimmige Samuel Boden als Idamante und im Wechsel von Expressivität und Wohlklang Chiara Skerath als Ilione und Hélène Carpentier als Électre. Emmanuelle Haïm kennt das Stück genau und weiß Campras Stilmix aus französischen und italienischen Elementen zu verlebendigen. Mit ihren Händen modelliert sie ein Maximum an klanglichen Details und Farben, gibt dem Ensemble Impulse und atmet mit ihm.

Das musikalische Glück setzt sich drei Tage später beim Galakonzert zum 20-jährigen Bestehen von Le Concert d’Astrée fort. Auch Simon Rattle gibt sich die Ehre, doch es ist der Abend der Gründerin Emmanuelle Haïm, deren Vitalität auf ihre famosen Instrumentalisten und das erstrangige Gesangsdefilee überspringt. Umwerfend, in welche Basstiefen Andrea Mastroni dringt, mit welchem Furor Lea Desandre und Carlo Vistoli Koloraturen-Feuerwerke abbrennen oder Michael Spyres den stimmlichen Umfang seines Baritenors ausstellt. Natalie Dessay feiert ein exquisites Comeback und Sandrine Piau läutet das Finale mit einer berückend zelebrierten Händel-Arie ein. Die Zugabe: „Hallelujah“ – und danach frenetischer Beifall.

Karin Coper

„Idoménée“ (1712/1731) // Tragédie en musique von André Campra

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Kriegszirkus

Bonn / Theater Bonn (Oktober 2021)
Späte Gerechtigkeit für Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“

Bonn / Theater Bonn (Oktober 2021)
Späte Gerechtigkeit für Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“

Wie tröstlich, dass es Schutzengel gibt! In der Oper „Leonore 40/45“ heißt er Monsieur Emile und nur ihm ist das Happy End zwischen der Französin Yvette und dem Deutschen Albert zu verdanken. Denn die beiden, die sich 1941 bei einem Konzert mit Neuer Musik in Paris näherkommen, dürfen während der deutschen Besatzung eigentlich keine Beziehung haben. Doch Yvette – eine Nachfolgerin von Beethovens „Fidelio“ – kämpft allen politischen Widrigkeiten zum Trotz für ihre Liebe. Nur gegen das Tribunal, das die Hochzeit der beiden 1945 verhindern will, kommt sie nicht an. Was besagten Engel auf den Plan ruft, der die Inhumanität verdammt und zur Versöhnung aufruft. Denn: „Alles wendet sich zum Guten in der besten aller Welten.“

Als Opera semiseria bezeichneten Komponist Rolf Liebermann und Librettist Heinrich Strobel, beide Pioniere im Einsatz für moderne Musik, ihr 1952 in Basel uraufgeführtes, im Kern biografisches Werk, dessen ernstes Thema mit heiteren Einschüben aufgelockert wird. Auch Liebermann spielt in seiner Partitur lässig mit avantgardistischen Strömungen und baut dabei passend zum Geschehen Zitate quer durch die Musikgeschichte ein, etwa das „Fidelio“-Quartett oder ein Schnipsel aus Leoncavallos „Pagliacci“-Prolog.

Dieser Vielschichtigkeit wird Jürgen R. Weber in seiner Bonner Inszenierung in hohem Maße gerecht. Er lässt die Handlung realistisch in einem historisierten Ambiente – phantasievoll entworfen von Hank Irwin Kittel – ablaufen und stellt ihr als Kontrast eine Zirkuswelt gegenüber, bestehend aus einem Panoptikum von schrägen Artisten. Wie er das Kriegsgrauen mit schwarzem Humor verknüpft, ohne es zu bagatellisieren, ist meisterlich: Die französische Nationalfigur „Marianne“ kämpft gegen Soldaten mit Beethoven-Masken und Hakenkreuz-Armbinden, ein Verweis auf die Vereinnahmung des Komponisten durch die Nationalsozialisten; die Antipoden Hitler und Churchill erscheinen als übergroße Schießbudenfiguren; ein Totenkopf mit Clownsnase guckt in den Zuschauerraum. Beherrschend aber ist ein vom Schnürboden hängender riesiger Gemälderahmen, auf dessen Leinwand knallbunte Trickfilme projiziert werden. Der erste heißt „Circus Hitler – Welttournee“, der letzte mit der Jahreszahl 1945 „Circus Hitler ist unbekannt verzogen“. Eingeblendet wird auch mitunter das Orchester, das wie der Chor unsichtbar hinter der Bühne platziert ist. Der Klang leidet nicht darunter, denn Dirigent Daniel Johannes Mayr sorgt für kristalline Durchsicht und klare Strukturen. Barbara Senator singt mit lichtem, klarem Sopran eine ganz fabelhafte Yvette. Einen sympathischen Albert verkörpert der junge Santiago Sánchez, nur erklimmt der Tenor die Höhe noch nicht ganz mühelos. Rollendeckend ist die ältere Generation mit Susanne Blattert und Pavel Kudinov besetzt. Eine tolle Figur macht Joachim Goltz: Als schwarzgewandeter Engel verbindet er vokale Prägnanz mit Entertainer-Qualitäten.

Die Aufführungen, die im Nachkriegsdeutschland bis 1959 stattfanden, stießen aufgrund der Thematik auf Ablehnung beim Publikum. Jetzt aber ist die Zeit reif für „Leonore 40/45“. In Bonn wird sie stürmisch gefeiert. Auch wegen des ungewöhnlich informativen Programmhefts bleibt sie nachhaltig in Erinnerung. Ein mehr als vielversprechender Auftakt für das mehrjährige szenische und wissenschaftliche Rechercheprojekt „Fokus ’33“, auf dessen weiteren Fortgang man sehr gespannt sein darf.

Karin Coper

„Leonore 40/45“ (1952) // Opera semiseria von Rolf Liebermann

Infos und Hintergründe zu „Fokus ’33“ auf der Website des Theaters

Wahlkampf in Neukölln

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Es ist Wahljahr. In der Provinzstadt Hohenpfaffenberg-Siegertsbrunn kämpfen die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die Rechte Alina Deutschmann um das Bürgermeisterinnen-Amt. Zimperlich geht es da nicht zu, auch für kriminelle Aktionen sind sich die beiden nicht zu schade. Und die halbwüchsigen Töchter samt Anhang müssen mitmachen. Am Ende gewinnt eine Dritte, die strategisch gewiefte Wahlmanagerin von Alina. So in etwa könnte es sich demnächst in der Realität abspielen, wohl aber nicht ganz so überspitzt wie in Peter Lunds neuestem Musical „Eine Stimme für Deutschland“. Denn da entpuppt sich Alina als Exmann von Regula, dessen Neigung zum Tragen von Frauenkleidern ein Trennungsgrund war. Und das Happy End? Neues Familienglück zu viert statt Partei-Karriere.

Die jüngste Koproduktion zwischen dem Studiengang Musical/Show der UdK und der Neuköllner Oper Berlin, wo die überspitzte Farce Premiere feierte, strotzt vor politischer und gesellschaftlicher Aktualität, angereichert mit Diversität jeglicher Art, Identitätsfindung, sexueller Orientierung, Gendern und allem, was momentan so modisch ist. Mit leichter Hand, Biss und viel Witz fügt Lund alle Stränge zusammen und schafft zudem Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Jede und jeder kriegt ihr Fett weg, es gibt weder nur gute noch rein böse Charaktere.

In der schnell wandelbaren Kulisse von Ulrike Reinhard, die auch die Kostüme entworfen hat, setzt Lund als eigener Regisseur auf Tempo und genaues Timing. Joel Zupan präsentiert Alina als imposante deutsche Diva mit blondem Haarkranz. Hochgewachsen, kerzengerade beherrscht er die Bühne, ob in glamouröser Goldrobe oder im schicken Schwarzen. Als Gegenpol zu diesem Überweib zeigt Veronika de Vries als Regula die Seiten einer überforderten und gleichzeitig verbissenen Konkurrentin. Ihre Töchter, verkörpert von Mascha Volmershausen und Maria Joachimstaller, sind Energiebündel, die die männlichen Teenager mit ihrer geballten Mädchenpower in Schach halten. Soufjan Ibrahim als Gutmensch Albert und Fabian Sedlmeir als Adolf erspielen sich mit ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit viele Sympathien. Clarissa Gundlach als taffe Wahlmanagerin und Gwen Johansson als verletzliche lesbische Freundin Anuk komplettieren das Ensemble, das toll spielt, singt und auch in den von Cristina Perera choreografierten Tanzeinlagen überzeugt.

Große Themen brauchen große Musik. Die hat Thomas Zaufke komponiert: Seine melodisch eingängigen, effektvollen Songs, teils mit Bezug auf Klassiker von Bach bis Beethoven und bekannte Musicalvorgänger, sind eingebettet in einen Sound, der durch Synthesizer-Verstärkung Orchesterfülle imaginiert. Die kleine Band, von Hans-Peter Kirchberg souverän geleitet, hat hörbar ihr Vergnügen daran. „Entschuldige“ heißt ein Song, der das Wort als inflationäre Floskel entlarvt. Doch für das Musical braucht sich das Team nicht zu entschuldigen. Es ist beste Unterhaltung am Puls der Zeit.

Karin Coper

„Eine Stimme für Deutschland. Die musikalische Quittung“ (2021) // Musical von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text)

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Emanzipation der Dienstmädchen

Stephen Dodgson: „Margaret Catchpole“ & Louis Karchin: „Jane Eyre“

Stephen Dodgson: „Margaret Catchpole“ & Louis Karchin: „Jane Eyre“

Jane Eyre und Margaret Catchpole waren mutige Frauen mit ähnlichem Hintergrund, die sich aus Liebe über Konventionen hinwegsetzten. Wobei nur die zweite der Damen wirklich existierte. Aber Stoff für eine Oper bieten sie allemal beide, wie die Komponisten Stephen Dodgson und Louis Karchin in ihren sehr unterschiedlichen Vertonungen bewiesen haben.

Der Roman „Jane Eyre“, den die Schriftstellerin Charlotte Brontë 1847 unter männlichem Pseudonym veröffentlichte, trägt autobiographische Züge. Er erzählt von einer Gouvernante, die sich in den Hausherrn verliebt und ihn trotz gesellschaftlicher Konflikte heiratet. Fast zeitgleich erschien die Novelle „The History of Margaret Catchpole“ von Richard Cobbold. Auch sie handelt vom Schicksal eines Dienstmädchens, beruht aber auf deren historischen Wahrheiten – der Autor war der Sohn ihrer Arbeitgeberin. Die junge Frau stahl ein Pferd, wurde deshalb inhaftiert, floh aus dem Gefängnis, wurde aufgegriffen und nach Australien verbannt. Dort baute sie sich ein neues, geachtetes Leben auf. Beide Bücher waren im Viktorianischen Zeitalter ungemein populär. Doch während „Jane Eyre“ zum internationalen Klassiker wurde, erlangte Margaret Catchpole lediglich regionale Berühmtheit in ihrer Heimat Suffolk. Anlässlich ihres 200. Todestages 1979 kreierte der 2013 verstorbene Komponist Stephen Dodgson im Auftrag eines lokalen Kunstvereins die biographische Kammeroper „Margaret Catchpole: Two Worlds Apart“. Dodgson, dessen Musik sich generell durch ungewöhnliche Orchesterbesetzungen auszeichnet, benutzt diesmal elf Instrumente für aparte, filigrane Klangkombinationen, die den meist rezitativischen Gesang grundieren. Die Oper lebt vom Atmosphärischen, speziell durch die Integration von englischen Folksongs sowie von tonmalerischen Natur- und Landschaftsstimmungen. Nur: Mit drei Stunden ist sie deutlich zu lang geraten. Glücklicherweise kompensiert das große Ensemble um Kate Howden in der Titelpartie zusammen mit der von Julian Perkins geleiteten Instrumentalgruppe Perpetuo dieses Manko durch nicht nachlassende Intensität.

Im Gegensatz zu „Margaret Catchpole“ fand „Jane Eyre“ nicht nur mehrfach den Weg auf die Leinwand, sondern auch auf die Musiktheaterbühne. Die jüngste Vertonung – sie wurde 2016 in New York uraufgeführt – stammt vom amerikanischen Komponisten Louis Karchin, Jahrgang 1951. Seine Oper hält sich nahe an die Vorlage und transformiert sie geschickt in effektvolle Theatermusik. Die Tonsprache ist gemäßigt modern, es gibt traditionelle Arien und Duette, dazu Gesellschaftsbilder im Parlando. Höhepunkte sind die leidenschaftlichen Liebesszenen, insbesondere das Finale, das sich in üppigen Harmonien steigert, als seien Spätromantiker wie Korngold zurückgekehrt. Jennifer Zetlan singt die Jane Eyre anrührend und mit unerschöpflichen Sopranreserven, dabei vorbildlich artikulierend. Auch Ryan MacPherson ist ein Rochester von Format. Mit Inbrunst und ohne Forcieren setzt er seinen heldischen Tenor ein. Hinzu kommen sieben Solistinnen und Solisten, die sich in jeweils mehreren Partien bewähren. Am Pult des auf zeitgenössische Musik spezialisierten Orchestra of the League of Composers steht der Komponist selbst. Er ist naturgemäß der beste Anwalt für seine Partitur, deren Vorzüge er mit merklichem Engagement zur Geltung bringt.

Karin Coper

INFOS ZU DEN CDs

Stephen Dodgson: „Margaret Catchpole“ (1979)
Howden, Wallace, Morris, Ollerenshaw u.a.
Perpetuo – Julian Perkins
3 CDs, Naxos


Louis Karchin: „Jane Eyre“ (2016)
Zetlan, MacPherson, Meglioranza, Thompson u.a.
Orchestra of the League of Composers – Louis Karchin
2 CDs, Naxos

Musikalische Träume in Tahiti

Reynaldo Hahn: „L'île du rêve“

Reynaldo Hahn: „L'île du rêve“

Der 1874 in Caracas geborene Reynaldo Hahn war ein vielfach begabtes Wunderkind. Er hatte eine schöne Tenorstimme, spielte gewandt Klavier und komponierte bereits mit 14 Jahren „Si mes vers avaient des ailes“, das bis heute bekannteste von seinen über 100 Liedern. Als eigener Interpret dieser Melodien avancierte er zum gern gesehenen Gast in den Pariser Salons der Belle Époque – im größeren Rahmen populär machten ihn seine sechs Operetten. Hahns Bühnenerstling „L’île du rêve“, der dank der Forschungsarbeit des Palazzetto Bru Zane erstmals auf CD vorliegt, entstand während des Studiums bei Massenet, durch dessen Protektion der nur einstündige Dreiakter 1898 sogar an der Pariser Opéra Comique herauskam. Tahiti, jene „Insel der Träume“, ist Schauplatz einer Romanze zwischen einem französischen Marineoffizier und einer jungen Einheimischen. Dass die Liebe nicht ewig währt, ist absehbar, doch endet sie im Gegensatz zu den berühmteren Opern „Madame Butterfly“ oder „Lakmé“ – ebenfalls nach autobiographisch gefärbter Vorlage des schriftstellernden französischen Marineoffiziers Pierre Loti – nicht tödlich. „Eine polynesische Idylle“, so der Untertitel, beschreibt auch den Charakter der Musik. Nichts Auftrumpfendes hat sie an sich, der Gesang ist niemals dramatisch aufwallend. Ihr Reiz liegt in der Subtilität der Harmonien, dem ruhigen Fluss der Melodien und ihren zarten Exotismen. Dass Hervé Niquet ein Pultmagier ist, hat er schon oft bewiesen und so entlockt er auch diesmal dem Münchner Rundfunkorchester die allerfeinsten Klänge. Die erlesene Besetzung wird von Hélène Guilmette und Cyrille Dubois angeführt. Betörend sind die Vokalgirlanden der Sopranistin, exquisit ist die lyrische Eleganz des Tenors. Mithin: ein musikalischer Traum!

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Reynaldo Hahn: „L’île du rêve“ (1898)
Guilmette, Dubois, Morel, Sargsyan, Gombert, Dolié
Münchner Rundfunkorchester, Chœur du Concert Spirituel – Hervé Niquet
1 CD, Bru Zane

Musiktheatralisches Kleinod

Johann Wolfgang von Goethe, Philipp Christoph Kayser: „Scherz, List und Rache“

Johann Wolfgang von Goethe, Philipp Christoph Kayser: „Scherz, List und Rache“

Johann Wolfgang von Goethe war nicht nur der geniale Sturm- und Drang-Dichter, sondern hatte – was weniger bekannt ist – auch ein Faible für gefällige Opernkunst. Diverse Singspiel-Libretti stammen aus seiner Feder, eines von ihnen das mehrfach vertonte „Scherz, List und Rache“. Entstanden um 1785 in Kooperation mit seinem Jugendfreund, dem heute vergessenen Komponisten Philipp Christoph Kayser, kam eine Aufführung des Stücks allerdings zunächst nicht zustande. Erst 1993 erblickte das Werk in Weimar „das Licht der Welt“ – gekürzt und in einer Fassung für Kammerorchester. Am ursprünglichen Original orientierte sich hingegen Dirigent Werner Ehrhardt, der die ursprünglich fast vierstündige Oper 2019 in einer kompatiblen Form in Leverkusen halbszenisch herausbrachte. Nun ist sie auch auf CD erhältlich und entpuppt sich als musiktheatralisches Vergnügen. Der Plot in Kürze: Das Ehepaar Scapine und Scapin wird von einem Doktor um das Erbe einer Tante gebracht und holt es sich mit drastischen Mitteln – ein vorgetäuschter Tod, Geisterspuk und Erpressung – wieder zurück. Diese Typenkomödie steckt nicht nur voller Witz, sie verblüfft auch durch die Qualität von Kaysers Musik. Sämtliche Arien und Ensembles – mal großformatig durchkomponiert, mal liedhaft schlicht – sind durch formal vielfältige Rezitative verbunden, die Instrumentation mit vielen solistischen Passagen besticht durch Originalität. Werner Ehrhardts spürbare Begeisterung für diese Oper überträgt sich auf das zupackend und dynamisch spielende Orchester „l’arte del mondo“. Hinzu gesellt sich ein Vokaltrio von singschauspielerischer Klasse: Annika Boos als Scapine, Cornel Frey als Scapin und Florian Götz als Doktor vereinen stimmliche Frische und gestalterische Lebendigkeit mit vorbildlicher Artikulation.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Johann Wolfgang von Goethe, Philipp Christoph Kayser: „Scherz, List und Rache“ (um 1785)
Boos, Frey, Götz
l’arte del mondo – Werner Ehrhardt
2 CDs, deutsche harmonia mundi

Zweimal „Belcantissimo“

Gioachino Rossini: „Matilde di Shabran“ & Gaetano Donizetti: „Il Paria“

Gioachino Rossini: „Matilde di Shabran“ & Gaetano Donizetti: „Il Paria“

„Die Frauen sind geboren, um zu siegen und zu herrschen.“ So die utopische und nicht ganz ernst zu nehmende Quintessenz der Titelheldin am Ende von Gioachino Rossinis 1821 für Rom komponierter Semiseria „Matilde di Shabran“. Sie hat den Fürsten Corradino mit Witz und Charme und unter Überwindung von mancherlei Gefahren von seinem Hass auf alles Weibliche bekehrt. Verzweigt ist die Handlung und mit abstruser Dramatik überfrachtet, doch die Musik dazu ist köstlich. Vor allem die Ketten-Ensembles funkeln und sprudeln, gerade auch im Mitschnitt vom Wildbader Belcanto-Festival 2019. Die Gesangscrew bietet überschäumende Vokalakrobatik und Zungenfertigkeit in den irrwitzig schnellen Passagen und was Dirigent José Miguel Pérez-Sierra aus dem Krakauer Passionart Orchestra an Drive, klug aufgebauter Dynamik und Feinabstimmung herausholt, ist einfach mitreißend. Als Corradino tritt Michele Angelini in die Fußstapfen von Juan Diego Flórez, der mit dieser Rolle 1996 in Pesaro den Grundstein für seine Karriere legte. Angelini singt die monströse Partie mit ähnlich verblüffender Agilität, Tonschönheit und müheloser Attacke der Spitzennoten. Die Matilde von Sara Blanch sprüht vor Keckheit und bezaubert mit makellosem Ziergesang, der das Fürstenherz ohne Zweifel erweichen muss. Victoria Yarovaya in der Hosenrolle des Ritters Edoardo beglückt mit Mezzosamt, das tiefstimmige Männerquartett bietet eine wohldosierte Mischung aus Buffokomik und kantablem Gesang. Ein dreistündiges Rossini-Fest!

Während in Wildbad die Rossini-Pflege im Zentrum steht, ist Gaetano Donizetti einer der Hausgötter beim Label Opera Rara. Für die jüngste Ausgrabung hat man sich dessen Melodram „Il Paria“ vorgenommen und kritisch ediert auf CD gebannt. Es erzählt von der verbotenen Liebe der indischen Priesterin Neala zum gesellschaftlich ausgegrenzten „Paria“ („Unberührbaren“) Idamore. Als man dessen Herkunft entdeckt, wird er mit seinem Vater, der ihn zur Flucht bewegen wollte, zum Tode verurteilt. Neala bleibt gebrochen zurück. „Il Paria“ war bei der Uraufführung 1829 kein Erfolg, trotz Mitwirkung dreier Gesangsstars dieser Zeit. Allerdings sind demzufolge die Vokalpartien sehr anspruchsvoll geraten. Besonders der Tenor Idamore muss ständig höchste Lagen erklimmen und dort auch noch dynamische Finessen und Ornamente aller Art bewältigen. Wie René Barbera diese Anforderungen meistert, ist staunenswert. Er phrasiert stilgerecht, durchmisst die halsbrecherischen Fiorituren gewandt und peilt die oberen Töne sicher an. Auch Albina Shagimuratova als Neala zeigt alle Vorzüge ihres Koloratursoprans. Gesponnene Kantilenen, virtuose Verzierungen und überstrahlende Topnoten machen sie zu einer überzeugenden Interpretin. Als Zarete punktet Misha Kiria nicht nur mit gewichtigem Bariton, sondern auch mit psychologischer Differenziertheit, insbesondere im großen Solo des zweiten Akts. Dirigent Sir Mark Elder spornt die Britten Sinfonia zu einem stilistisch gelungenen Opernromantik-Debüt und den Opera Rara Chor zur schon gewohnten Klangkultur an.

Karin Coper

INFOS ZU DEN CDs

Gioachino Rossini: „Matilde di Shabran“ (1821)
Angelini, Blanch, Yarovaya u.a.
Passionart Orchestra, Górecki Chamber Choir – José Miguel Pérez-Sierra
3 CDs, Naxos


Gaetano Donizetti: „Il Paria“ (1829)
Shagimuratova, Barbera, Kiria u.a.
Britten Sonfonia, Opera Rara Chor – Sir Mark Elder
2 CDs, Opera Rara

Musikalische Blumensträuße

Melody Louledjian (Sopran) und Antoine Palloc (Piano): „Fleurs“

Melody Louledjian (Sopran) und Antoine Palloc (Piano): „Fleurs“

Mit gleich zwei Rezensionen zur Neuerscheinung „Fleurs“ sehnen wir uns den Frühling im wahrsten Sinne des Wortes „doppelt“ herbei …

Bis die ersten Blumen wachsen, kann es noch ein bisschen dauern. Doch es gibt Vorboten, die man sich ins Haus holen kann: beispielsweise das musikalische Bouquet aus Blüten und Pflanzen, das die Sopranistin Melody Louledjian und der Pianist Antoine Palloc auf ihrer gerade erschienenen CD „Fleurs“ zusammengestellt haben. Im Zentrum steht der Zyklus „Les Chantefleurs“ von Jean Wiener (1896-1982), einem der bekanntesten französischen Filmkomponisten mit Ausflügen ins klassische Fach. „Les Chantefleurs“ umfasst 50 Miniaturen, die alle nur etwa eine Minute lang dauern. Doch welchen Charme und vielfältigen Duft versprühen diese Petitessen! Da ist der jazzige Klatschmohn oder die in eine sanfte Melodie gehüllte Rose; die Pfingstrose hat den Blues, die Butterblume kommt direkt aus dem Cabaret, der Jasmin aus Spanien und die Tulpe präsentiert sich pfiffig als Operetten-Couplet. Als Ergänzung gibt es Darius Milhauds siebenteilige Blumenbeschreibungen „Catalogue de fleurs“ und einige Einzellieder mit dem populären Chanson „L’Âme des roses“ zum Abschluss. Melody Louledjian singt alle Nummern ganz exquisit, mit quellklarer Stimme, feinsten Abstufungen und einer gewissen Nonchalance. Die Klavierbegleitung quer durch den Garten der Formen und Stile steuert Antoine Palloc kongenial bei. Wie liebevoll das Album gestaltet ist, zeigt sich auch am Booklet, das zahlreiche farbige Pflanzenzeichnungen schmücken. Insofern ist „Fleurs“ ein vokal-visueller Genuss, der die Wartezeit auf den Frühling wohltuend überbrückt.

Karin Coper


Melody – gibt es einen schöneren Namen für eine Sängerin? Er bewirkt mit seiner Assoziation zur Musik und der sich aus ihr entwickelnden emotionalen Harmonie unmittelbar positive Gefühle. Passend dazu scheint der Titel ihrer CD gewählt, die sie – einfühlsam begleitet von Antoine Palloc – im vergangenen Jahr veröffentlichte.

Der Rezensent erlebte Melody erstmals bei ihren Auftritten als Charlotte in Kreneks „Der Diktator“ und in Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“, die im Dezember 2019 im Auditorio Adán Martín von Santa Cruz de Tenerife aufgeführt wurden. Schon damals beeindruckte die junge Künstlerin mit einem feinen Sopran bei hervorragender Diktion, technisch perfekt geführt und vielfältig in seiner emotionalen Facettierung. Rollen wie die Violetta in „La traviata“ und die Titelpartie in „Lucia di Lammermoor“ verkörperte sie ebenfalls bereits erfolgreich.

Louledjian beweist auf „Fleurs“ ihre stimmliche Vielseitigkeit mit lyrischer Leichtigkeit und Verspieltheit. Zunächst hören wir ein wahres Bouquet von allen möglichen Blumen – über 50 an der Zahl der Komposition von Jean Wiener mit dem Titel „Les Chantefleurs“. Es geht von der Begonie über die Geranie, Rose, Iris, Hyazinthe, Hortensie, den Lavendel und viele mehr bis zum Ruf des Kuckucks, dem Melody mit betörenden Tönen eine menschliche Stimme verleiht. Manchmal meint man die Zartheit oder Farbenpracht der jeweiligen Blume stimmlich zu vernehmen. Mit offenbarer Freude an vokaler Nuancierung setzt Melody – nomen est omen – mit perfektem Tonansatz, beeindruckender Intonation und Klangschönheit, bisweilen auch Sinnlichkeit diesen großen Blumenstrauß mit all seinen Facetten in lebendige Tonsprache um.

Es folgen diesem Hauptblock noch sieben Nummern aus dem „Catalogue de Fleurs“ von Darius Milhaud, der Titel „Les Fleurs“ von Erik Satie, die „Nature morte“ von Arthur Honegger sowie „Deux Ancolies“ von Lili Boulanger und „L’Âme des roses“ von René de Buxeuil. Auch hier zeigt Melody bei etwas anderen musikalischen Ansprüchen ihre stimmliche Charakterisierungskunst. Eine CD wie für den Frühling aufgenommen!

Klaus Billand

INFOS ZUR CD

Melody Louledjian (Sopran) und Antoine Palloc (Piano): „Fleurs“
1 CD, Aparté