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Musiktheater

Manege frei!

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Alban Bergs „Lulu“ umweht die besondere Aura des Unvollendeten. Nach Friedrich Cerhas Komplettierung des dritten Aktes 1979 ist die Entscheidung für die zweiaktige Fassung ein Statement. Deren Gesamtbearbeitung für Soli und Kammerorchester durch Eberhard Kloke kommt obendrein den pandemiebedingten Restriktionen entgegen. In der Regie von Axel Vornam und unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Elias Grandy war diese Fassung jetzt als einmalige Streaming-Premiere zu erleben und wurde als digitale Preview für die noch nicht zu terminierende analoge Premiere deklariert.

Für den Bildschirm wechselt die Kameraführung in angemessener Frequenz zwischen der Totale des Einheitsbühnenbildes und den Naheinstellungen der Protagonisten. Das Manegen-artige Halbrund von Tom Muschs Bühne mit vier Drehtürelementen erweist sich als praktisch und im Handumdrehen wandelbar für alle Schauplätze, angereichert mit einem roten Riesensofa und Ausschnitten aus dem Porträt Lulus. Manchmal schaut einer der Protagonisten von oben über den Rand auf die Szene. Ganz so, als würde er in einem Terrarium Laborratten beobachten. Die fantasievoll ausschweifenden und bei passender Gelegenheit jede Menge nackte Haut zeigenden Kostüme von Cornelia Kraske verfremden Lulu und die Männer (und die Frau) um sie herum tatsächlich ein Stück in Richtung einer leichten Stilisierung.

Insgesamt erzählt Vornam die Geschichte unaufgeregt gradlinig. Das ermöglicht insbesondere der betörend lyrischen Jenifer Lary, alle Facetten einer schillernden Lulu auszuspielen. Sie ist kapriziös, offensiv verführerisch, skrupellos und dennoch einsam. Der sonore James Homann ist als Dr. Schön der sozusagen seriöse Fels in den Brandungen ihres bewegten Lebens, während Corby Welch dieser Frau als Alwa nicht mal ansatzweise etwas entgegensetzen könnte. Auf der anderen Seite nützen João Terleira als Maler und Ipča Ramanović als Tierbändiger offensiv zur Schau gestellte virile Attraktivität ebenso wenig, wie Gräfin Geschwitz die hochkonzentrierte Präsenz der Andersartigkeit, mit der Zlata Khershberg sie ausstattet. Lulu scheitert schließlich an sich selbst und an den Erwartungen, die die Männer, die die Welt beherrschen, an eigenen verkorksten Frauenbildern auf sie projizieren.

Am Ende entschwindet dieses (Alb-)Traumbild Frau fast wie unbemerkt. Und ein spannender Opernabend aus einem Guss am Bildschirm macht Lust aufs analoge Original im Theater Heidelberg. 

Roberto Becker

„Lulu“ (1937) // Opernfragment von Alban Berg; zweiaktige Fassung in einer Gesamtbearbeitung von Eberhard Kloke für Soli und Kammerorchester

Operngondel auf Kurssuche

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Nach dem lauten Blätterrauschen rund um die Demission von Operndirektor Michael Fichtenholz soll sie im Idealfall für frische Schlagzeilen sorgen, die neue Produktion von „Les contes d’Hoffmann“ am Opernhaus Zürich. Der ebenfalls in Bedrängnis geratene Haus-Chef Andreas Homoki bringt als Regisseur das Opus summum des Kölner Parisers heraus, nur elf Jahre nach der erfolgreichen letzten Zürcher Premiere von Offenbachs einhundertzweiter (!) und letzter Oper. Nach dem Premierenstream folgen, Stand Redaktionsschluss, vier „echte“ Vorstellungen im Mai. Er interessiere sich für den Spaß in so vielen Situationen, die sich der ausgebuffte Theaterprofi Offenbach da wirkungsvoll erdacht habe, erklärt Homoki; der Faust’sche Theaterdirektor hätte sofort zugestimmt. Doch diese Spaß-Situationen stehen dann zwei Akte lang so schablonenhaft verhandelt, lose und steif nebeneinander, dass die Nummernoper zur Revue wird. Der fehlt freilich die Showtreppe: Ein großes Fass und das erhöhte, zur berühmten Barcarole unfehlbar schaukelnde Bühnentrapez in der Mitte (Wolfgang Gussmann) sind karge Bühnenbildkost und können eine stringente Entwicklung von Figuren und Plot nicht ersetzen. Auch die Kostüme strahlen jedenfalls am Bildschirm mehr Fundus aus denn Grand opéra.

Dass der Abend dann doch Fahrt aufnimmt, liegt nicht nur an der konzentrierter werdenden Personenführung, sondern hauptsächlich an den Sängerinnen und Sängern, angeführt vom albanischen Tenor Saimir Pirgu, der Stimmreserven wie auch spielerischen Einsatz klug steigert und sein Hoffmann-Rollendebüt mit Strahlkraft und Selbstbewusstsein meistert. Höchst unterschiedlich und dabei sämtlich beeindruckend: seine drei unglücklichen Liebschaften. Die Amerikanerin Katrina Galka wirft sich bei ihrem Haus- und Rollendebüt als hüftsteife und höhensichere Puppe Olympia furchtlos in die Koloraturen; mit spürbarer Lust am Spielen verleiht Lauren Fagan ihrer Kurtisane Giulietta eine robuste Verführungskraft, passgenau für den besoffenen Dichter; und die wunderbare Ekaterina Bakanova als Antonia (ein Clara-Schumann-Verschnitt am Flügel) bringt Schmelz in der Stimme und wohltuend atmende agogische Freiheit mit. In ihren Vierfachrollen setzen Andrew Foster-Williams mit Dapertuttos Spiegelarie und Spencer Lang als herrlich komischer Diener Frantz ihre Glanzlichter. Herausragend mit über den ganzen Umfang samtigem und dabei stets strahlendem Mezzo und einer schauspielerischen Leistung, die alle anderen in den Schatten stellt: Alexandra Kadurina als Muse/Nicklausse. Dirigent Antonio Fogliani führt sein Sängerensemble per Übertragung aus dem Probenraum am Kreuzplatz sicher und formt ebendort einen erfrischend schlanken Orchesterklang, die Philharmonia Zürich ist im Antonia-Akt am besten in Form (Holzbläser, Solo-Oboe!). Und Regisseur Homoki findet nach zähem Anfang zu einem überraschenden, aber sicher nicht zufälligen Ende: Die Sängerin Stella begegnet dem Künstlerkollegen Hoffmann und dem Machtmenschen Lindorf plötzlich selbstbestimmt und auf Augenhöhe … Ein Opernhaus-Omen?

Stephan Knies

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand bis Ende April kostenfrei über die Website des Theaters abrufbar.

„Let the Sunshine In“ statt Social Distancing

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Unverhofft kommt viel zu selten: Das „American Tribal Love-Rock Musical“ „Hair“ begehrt im Lockdown auf und geht in Saarbrücken auf Anti-Corona-Kurs. Während Deutschlands Theater immer wieder vergeblich die Segel setzen, über die Weite des kulturleeren Ozeans schippern und eine rettende Insel suchen, bekommt das Saarländische Staatstheater unverhofft Rückenwind. Das Dreispartenhaus profitiert von der Teststrategie des saarländischen Ministerpräsidenten: Das Bundesland ist Modellregion und darf, unter strengen Auflagen, seine Bühnen bespielen. Fast schon gespenstisch, wenn in einem Theaterraum, der sonst 980 Zuschauer fasst, nur 220 Maskierte in großem Abstand zueinander sitzen. Da ist die Infektionsgefahr ebenso gering, wie das Stimmungsbarometer hoch sein kann. Sollte man meinen. „Hard work“ für das Ensemble um Regisseur Maximilian von Mayenburg, dessen Inszenierung im Oktober 2020, also schon zu Corona-Zeiten, fulminant Premiere feierte.

Doch mit antiviraler Sing-, Tanz- und Musizierwut ist die Beklemmung schnell verflogen, jeglicher Mindestabstand sinnbildlich überwunden, sodass sich ein unwiderstehlicher Flow ausbreiten kann. Ein wahrlich haariges Musicalevent: Kultige Freaks im Flower-Power-Styling (Ralph Zeger) machen mit Stimmgewalt in solistischen und kollektiven Gesangshöchstleistungen bei nicht weniger überzeugenden Choreographien von Eleonora Talamini dem Publikum das Aussteigen und Abheben leicht. Top Move, top Groove – wirkungsvoller als AstraZeneca. Der bunte Testballon steigt im Theaterhimmel hoch hinauf und weckt Lust auf mehr. Die Band, grandios mit „infizierendem“ Drive unter der musikalischen Leitung von Achim Schneider, agiert hinter Plexiglas und thront auf einem Konstrukt aus Europaletten mittig auf der Drehbühne im ansonsten eher spartanisch, aber sehr geschmackvoll gestalteten Bühnenbild (Tanja Hofmann). Das „Entfliehen durch Drogen“ der 68er erfährt in der Corona-Zeit ein „Entfliehen durch Toben“. Toben im Sinne einer friedlichen Revolte aus dem kulturellen Lockdown – und das mit satter Ladung erstklassiger Theaterkunst. Aufgestaute Spielfreude bricht sich in fast ekstatischer Manier Bahn. Große Leidenschaft trifft auf enorme Professionalität und wird, zur Bestleistung gebündelt, dem Theater-hungrigen Publikum dargeboten.

Während also damals mit Love & Peace gegen den Vietnam-Krieg und für uneingeschränkten Pazifismus demonstriert wurde, zieht von Mayenburgs Inszenierung ganz bewusst gegen Corona ins Feld und macht „Let the Sunshine In“ zur antiviralen Hymne. Hits wie „Aquarius“, „Hair“ oder „Ain’t Got No“ werden Gegenpol zum Social Distancing. Zugegeben: Trump, Wieler, Abstandsregeln, Masken oder Schutzanzüge sind das Letzte, was man dieser Tage im Theater sehen will. Von Mayenburg aber wagt und gewinnt: Er stellt Ein- und Ausdrücke der „neuen Normalität“ in den Dienst der Kreativität, indem er sie inszenatorisch als Steilvorlage für die Wirkkraft der Songs von Galt MacDermot nutzt und somit eine zeitgemäße Rahmenhandlung schafft. Ein erfolggekröntes Wagnis, ist doch der unsichtbare Feind, die Covid-Heimsuchung, allgegenwärtig. Warum sie also nicht gleich als wirksames (Stil-)Mittel in den Dienst der Kunst stellen? Tosender, nicht enden wollender Schlussapplaus mit Standing (und in den vielen Zugaben) „dancing“ Ovations. Der Abschied – fast schmerzlich.

Kirsten Benekam

„Hair“ (1968) // The American Tribal Love-Rock Musical (Musik: Galt MacDermot)

In Schönheit sterben

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Es dauert nicht lange und Wehmut schleicht sich ein, während man im heimischen Wohnzimmer den Stream von Vincenzo Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ verfolgt und sich doch eigentlich ins Linzer Musiktheater sehnt. Aber in Zeiten wie diesen muss man genießen, was möglich ist – und Genuss gibt es an diesem Abend reichlich. Die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia ist sattsam bekannt. Ihr Unglück ist die Folge eines erbitterten Streits zweier Familien in Verona, die neben persönlichen Befindlichkeiten auch noch unterschiedlichen politischen Lagern angehören, den Ghibellinen und Guelfen. Kriegerisch gebärden sich Cappelio, Clanchef der Capuleti, und seine Getreuen – insbesondere Tebaldo, der ein Auge auf die Tochter des Bosses geworfen hat. Dass Julia (bei Bellini Giulietta) ganz andere Pläne hat, weiß er noch nicht.

Regisseur Gregor Horres siedelt die auf Krawall gebürstete Familie vor einem anthrazitfarbenen, sich drehenden Betonquader an, der als Projektionsfläche für ein Video, eine Cocktailbar, ein Schlafzimmer und schließlich eine Grabkammer dient. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross unterstreicht die erstarrten Ansichten dieser Männergesellschaft, die, wenn gar nichts geht, nach Rache und Krieg schreit. Rache, weil Romeo, Sohn der feindlichen Montecchi, den männlichen Nachkommen der Capuleti in einer Schlacht erschlug. Tebaldo kämpft an vorderster Reihe als Rächer – vor allem, weil er als Preis seines Erfolgs die Heirat mit Giulietta erwarten darf. Tenor Joshua Whitener gibt den aalglatten Karrieremann, schafft es aber mit seiner Stimme, seiner Liebe zu Giulietta große Glaubhaftigkeit zu verleihen.

So startet die Oper ziemlich fulminant mit einem hochmotivierten Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Enrico Calesso. Richtig Fahrt nimmt der Abend mit dem Auftritt des Liebespaares auf. Bellinis Romeo ist eine Partie für einen Mezzosopran. Dadurch gestalten sich die gesanglichen Begegnungen der verzweifelt Liebenden nicht nur als eine Kette von Koloraturen, sondern auch als ein feinmelodisches Gewebe an Akzenten und Färbungen zwischen Sopran und Alt. Bellini hat sich mit seiner Komposition bereits vom reinen Schöngesang des Barocks entfernt, die traurigsten Botschaften kommen auf romantischen Wellen von lebhaften Dur-Tonarten daher und nehmen den Zuhörer völlig gefangen. Für dieses wohlige Gefühl sind in erster Linie die beiden Sängerinnen von Romeo und Giulietta verantwortlich. Anna Alàs i Jové gibt einen hingebungsvollen Liebhaber und lässt ihre weiche Stimme leuchten. Ilona Revolskaya füllt ihre Rolle nicht nur mit schwebenden, scheinbar leicht hingeworfenen Tönen aus, sondern zeigt auch glaubhaft, dass sie mehr von der Liebe begreift als ihr jugendlich stürmischer Angebeteter. Das unerfreuliche Ende der Oper ist nicht aufzuhalten, es wirken sowohl der von Lorenzo (Michael Wagner) vorbereitete Trank für den Scheintod als auch das Gift. Der finale Selbstmord erfolgt modern mit einer Pistole. Alle unglücklichen Protagonisten müssen ihr Leben lassen, nur der verbitterte Vater (Dominik Nekel) bleibt gebrochen zurück. Ein gelungener Abend, der in guter Erinnerung bleibt.

Susanne Dressler

„I Capuleti e i Montecchi“ (1830) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

Die Inszenierung ist als Stream bis 8. Mai 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“)

Schuld und Erkenntnis

Münster / Theater im Pumpenhaus (April 2021)
„Ødipus REC.“ im 21. Jahrhundert

Münster / Theater im Pumpenhaus (April 2021)
„Ødipus REC.“ im 21. Jahrhundert

Ist das ein Hörspiel, ein Schauspiel, eine Oper, eine Performance oder eine musikalische Rauminstallation? Diese Frage wirft der Livestream von „Ødipus REC.“ aus dem Pumpenhaus Münster auf. Am Schluss wird klar: Es ist alles zusammen. Das innovative Ensemble „The Navidsons“ setzt mit dieser Produktion seine Suche nach einer neuen Form des Musiktheaters fort. Diesmal hat das Ensemble eine Auseinandersetzung mit dem berühmten Ödipus-Stoff entwickelt, die tief beeindruckt. Besonders bemerkenswert: Man sieht nicht eine lediglich abgefilmte Bühneninszenierung, sondern eine fernsehgerecht aufbereitete Produktion.

Grundlage hierzu ist die Textcollage von Lisa Danulat. Die preisgekrönte Autorin konzentriert sich auf die dramatische Begegnung des unwissenden Königs Ödipus mit dem wissenden Seher Theresias. Für ihn nutzt sie unveränderte Ausschnitte der Hölderlin-Übersetzung des antiken Sophokles-Dramas. Diese setzt sie in Dialog zu ihrem eigenen Ödipus-Text. Dabei transferiert sie die im antiken Drama ausweglose Schuld-Verstrickung des Menschen durch Götterwillen in die medial-digitale Umzingelung des modernen Menschen, aus der er nicht entrinnen kann. Auch Querverweise auf den ABBA-Song „Waterloo“ und Michael Jacksons „Heal the World“ bezieht sie mit ein. Und die Mordtat des Ödipus verbindet sie mit einer surreal getexteten Unfallszene zwischen einem Hirsch und einem Auto. Das sind nur wenige Eindrücke der vielen assoziativen Bilder der Autorin. Beide Textteile sind wortgewaltig, bildstark und bedeutungsschwer.

Eine Herausforderung an die szenische Umsetzung. Die besteht das Ensemble in der klugen Regie von Till Wyler von Ballmoos ausgezeichnet. Vor allen fasziniert die Bühnenkunst der beiden herausragenden Hauptdarsteller, des Schauspielers Thomas Douglas (König Ödipus) und des Countertenors Michael Taylor (Seher Theresias). Douglas treibt mit nicht nachlassender Intensität in Sprache und Spiel seinen Ödipus mit teilweise explosiver Dramatik auf den Zusammenbruch angesichts der niederschmetternden Wahrheit hin. Und der wunderbar singende Countertenor erfüllt die melismatisch auskomponierten Hölderlin-Verse mit verzweifeltem und tragischem Ton, der unter die Haut geht. Leider auf Kosten der Verständlichkeit seiner Sprache. So bleibt die inhaltliche Bedeutung des Gesangs über weite Strecken unklar. Hier wäre eine Untertitelung dringend anzuraten.

Mit der Installation runder Spiegel bietet Ausstatter Tassilo Tesche ein einfaches, aber wirkungsvolles Gegenüber für die langen Selbstreflexionen, mit denen sich Ödipus zu Beginn in einem atemberaubend spannungsreichen Monolog auf der Suche nach seinem Ich herumquält. Danach bestimmt ein riesiges, frei schwebendes Skelett-Teil, an Gebärmutter und lange Beinknochen erinnernd, die Bühne. Es wird immer wieder von beiden Darstellern angespielt und einbezogen, wie auch das Instrumental-Quartett. Ole Hübner schrieb farbig instrumentierte Klänge, die das Geschehen mit expressiven Klängen begleiten. Die Musik bleibt zwar im Hintergrund, vertieft aber wesentlich die emotionalen Ebenen des psychodramatischen Geschehens.

Claus-Ulrich Heinke

„Ødipus REC.“ (2020) // Musiktheater von „The Navidsons“ (Komposition: Ole Hübner, Texte: Lisa Danulat)

Die Inszenierung ist als Stream via YouTube abrufbar.

Freiübung

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Offensichtlich gehört Mozart zu Daniel Barenboims Favoriten. Während der Jahrzehnte, in denen er an der Staatsoper in Berlin faktisch das Sagen hat, startet jetzt mit „Le nozze di Figaro“ zum dritten Mal ein neuer Da Ponte-Zyklus. Diesmal mit Vincent Huguet als Regisseur. Musikalisch kann man gegen diese ohne Saalpublikum gestreamte Produktion kaum etwas einwenden. Barenboim und die Musiker der Staatskapelle Berlin beherrschen ihren Mozart wahrscheinlich im Schlaf, schmecken freilich oft eher der puren Schönheit der Musik nach, als auf Verve zu setzen. Aber das Protagonisten-Ensemble, das umständehalber auf den verdienten Beifall verzichten musste, macht seine Sache hervorragend. Riccardo Fassi darf als Figaro nicht nur stimmliche Beredsamkeit, sondern auch Muskeln vorführen. Die jugendlich frische Susanna (Nadine Sierra) ist sich der Wirkung bewusst, die ihre Unschuldsmine auch auf den ebenfalls noch jugendlich wirkenden Grafen (Gyula Orendt) und Cherubino (Emily D’Angelo) hat. Besonderen Eindruck hinterlässt Elsa Dreisig, die der Gräfin höchst überzeugend die vokale Melancholie eines Stars verpasst, dessen Ruhm verblasst und deren Ehe (mit ihrem Produzenten und Manager) in der Krise ist. Erstklassig die selbstbewusste Marcellina von Katharina Kammerloher und alle anderen.

Bei der Inszenierung sind nicht die zupackenden Handgreiflichkeiten das Problem, wenn sie denn im Dienste der flotten Intrigen-Komödie stehen würden. Aber gerade die zündet in dem Achtziger-Jahre-Ambiente nicht wirklich. Vor wuchtigen Wänden haben Aurélie Maestre (Bühne) und Clémence Pernoud (Kostüme) modische Versatzstücke von der Designerküche, Andy-Warhol-Porträts der Hausherrin und einem ausgestopften Leoparden über die Discokugel fürs Partyvolk bis hin zu Aerobic-Klamotten für die Lockerungsübungen am Anfang und Cowboystiefel für den Hobbykoch Figaro versammelt. Wenn der sich gekonnt über Tomaten hermacht und eigentlich den Grafen meint, Marcellina vergisst, die Lockenwickler aus den Haaren zu nehmen oder Cherubino mit Abendkleid und Absatzschuhen verkleidet wird, ist das nur kleines komödiantisches Wechselgeld, das den subversiv menschelnden Hintersinn der Komödie verfehlt. Den gesellschaftlichen sowieso. Dass die Gräfin dann am Ende mit Teenager Cherubino durchbrennt, ist zwar selbst hier nicht unbedingt zwingend, aber auch schon egal. Die Fortsetzung folgt in der nächsten Spielzeit und Mozarts Musik ist dafür immerhin eine sichere Bank.

Roberto Becker

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Die Inszenierung ist als Stream auf Mezzo TV und medici.tv weiterhin für Subscriber verfügbar.

Große Opernemotion in nostalgischer Ästhetik

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (März 2021)
Wacklige Personenregie in Cileas „Adriana Lecouvreur“

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (März 2021)
Wacklige Personenregie in Cileas „Adriana Lecouvreur“

Nach der klassischen Interpretation von Verdis „Il trovatore“ im Februar setzten die Amigos Canarios de la Ópera nun ihre 54. Opernsaison mit Francesco Cileas „Adriana Lecouvreur“ fort. Das Publikum war wieder mit Begeisterung bei der Sache und wusste offenbar zu schätzen, dass in Spanien die Häuser eine normale Temporada mit entsprechenden Hygienekonzepten spielen, während man nördlich der Pyrenäen weiterhin auf völlige Abschottung setzt. Und es gab mal eine Zeit im vergangenen Jahrhundert, wo man bisweilen hören musste, dass Europa erst an eben diesen Pyrenäen begänne …

Regisseur Giulio Ciabatti wählte mit seinem Bühnenbildner Carlos Santos und dem Kostümbildner Claudio Martín ein nostalgisch-klassisches Regiekonzept. Er siedelte das ganze pausenlos in knapp zwei Stunden gespielte Stück in der Garderobe der Starsängerin der Comédie-Française an, deren berühmteste Sängerin die Lecouvreur ja einst war. Bei nur wenigen einfachen Requisiten setzte der Regisseur im Wesentlichen auf das audiovisuell-technische Design von Iban Negrín. Dieser schuf ihm szenenbezogene und teilweise durchaus eindrucksvolle Bühnenhintergründe, die Einblicke in ein Opernhaus oder auf farbintensive Bühnenvorhänge insinuierten.

Während die kaum alternierenden Bühnenbilder auch die Tatsache widerspiegelten, dass das Auditorio Alfredo Kraus ein Konzertsaal und kein Opernhaus ist, so hätte eine etwas intensivere Personenregie der Dramatik des Geschehens gutgetan, die ja in diesem Klassiker Cileas durchaus beachtlich ist. Allzu oft schienen die Sänger sich selbst überlassen, standen reglos an der Rampe. Sie machten aber immer wieder das Beste aus der jeweiligen Situation, allen voran María José Siri in der Titelrolle der Adriana. Sie war in der Tat nicht nur in ihrer Rolle als Primadonna, sondern auch im Auditorio der Star des Abends – mit einem klangschönen, fülligen und ausdrucksvollen Sopran sowie der gekonnten Gestik der Primadonna, bis diese schließlich einer ebenso überzeugenden ihres nahenden Endes wich. Schon die berühmte Auftrittsarie „Ecco: respiro appena …“ war ein absoluter Höhepunkt mit lang gehaltenem Finalton und beeindruckenden Piani wie Höhen. Das Publikum jubelte mit vielfachem Brava! Sergio Escobar konnte als Maurizio zwar mit einem kraftvollen und stabilen Tenor bei guten Höhen mithalten, darstellerisch blieb er aber zu steif und uncharismatisch. Silvia Tro Santafé gab die Principessa di Boullion mit einem farbigen Mezzo und guter Mimik, jedoch nicht ganz der emotionalen Durchschlagskraft ihrer Kontrahentin entsprechend. Eine sehr gute stimmliche Leistung bot Youngjun Park als Michonnet. Ferner sind noch In Sung Sim als Principe di Boullion und Francisco Corujo als Abbé de Chazeuil zu nennen.

Francesco Ivan Ciampa dirigierte das Orquesta Filarmónica de Gran Canaria und auch den Coro de Amigos Canarios de la Ópera mit einem hohen Maß an Detailverliebtheit, die jedoch den Spannungsfaden den ganzen Abend über gespannt hielt. Vor allem musikalisch ein Erlebnis!

Klaus Billand

„Adriana Lecouvreur“ (1902) // Oper von Francesco Cilea

Buffo-Oper in US-amerikanischem Musical-Kleid

Santa Cruz de Tenerife / Ópera de Tenerife (März 2021)
Cimarosas „Il matrimonio segreto“ überquert den Atlantik

Santa Cruz de Tenerife / Ópera de Tenerife (März 2021)
Cimarosas „Il matrimonio segreto“ überquert den Atlantik

Auf die Idee muss man erst mal kommen: eine Oper, die immerhin 54. (!) des italienischen Komponisten und Buffo-Spezialisten Domenico Cimarosa, die an der Hofoper Wien 1792 unter Beisein von Kaiser Leopold II. ihre Uraufführung erlebte, in den Kontext des US-amerikanischen und äußerst erfolgreichen Musicalfilms „Singin’ in the Rain“ von 1952 zu stellen. Das Dramma giocoso kommt im mondänen Auditorio Adán Martín von Santa Cruz auf unorthodoxe und unterhaltsame Weise daher. Roberto Catalano verlegt die Handlung kurzerhand in die Qualitäts-Konditorei Geronimo & Co. ins Manhattan der 1950er Jahre. Im Bühnenbild von Emanuele Sinisi sind Miniaturen des Empire State und des Chrysler Buildings zu erkennen. Die rosa gestylten Kostüme des Personals schuf Ilaria Ariemme. Hier produziert der Napolitaner Geronimo edle Spezialitäten aus seiner Heimat und hat es schon zu etwas gebracht. Allein, das reicht ihm nicht, er möchte über die Verheiratung seiner Tochter Elisetta mit einem Grafen auf der Gesellschaftspyramide noch etwas höher steigen. Da der tatsächlich eintreffende Graf sich aber sofort in die andere Tochter Carolina verliebt, kommt es zu grotesk-komischen Verwicklungen, die bisweilen an Mozarts „Le nozze di Figaro“ erinnern. Denn Carolina hat heimlich den Laufburschen Paolino geheiratet und träumt mit ihm bereits von Auftritten am Broadway …

Es beginnt mit Gene Kelly, Regisseur des Filmmusicals 1952, der als einer der Hauptdarsteller alias Don Lockwood den weltberühmten Tanz zum Schlager von 1929, „Singin’ in the Rain“, im Film vollführte. Er sitzt zu Beginn der Cimarosa-Oper auf der Bühne, mutiert dann zu einer alten Frau, die die ganze Zeit unerkannt mit ihrem Hündchen herumwandelt, bis er am Ende, als alle ein wahres Happy End feiern, den berühmten Sprung mit Regenschirm auf die Laterne macht.

Mit einer feinen Personenregie bei ausgefeilter Mimik aller sowie Fiammetta Baldiserris stets stimmungsbetonender Lichtregie wirken junge Sänger aus Italien, Frankreich, der Türkei und Chile. Das Opernstudio von Teneriffa unter Leitung von Giulio Zappa wählte sie aus 195 Bewerbern aus. Giulia Mazzola überzeugt als Carolina mit einem klangvoll-leuchtenden Sopran und starkem Ausdruck am meisten. Francesco Leone ist ein ebenso souveräner Geronimo mit prägnantem Bass. Ramiro Maturana kann mit seinem Bariton stimmlich auf hohem Niveau mithalten, welches für alle drei bereits den Weg zu Mozart weist. Eleonora Nota ist als Elisetta stimmlich etwas leichter, was jedoch ihrer exzentrischen Rolle entgegenkommt. Claire Gascoin lässt einen guten Mezzo hören und Bekir Serbest fügt sich tenoral bestens in dieses gute Ensemble ein. Davide Levi dirigiert das musikalisch dichte und immer wieder an Mozart erinnernde Werk, das allen Solisten interessante Arien gewährt, mit viel Verve und ausgezeichneter Sängerführung. Das Symphonische Orchester von Teneriffa spielt engagiert mit. Die Produktion geht nun mit zwei Besetzungen an das Teatro Regio di Parma und an das Teatro Massimo di Palermo.

Klaus Billand

„Il matrimonio segreto“ („Die heimliche Ehe“) (1792) // Dramma giocoso von Domenico Cimarosa

Glamouröses It-Girl twittert sich durchs Leben

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wenn jeder erkrankte Tenor an der Wiener Staatsoper mit großartigen Sängerdarstellern wie Piotr Beczała (zuletzt bei „Carmen“) oder nun mit Juan Diego Flórez als Einspringer besetzt wird, darf man sich glücklich schätzen. Der Peruaner lässt seine Spitzentöne wunderschön erstrahlen – vor allem im piano – und besticht mit gefühlvollem Spiel. Für einen perfekten Alfredo fehlt allerdings mehr Durchschlagskraft. Im Belcanto-Fach wahrscheinlich unübertroffen, muss seine Tenorstimme für Verdi noch etwas dramatischer werden. Auch Pretty Yende ist eine außergewöhnliche Darstellerin und berührt nuancenreich bis zum tödlichen Ende. Die südafrikanische Sopranistin beweist ausdrucksstarke Phrasierungskunst und klare Höhe, auch wenn man bei der Mittellage manchmal noch Kraft und Volumen vermisst. Sie ist aber trotzdem eine sehr gute Violetta mit herzzerreißendem „Addio del passato“. Ensemblemitglied Igor Golovatenko bestätigt nach seinem Posa im vergangenen Herbst erneut, dass er über einen wohltönenden, noblen Verdi-Bariton verfügt. Das Dirigat von Hausdebütant Giacome Sagripanti wurde oft langweilig und uneinheitlich geführt.

Die Koproduktion mit der Opéra national de Paris (Premiere 2019) führt uns unter Regisseur Simon Stone in die heutig-schnelllebige Zeit. Chatverläufe und gepostete Selfies flimmern rasant auf übergroßen Video-Leinwänden im Hintergrund. Dies überfordert die Konzentration und führt schnell zu „digitaler Schwindsucht“. Violetta ist keine Edelkurtisane, sondern gelangt als Influencerin mit eigener Parfümlinie zu Ruhm und Reichtum. Umso weniger ist schlüssig, warum Germont sie als eine „vom Weg Abgekommene“ sieht und es stattdessen bevorzugt, seine Tochter an einen saudischen Prinzen zu verheiraten – angesichts der Frauenrechte in diesem Land eher unglaubwürdig. Alfredos Liebesgeständnis wird zwischen Mistkübeln vorgetragen, was ihn scheinbar so verwirrt, dass er in Flaschenkisten stürzt. Um idyllisches Landleben darzustellen, muss Violetta in Gummistiefeln einen Traktor reparieren (worauf Germont von „tanto lusso“ singt?). Die lebende Kuh von der Pariser Produktion hat hierzulande nicht den Tierschutzgesetzen entsprochen und wurde scheinbar auf die Almwiesen zurückgeschickt. Alfredo – im karierten Holzfällerhemd – sitzt bei einem Schubkarren, als ihn sein Vater mit „Di provenza il mar“ zurückgewinnen will. Fällt dem Regieteam zum Thema „Land“ wirklich nichts Besseres ein? Danach muss der Chor vor flimmernden Graffiti-Wänden beinahe unbeweglich in skurrilen Kostümen – Doktor Grenvil mit Dildo als unbegreiflichem „Kopfschmuck“– ein mehr als geschmacksloses Fest bei Flora feiern. Mit gut gezeichneter, dramatischer Wirkung überzeugt lediglich der Beginn des finalen Aktes, als die Todgeweihte ihre Chemotherapie erhält. Im Unterschied zu den anderen Patienten im Hintergrund ist die an Krebs Erkrankte (auch ohne Follower) vollkommen verlassen. Nicht einmal die – in Corona-Zeiten unerlässliche – Jogginghose stört (obwohl sie zusammen mit dem bauchfreien Top sehr unvorteilhaft wirkt). Für die Autorin konnte der Regisseur das Werk Verdis nicht glaubwürdig ins Heute übertragen – besonders beschäftigt die Frage nach Violettas Stigma, die zum Verzicht ihrer großen Liebe führt.

Susanne Lukas

„La traviata“ (1853) // Oper von Giuseppe Verdi

Grausam-poetisches Märchen

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (März 2021)
Dvořáks „Rusalka“ als Außenseiterin zweier Welten

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (März 2021)
Dvořáks „Rusalka“ als Außenseiterin zweier Welten

Keine Frage, Dvořáks vorletzte Oper eignet sich schon der tief existentiellen Einsamkeit der Titelfigur halber für die Produktion unter Covid-19-Bedingungen. Wie Regisseur Dirk Schmeding am Staatstheater Braunschweig mit der Sehnsucht der Nixe nach menschlicher Empfindung und Liebe umgeht, das beglaubigt gerade unter Einhaltung der Distanz das Unerfüllte und für das Wasserwesen auch Unerfüllbare solchen Wünschens. Schmeding bietet besonders für Rusalka selbst berückende Intensität auf. Etwa, wenn Ježibaba ihr den Fischschwanz chirurgisch auftrennt und wie eine Haut abzieht, gleichsam des Wasserwesens Beine befreit, dieses aber erst lernen muss, mit ihnen – ganz wörtlich verstanden – umzugehen. Der Prinz begegnet der Nixe, als sie ihm unter die Räder seines Autos gerät. Bevor er sich ihr zuwendet, prüft er im Seitenspiegel, ob seine Frisur sitzt. Die fremde Fürstin tritt aus einem wie an einem amerikanischen Highway aufgestellten Filmplakat mit ihrem Konterfei, die ganze Erscheinung eine Projektion des Prinzen und wohl auch Rusalkas. Alles dies überzeugt, weil Schmeding das Märchenhafte des Sujets nicht antastet. Er darf sich daher getrost dessen Entromantisierung leisten. Kaum, dass sie den Prinzen final geküsst hat, erstickt die ins Reich der Untoten exilierte Wasserfrau ihn unter einer Plastikfolie. Märchen sind halt oft weniger romantisch als grausam. Ralf Käselau baut dafür eine Bühne am Rande der menschlichen Zivilisation. Melancholie beherrscht die Szene. Der Nixenteich droht auszutrocknen, während Ježibaba munter die keineswegs wassersparende Waschmaschine bedient. Der hilflos um den Zusammenhalt seiner Welt besorgte Wassermann haust im Abflussrohr. Poetisch geheimnisvoll liegt die Uferlandschaft und schimmert die Wasseroberfläche in nächtlichem Schein, wenn die Titelfigur als Irrlicht umherschweift und den Prinzen zu Tode küsst. Julia Rösler streicht die Figuren kostümlich prägnant heraus. Rusalka in farblosem Weiß, ein Wesen, dem immer etwas fehlt, ob nun die menschliche Seele oder die Fähigkeit zu sprechen. Die fremde Fürstin als Hollywood-Diva im fünfziger Jahre Badedress. Den Prinzen als Edelhippie. Den Wassermann im zerschlissenen Honoratiorenfrack, der nicht einmal mehr für die Altkleidersammlung taugt.

Ebenso gewinnend wie die szenische ist die musikalische Seite dieser Produktion. Georg Menskes lässt den aus dem Off eingespielten Chor des Staatstheaters das Bühnengeschehen effektsicher untermalen. Srba Dinić bedient sich mit dem Braunschweiger Staatsorchester Marián Lejavas Fassung für einen reduzierten Klangkörper. Anfänglich wagnert es nach Kräften, bald aber erlangt Dvořáks slawisches Musikidiom die Oberhand. Trefflich wissen Dinić und sein Orchester die Substanz und Fülle der Partitur trotz Covid-bedingter Einschränkungen zu wahren. Julie Adams geht die Titelpartie eher jugendlich-dramatisch als lyrisch an, entfaltet dabei aber außerordentliche Leucht- und Strahlkraft. Den Prinzen lässt Kwonsoo Jeon machtvoll und in seinen besten Augenblicken auch voller Schmelz auftrumpfen. Es ist ihm ein wenig mehr sängerische Ökonomie zu wünschen. Edna Prochnik verleiht Ježibaba vokale Durchtriebenheit. Die Fremde Fürstin stattet Ekaterina Kudryavtseva mit sinnlichem Flair aus. Beherzt stellt sich Jisang Ryu den stimmlichen Anforderungen des Wassermanns. 

Michael Kaminski

„Rusalka“ (1901) // Lyrisches Märchen von Antonín Dvořák

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 4. April 2021 über die Website des Theaters verfügbar.