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Premierenkritik

Raffiniert gemixt

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Das Stream-Bild zeigt den sich schließenden Eingang zum Bockenheimer Depot, diesem unbedingt erhaltenswerten „anderen Spielort“. Dann schweift der Blick durch die komplexe Dachkonstruktion, die altes Holzgebälk und modernen Stahl für die Theatertechnik vereint. Das Licht wirkt magisch bis exotisch – und da mischen sich auch Publikumsgeräusche und allerlei Tierlaute. Die Kamera führt in eine im dunklen Raum schwebende, opulente Loge à la Grand opéra: vergoldete Ornamente, roter Samt, Portalstützen aus antiken Nymphen. Da sitzt ein Herr im Frack und erzählt, dass niemand gekommen wäre, wenn es sich nicht „um ein kulturelles Ereignis von erregender Einmaligkeit“ handeln würde, den „Karneval der Tiere“. Er schaut durch sein goldenes Lorgnon – und wir mit ihm in zwei kreisrunde Blickausschnitte: auf eine wilde, bunte, aber „edel“ gekleidete Tiergesellschaft unten in der Sitztribüne. Da wird zu Tierkopf, -pfote, -pranke und -haut allerlei Talmi-Schmuck, Abendrobe, Pelz und sogar Kopfschmuck getragen – man ist ja schließlich wer! Eine gelungene Videomontage, mit der Ausstatter und Filmbildner Christoph Fischer und Regisseurin Katharina Kastening alle derzeitigen Besuchsverbote in einer Vorwegaufnahme gekonnt überbrücken. Da gibt es in regelmäßigen „Einblicken“ zwischen den Musiknummern was zu gucken und zu staunen, denn der Theater- und vor allem der Kostümfundus haben einfach „alles“ ausgegraben. So kunterbunt entlarvend, dass kurz philosophiert werden muss, ob nicht diese tierischen Exoten eher wir Menschen in allerlei Kostümen sind …

Nur kurz, denn dann setzt die Musik ein. Eine Krankamera hoch über dem Podium blickt senkrecht nach unten, auf die in Pandemie-Abständen sitzenden zwanzig Instrumentalisten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters sowie zwei offene Konzertflügel; an denen sitzen In Sun Suh und Lukas Rommelspacher, der spielt und dirigiert. In guter Klangtechnik wirkt der Marsch der Löwen wirklich „maestoso“, beschwören die Klavierläufe den Einzug der Hühner-Pyramide, führt der Kontrabass „pompös“ die Elefanten ein und beschwören Xylophon, Streicher-Sirren sowie Klavier-Perlen das „Aquarium“. Dazwischen wechselt das Bild immer wieder hinauf in die Loge, wo Schauspieler Christoph Pütthoff als „Kenner“ von Musik und Menschen die Zwischentexte von Loriot spricht. Der gab 1975 noch nicht wie in seinen späteren Klassikauftritten eminent wortwitzige, Opern-karikierende und herrlich entlarvende, sondern fein ironische Kommentare zum exquisiten Esprit der Musik. Pütthoff verstärkt dies mit kleinen mimischen Kommentaren, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Das Schmunzeln gipfelt in der quälend wiederholten Frage der jungen Katzen „Kommt jetzt der Schwan?“ als „Running Gag“ Loriots – und stellvertretend für das Musizieren aller sei das dann „grazioso“ erklingende Schwan-Cello-Solo von Sabine Krams genannt. Der musikalische „Zirkus“ klingt schließlich Cancan-nahe und fetzig aus. Nicht zu vergessen der Schluss-Coup der Inszenierung: Der Logenbesucher geht durch die leeren Reihen davon – da sitzt doch tatsächlich ein edel-weiß-gefiedertes, echtes Huhn gackernd auf einem Stuhl! Ist ihm das Taxi davongefahren? Gelungene musiktheatralische Unterhaltung.

Wolf-Dieter Peter

„Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) (1886) // Große zoologische Fantasie für Kammerorchester von Camille Saint-Saëns in der Textfassung von Loriot (1975)

Die Inszenierung ist als Stream bis 30. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

„Let the Sunshine In“ statt Social Distancing

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Unverhofft kommt viel zu selten: Das „American Tribal Love-Rock Musical“ „Hair“ begehrt im Lockdown auf und geht in Saarbrücken auf Anti-Corona-Kurs. Während Deutschlands Theater immer wieder vergeblich die Segel setzen, über die Weite des kulturleeren Ozeans schippern und eine rettende Insel suchen, bekommt das Saarländische Staatstheater unverhofft Rückenwind. Das Dreispartenhaus profitiert von der Teststrategie des saarländischen Ministerpräsidenten: Das Bundesland ist Modellregion und darf, unter strengen Auflagen, seine Bühnen bespielen. Fast schon gespenstisch, wenn in einem Theaterraum, der sonst 980 Zuschauer fasst, nur 220 Maskierte in großem Abstand zueinander sitzen. Da ist die Infektionsgefahr ebenso gering, wie das Stimmungsbarometer hoch sein kann. Sollte man meinen. „Hard work“ für das Ensemble um Regisseur Maximilian von Mayenburg, dessen Inszenierung im Oktober 2020, also schon zu Corona-Zeiten, fulminant Premiere feierte.

Doch mit antiviraler Sing-, Tanz- und Musizierwut ist die Beklemmung schnell verflogen, jeglicher Mindestabstand sinnbildlich überwunden, sodass sich ein unwiderstehlicher Flow ausbreiten kann. Ein wahrlich haariges Musicalevent: Kultige Freaks im Flower-Power-Styling (Ralph Zeger) machen mit Stimmgewalt in solistischen und kollektiven Gesangshöchstleistungen bei nicht weniger überzeugenden Choreographien von Eleonora Talamini dem Publikum das Aussteigen und Abheben leicht. Top Move, top Groove – wirkungsvoller als AstraZeneca. Der bunte Testballon steigt im Theaterhimmel hoch hinauf und weckt Lust auf mehr. Die Band, grandios mit „infizierendem“ Drive unter der musikalischen Leitung von Achim Schneider, agiert hinter Plexiglas und thront auf einem Konstrukt aus Europaletten mittig auf der Drehbühne im ansonsten eher spartanisch, aber sehr geschmackvoll gestalteten Bühnenbild (Tanja Hofmann). Das „Entfliehen durch Drogen“ der 68er erfährt in der Corona-Zeit ein „Entfliehen durch Toben“. Toben im Sinne einer friedlichen Revolte aus dem kulturellen Lockdown – und das mit satter Ladung erstklassiger Theaterkunst. Aufgestaute Spielfreude bricht sich in fast ekstatischer Manier Bahn. Große Leidenschaft trifft auf enorme Professionalität und wird, zur Bestleistung gebündelt, dem Theater-hungrigen Publikum dargeboten.

Während also damals mit Love & Peace gegen den Vietnam-Krieg und für uneingeschränkten Pazifismus demonstriert wurde, zieht von Mayenburgs Inszenierung ganz bewusst gegen Corona ins Feld und macht „Let the Sunshine In“ zur antiviralen Hymne. Hits wie „Aquarius“, „Hair“ oder „Ain’t Got No“ werden Gegenpol zum Social Distancing. Zugegeben: Trump, Wieler, Abstandsregeln, Masken oder Schutzanzüge sind das Letzte, was man dieser Tage im Theater sehen will. Von Mayenburg aber wagt und gewinnt: Er stellt Ein- und Ausdrücke der „neuen Normalität“ in den Dienst der Kreativität, indem er sie inszenatorisch als Steilvorlage für die Wirkkraft der Songs von Galt MacDermot nutzt und somit eine zeitgemäße Rahmenhandlung schafft. Ein erfolggekröntes Wagnis, ist doch der unsichtbare Feind, die Covid-Heimsuchung, allgegenwärtig. Warum sie also nicht gleich als wirksames (Stil-)Mittel in den Dienst der Kunst stellen? Tosender, nicht enden wollender Schlussapplaus mit Standing (und in den vielen Zugaben) „dancing“ Ovations. Der Abschied – fast schmerzlich.

Kirsten Benekam

„Hair“ (1968) // The American Tribal Love-Rock Musical (Musik: Galt MacDermot)

In Schönheit sterben

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Es dauert nicht lange und Wehmut schleicht sich ein, während man im heimischen Wohnzimmer den Stream von Vincenzo Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ verfolgt und sich doch eigentlich ins Linzer Musiktheater sehnt. Aber in Zeiten wie diesen muss man genießen, was möglich ist – und Genuss gibt es an diesem Abend reichlich. Die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia ist sattsam bekannt. Ihr Unglück ist die Folge eines erbitterten Streits zweier Familien in Verona, die neben persönlichen Befindlichkeiten auch noch unterschiedlichen politischen Lagern angehören, den Ghibellinen und Guelfen. Kriegerisch gebärden sich Cappelio, Clanchef der Capuleti, und seine Getreuen – insbesondere Tebaldo, der ein Auge auf die Tochter des Bosses geworfen hat. Dass Julia (bei Bellini Giulietta) ganz andere Pläne hat, weiß er noch nicht.

Regisseur Gregor Horres siedelt die auf Krawall gebürstete Familie vor einem anthrazitfarbenen, sich drehenden Betonquader an, der als Projektionsfläche für ein Video, eine Cocktailbar, ein Schlafzimmer und schließlich eine Grabkammer dient. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross unterstreicht die erstarrten Ansichten dieser Männergesellschaft, die, wenn gar nichts geht, nach Rache und Krieg schreit. Rache, weil Romeo, Sohn der feindlichen Montecchi, den männlichen Nachkommen der Capuleti in einer Schlacht erschlug. Tebaldo kämpft an vorderster Reihe als Rächer – vor allem, weil er als Preis seines Erfolgs die Heirat mit Giulietta erwarten darf. Tenor Joshua Whitener gibt den aalglatten Karrieremann, schafft es aber mit seiner Stimme, seiner Liebe zu Giulietta große Glaubhaftigkeit zu verleihen.

So startet die Oper ziemlich fulminant mit einem hochmotivierten Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Enrico Calesso. Richtig Fahrt nimmt der Abend mit dem Auftritt des Liebespaares auf. Bellinis Romeo ist eine Partie für einen Mezzosopran. Dadurch gestalten sich die gesanglichen Begegnungen der verzweifelt Liebenden nicht nur als eine Kette von Koloraturen, sondern auch als ein feinmelodisches Gewebe an Akzenten und Färbungen zwischen Sopran und Alt. Bellini hat sich mit seiner Komposition bereits vom reinen Schöngesang des Barocks entfernt, die traurigsten Botschaften kommen auf romantischen Wellen von lebhaften Dur-Tonarten daher und nehmen den Zuhörer völlig gefangen. Für dieses wohlige Gefühl sind in erster Linie die beiden Sängerinnen von Romeo und Giulietta verantwortlich. Anna Alàs i Jové gibt einen hingebungsvollen Liebhaber und lässt ihre weiche Stimme leuchten. Ilona Revolskaya füllt ihre Rolle nicht nur mit schwebenden, scheinbar leicht hingeworfenen Tönen aus, sondern zeigt auch glaubhaft, dass sie mehr von der Liebe begreift als ihr jugendlich stürmischer Angebeteter. Das unerfreuliche Ende der Oper ist nicht aufzuhalten, es wirken sowohl der von Lorenzo (Michael Wagner) vorbereitete Trank für den Scheintod als auch das Gift. Der finale Selbstmord erfolgt modern mit einer Pistole. Alle unglücklichen Protagonisten müssen ihr Leben lassen, nur der verbitterte Vater (Dominik Nekel) bleibt gebrochen zurück. Ein gelungener Abend, der in guter Erinnerung bleibt.

Susanne Dressler

„I Capuleti e i Montecchi“ (1830) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

Die Inszenierung ist als Stream bis 8. Mai 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“)

Freiübung

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Offensichtlich gehört Mozart zu Daniel Barenboims Favoriten. Während der Jahrzehnte, in denen er an der Staatsoper in Berlin faktisch das Sagen hat, startet jetzt mit „Le nozze di Figaro“ zum dritten Mal ein neuer Da Ponte-Zyklus. Diesmal mit Vincent Huguet als Regisseur. Musikalisch kann man gegen diese ohne Saalpublikum gestreamte Produktion kaum etwas einwenden. Barenboim und die Musiker der Staatskapelle Berlin beherrschen ihren Mozart wahrscheinlich im Schlaf, schmecken freilich oft eher der puren Schönheit der Musik nach, als auf Verve zu setzen. Aber das Protagonisten-Ensemble, das umständehalber auf den verdienten Beifall verzichten musste, macht seine Sache hervorragend. Riccardo Fassi darf als Figaro nicht nur stimmliche Beredsamkeit, sondern auch Muskeln vorführen. Die jugendlich frische Susanna (Nadine Sierra) ist sich der Wirkung bewusst, die ihre Unschuldsmine auch auf den ebenfalls noch jugendlich wirkenden Grafen (Gyula Orendt) und Cherubino (Emily D’Angelo) hat. Besonderen Eindruck hinterlässt Elsa Dreisig, die der Gräfin höchst überzeugend die vokale Melancholie eines Stars verpasst, dessen Ruhm verblasst und deren Ehe (mit ihrem Produzenten und Manager) in der Krise ist. Erstklassig die selbstbewusste Marcellina von Katharina Kammerloher und alle anderen.

Bei der Inszenierung sind nicht die zupackenden Handgreiflichkeiten das Problem, wenn sie denn im Dienste der flotten Intrigen-Komödie stehen würden. Aber gerade die zündet in dem Achtziger-Jahre-Ambiente nicht wirklich. Vor wuchtigen Wänden haben Aurélie Maestre (Bühne) und Clémence Pernoud (Kostüme) modische Versatzstücke von der Designerküche, Andy-Warhol-Porträts der Hausherrin und einem ausgestopften Leoparden über die Discokugel fürs Partyvolk bis hin zu Aerobic-Klamotten für die Lockerungsübungen am Anfang und Cowboystiefel für den Hobbykoch Figaro versammelt. Wenn der sich gekonnt über Tomaten hermacht und eigentlich den Grafen meint, Marcellina vergisst, die Lockenwickler aus den Haaren zu nehmen oder Cherubino mit Abendkleid und Absatzschuhen verkleidet wird, ist das nur kleines komödiantisches Wechselgeld, das den subversiv menschelnden Hintersinn der Komödie verfehlt. Den gesellschaftlichen sowieso. Dass die Gräfin dann am Ende mit Teenager Cherubino durchbrennt, ist zwar selbst hier nicht unbedingt zwingend, aber auch schon egal. Die Fortsetzung folgt in der nächsten Spielzeit und Mozarts Musik ist dafür immerhin eine sichere Bank.

Roberto Becker

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Die Inszenierung ist als Stream auf Mezzo TV und medici.tv weiterhin für Subscriber verfügbar.

Memento mori

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Der Mensch denkt, der Mensch lenkt: Gerne suhlen wir uns in diesem Ideal, betrachten uns als „Krone der Schöpfung“. Bis wieder einmal ein Zahnriemen im Getriebe der menschlichen Evolution verkeilt und unser Weltbild ins Wanken bringt. Unzweifelhaftes Paradebeispiel unserer Zeit: Corona. Was macht das mit uns, wenn eine Pandemie unsere Zukunftspläne unter krachendem Getöse einstürzen lässt, wo finden wir Antworten? Nicht zufällig hat die Seuchenliteratur gerade Hochkonjunktur: Albert Camus’ „Die Pest“, diverse Chronologien der Spanischen Grippe – oder auch Daniel Defoes fiktiver Dokumentarbericht „A Journal of the Plague Year“ von 1722. Letzteren hat Kobie van Rensburg jetzt am Theater Krefeld und Mönchengladbach zu einem „Opernpasticcio in virtueller Realität“ verarbeitet, gepaart mit Musik von Henry Purcell (und zwei weiterer englischer Barockkomponisten). Das Ergebnis ist ein überaus erfrischender Impuls abseits schließbedingter Verlegenheitslösungen.

„The Plague“ nimmt uns mit in ein Phantasie-England anno 1665/66. Damals forderte die „Große Pest von London“ geschätzte 100.000 Todesopfer, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Diese katastrophale Epidemie transferiert van Rensburg Corona-bedingt in den digitalen Raum. Sämtliche Aufnahmen seines Opernfilms wurden im Blue-Screen-Verfahren gedreht und mittels VR-Animation in minutiöser Kleinarbeit montiert. Konzeption, Ausstattung, Gesamtregie, Kamera, Schnitt, Postproduktion – Arbeitsschritte, die allesamt vom Südafrikaner verantwortet wurden. Das Ergebnis: eine artifizielle und bis zu einem gewissen Grad doch auch realistische Ästhetik am Reibungspunkt von Statik und Dynamik, gehalten in postmoderner Schwarz-Weiß-Optik. Vor folienartigen Kulissen nimmt ein neunköpfiges Ensemble in historischen Spätrenaissance-Kostümen wechselnde Rollen im „Spiel des Lebens“ ein. Im Verlauf der knapp siebzigminütigen Produktion breites sich ein sattes Panorama existenzieller Reaktionen auf eine verheerende Seuche aus: Wir begegnen sterbenden, trauernden, fliehenden und leugnenden Menschen. Wir werden Zeuge von Panik und Feierwut, Gottesfurcht und Scharlatanerie, Mitgefühl und Egoismus, erwachender Liebe und Abschied auf ewig. Dass im (auch filmischen) Spiel mit den Perspektiven immer wieder assoziative Brücken zur Gegenwart aufscheinen, van Rensburg aber nicht der Versuchung erliegt, diese in platten Bildern zu servieren, ist ein großer Verdienst der Produktion. Coronale Bezüge sind so überlegt und zurückhaltend platziert, dass sie nicht belehrend aufstoßen (darunter eine charmante kleine Klopapier-Choreo).

So reizvoll die Bespielung barocker Musik mit Bildern aus dem virtuellen Baukasten auch ist: Ohne ein tragfähiges Ensemble bliebe nicht viel mehr als eine schöne Idee auf dem Papier. Doch auch hier agiert das Haus auf hohem Niveau. Die Meisterschaft der barocken Emotionsskala gebührt dabei klar den Damen: Wie Maya Blausteins Selbstgeißelung zu einem nuancierten Affekt des Wahnsinns gerät, wie Susanne Seefing feine Zynik aufblitzen lässt und Chelsea Kolic ein herzzerreißendes Lamento anstimmt, ist große Opernkunst für den kleinen Bildschirm. Alte Musik in emotionaler Reinkultur, die von einem Instrumentalensemble unter Yorgos Ziavras zwischen pastoraler Idylle, koketter Hybris und trostloser Wehklage rhythmisch pointiert illustriert wird.

Florian Maier

„The Plague“ („Die Seuche“) // Opernpasticcio in virtueller Realität von Kobie van Rensburg, nach Motiven von Daniel Defoes „A Journal of the Plague Year“ („Die Pest zu London“) (1722) und mit Musik von Henry Purcell, Pelham Humfrey und Thomas Ravenscroft

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand zum Preis von 10 Euro bis zum 4. Juli 2021 über die Website des Theaters verfügbar. Alternativ wird auch eine DVD zum selben Preis angeboten.

Von Liebe, Leidenschaft und Verlust

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (März 2021)
Christof Loy inszeniert Tschaikowski-Lieder

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (März 2021)
Christof Loy inszeniert Tschaikowski-Lieder

Es gäbe vielerlei dramatische Aspekte: die nie frei gelebte Homosexualität Tschaikowskis; der frühe Tod der geliebten Schwester; das seltsam vielschichtige Verhältnis zum homosexuellen Bruder Modest; die befremdliche Distanzbeziehung zur Mäzenin Nadeschda von Meck; das Verhältnis zu Iosif Kotek; das obskure Todesurteil eines „Ehrengerichts“; der frühe Tod durch ein Glas Cholera-Wasser. Doch Christof Loy hat einen inneren Kern gefunden, von dem die vertonte und jetzt als Titel gewählte Goethe-Zeile „Nur wer die Sehnsucht kennt“ kündet – und den Tschaikowski selbst in einem Brief formuliert hat: „Ich kenne die Macht der Liebe schon, aber das Glück darin nicht.“ Das inspirierte Loy, 24 Lieder und drei kleine Instrumentaleinlagen zu einem intimen musikalischen Kammerdrama zusammenzubinden.

In einem edel blau tapezierten Salon sitzt Mariusz Kłubczuk am Flügel und intoniert zur Einstimmung einige Takte aus Tschaikowskis „Dumka“. An einem Tischchen sitzt versunken der männlich reife Vladislav Sulimsky, singt sich selbst mit bassbaritonaler Wucht „Schlaf ein, mein Herz … was vorbei ist, ist vorbei“ versöhnlich Ruhe zu. Der jugendlich agile Bariton Mikołaj Trąbka versinkt in seligem Überschwang und erster Pein – wozu der reife Mann wissend lächelt. Tenor Andrea Carè als „Mann im besten Alter“ besingt derweil das „schnelle Vergessen“. Wie die drei einander betrachten, sich abwenden, dann wieder zuhören: Da tut sich bereits eine Bandbreite von menschlicher Diversität und Ähnlichkeit auf, die in Bann schlägt. Das vertieft Mezzosopranistin Kelsey Lauritano im Hosenanzug, denn nicht das weibliche Element kommt hinzu, auch eine andere Art von Trauer. Zum kleinen Klaviertriller erscheint Sopranistin Olesya Golovneva im weißen Tüll-Glockenrock und singt mit ihrer dunklen Partnerin von schmerzlich erbetener Ruhe; als der junge Bariton (Mikołaj Trąbka) voller Emphase von der Nachtigall und ihrem Zauberwort „Liebe“ schwärmt, erhebt sie sich auf Spitzen und beschwört mit wenigen Tanzfiguren die träumerische Aura all jener Schwanenwesen. Es gehört zum Besonderen, dass sich zwischen allen fünf Menschen ein feingesponnenes Beziehungsgeflecht mal andeutet, mal auftut, mal zerfällt. Doch auch hochdramatische Züge fehlen in Tschaikowskis Romanzen nicht: die volltönende Erinnerung an „Trunkene Nächte“ oder auch der Kosak, der seiner Hanna eine Korallenkette aus dem Krieg bringen soll und als er endlich heimkehrt, ist sie schon verstorben …

Die knapp zwei Stunden breiten in Körperhaltungen, Blicken, im schmerzlich ringenden, aber auch dumpfen Brüten einen zunächst kostbar feinen Kosmos an Zwischenmenschlichem aus. Das wird so dicht, fesselnd und bedrängend, dass es wie eine entspannende Wohltat wirkt, als der eingerahmte Teil der Rückwand hochfährt, eine gemalte ländliche Ideallandschaft sichtbar wird, das Adagio cantabile aus „Souvenir de Florence“ von Mitgliedern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters erklingt – und wie eine Mahnung an derzeit nicht erlaubte Auftritte sechs Notenpulte und Streichinstrumente verlassen dastehen …

„Stumme Gespräche sind beredsamer als manches Wort“, singt Olesya Golovneva fast am Ende. In Herbert Murauers sonst leerem Salon, in Olaf Winters mal mildem, mal kaltem Licht war aller innenweltlicher Reichtum anwesend. Was Loy mit seinen fünf Solisten der Extraklasse entwickelt hat, ist tief berührend, erhebt sich wie ein hell blitzender Solitär über den dumpf-grellen Müll unserer Tage. Was Kunst doch kann!

Wolf-Dieter Peter

„Nur wer die Sehnsucht kennt“ // Tschaikowski-Lieder inszeniert von Christof Loy

Die Inszenierung ist als kostenfreier Stream bis 20. Juni 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

Große Opernemotion in nostalgischer Ästhetik

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (März 2021)
Wacklige Personenregie in Cileas „Adriana Lecouvreur“

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (März 2021)
Wacklige Personenregie in Cileas „Adriana Lecouvreur“

Nach der klassischen Interpretation von Verdis „Il trovatore“ im Februar setzten die Amigos Canarios de la Ópera nun ihre 54. Opernsaison mit Francesco Cileas „Adriana Lecouvreur“ fort. Das Publikum war wieder mit Begeisterung bei der Sache und wusste offenbar zu schätzen, dass in Spanien die Häuser eine normale Temporada mit entsprechenden Hygienekonzepten spielen, während man nördlich der Pyrenäen weiterhin auf völlige Abschottung setzt. Und es gab mal eine Zeit im vergangenen Jahrhundert, wo man bisweilen hören musste, dass Europa erst an eben diesen Pyrenäen begänne …

Regisseur Giulio Ciabatti wählte mit seinem Bühnenbildner Carlos Santos und dem Kostümbildner Claudio Martín ein nostalgisch-klassisches Regiekonzept. Er siedelte das ganze pausenlos in knapp zwei Stunden gespielte Stück in der Garderobe der Starsängerin der Comédie-Française an, deren berühmteste Sängerin die Lecouvreur ja einst war. Bei nur wenigen einfachen Requisiten setzte der Regisseur im Wesentlichen auf das audiovisuell-technische Design von Iban Negrín. Dieser schuf ihm szenenbezogene und teilweise durchaus eindrucksvolle Bühnenhintergründe, die Einblicke in ein Opernhaus oder auf farbintensive Bühnenvorhänge insinuierten.

Während die kaum alternierenden Bühnenbilder auch die Tatsache widerspiegelten, dass das Auditorio Alfredo Kraus ein Konzertsaal und kein Opernhaus ist, so hätte eine etwas intensivere Personenregie der Dramatik des Geschehens gutgetan, die ja in diesem Klassiker Cileas durchaus beachtlich ist. Allzu oft schienen die Sänger sich selbst überlassen, standen reglos an der Rampe. Sie machten aber immer wieder das Beste aus der jeweiligen Situation, allen voran María José Siri in der Titelrolle der Adriana. Sie war in der Tat nicht nur in ihrer Rolle als Primadonna, sondern auch im Auditorio der Star des Abends – mit einem klangschönen, fülligen und ausdrucksvollen Sopran sowie der gekonnten Gestik der Primadonna, bis diese schließlich einer ebenso überzeugenden ihres nahenden Endes wich. Schon die berühmte Auftrittsarie „Ecco: respiro appena …“ war ein absoluter Höhepunkt mit lang gehaltenem Finalton und beeindruckenden Piani wie Höhen. Das Publikum jubelte mit vielfachem Brava! Sergio Escobar konnte als Maurizio zwar mit einem kraftvollen und stabilen Tenor bei guten Höhen mithalten, darstellerisch blieb er aber zu steif und uncharismatisch. Silvia Tro Santafé gab die Principessa di Boullion mit einem farbigen Mezzo und guter Mimik, jedoch nicht ganz der emotionalen Durchschlagskraft ihrer Kontrahentin entsprechend. Eine sehr gute stimmliche Leistung bot Youngjun Park als Michonnet. Ferner sind noch In Sung Sim als Principe di Boullion und Francisco Corujo als Abbé de Chazeuil zu nennen.

Francesco Ivan Ciampa dirigierte das Orquesta Filarmónica de Gran Canaria und auch den Coro de Amigos Canarios de la Ópera mit einem hohen Maß an Detailverliebtheit, die jedoch den Spannungsfaden den ganzen Abend über gespannt hielt. Vor allem musikalisch ein Erlebnis!

Klaus Billand

„Adriana Lecouvreur“ (1902) // Oper von Francesco Cilea

Ein sonderbar Ding …

München / Bayerische Staatsoper (März 2021)
Barrie Kosky inszeniert den „Rosenkavalier“

München / Bayerische Staatsoper (März 2021)
Barrie Kosky inszeniert den „Rosenkavalier“

Um in München eine uralte „Rosenkavalier“-Inszenierung mit Kultstatus von Otto Schenk zu ersetzen, braucht es nicht nur Mut, sondern auch einen ambitionierten und perfektionistischen Regie-Könner wie Barrie Kosky. Dazu das Bayerische Staatsorchester, das auch in pandemiebedingt auf 43 Köpfe reduzierter Stärke in der Instrumentierung von Eberhard Kloke und unter der Leitung des designierten Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski einen kammermusikalisch transparenten Klang beisteuert. Vor allem aber braucht es eine vokale Deluxe-Besetzung, die das Schmuckstück von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal 110 Jahre nach der Dresdner Uraufführung so zum Leuchten bringt, dass einem selbst vor dem Bildschirm noch der Atem wegbleibt. Allesamt nutzen diesen speziellen Strauss-Klang durchweg für ein Fest der Stimmen.

Das gilt zuerst für die drei Damen an der Spitze des Ensembles, allen voran die durchweg intelligent gefühlvolle und hochsouveräne Marlis Petersen mit ihrem Marschallinen-Debüt. Samantha Hankey hebt sich mit ihrem androgynen Octavian vokal dagegen ab und Katharina Konradi vervollständigt mit betörend jugendlicher Klarheit dieses berühmte Damen-Terzett. Wenn sich diese drei zusammenfinden, ist das eine vokale Sternstunde. Passend dazu ist Christof Fischesser ein Ochs von vitaler Prägnanz und Johannes Martin Kränzle der souveräne Faninal. Weil auch die übrigen Rollen durch die Bank vorzüglich besetzt sind, ist ein musikalisches Glanzstück zu vermelden.

Für seine Inszenierung spielt Kosky metaphorisch mit der Zeit, „dem sonderbar Ding“, und überblendet damit einen Perspektivenwechsel. Im ersten Akt nimmt er die der Marschallin ein, im zweiten die von Sophie. Der dritte Akt wird zu einer Inszenierung von Octavian. Im düsteren Schlafzimmer der Marschallin ist nur der Auftritt des Sängers ein Barockglanzlicht. In der übervollen Gemäldegalerie bei Faninals wird das Auftauchen der silbernen Prunkkutsche samt Octavian und Silberrose zum Coup. Den dritten Aufzug verlegt Kosky vom Vorstadtbeisl in ein Vorstadttheater. Hier inszeniert Octavian den Ochs aus dem Stück, um dann gemeinsam mit Sophie wortwörtlich gen Himmel zu entschweben. Als optischer Running Gag geistert ein halbnackter gealterter Cupido durchs Stück und bricht am Ende den Zeiger aus der großen Standuhr, auf deren Pendel sich auch die Marschallin einmal sinnig schaukelt. Kosky setzt in seiner Inszenierung auf die Nahaufnahmen seiner Protagonisten – und hat dabei die richtigen Verbündeten. Dieses ganz besondere, zauberhafte Als-ob-Wien aus der Zeit Maria Theresias als Ganzes bleibt da beinahe auf der Strecke und so vor allem eine klingende Erinnerung.

Roberto Becker

„Der Rosenkavalier“ (1911) // Komödie für Musik von Richard Strauss in einer Bearbeitung von Eberhard Kloke

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand bis 19. April 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

Buffo-Oper in US-amerikanischem Musical-Kleid

Santa Cruz de Tenerife / Ópera de Tenerife (März 2021)
Cimarosas „Il matrimonio segreto“ überquert den Atlantik

Santa Cruz de Tenerife / Ópera de Tenerife (März 2021)
Cimarosas „Il matrimonio segreto“ überquert den Atlantik

Auf die Idee muss man erst mal kommen: eine Oper, die immerhin 54. (!) des italienischen Komponisten und Buffo-Spezialisten Domenico Cimarosa, die an der Hofoper Wien 1792 unter Beisein von Kaiser Leopold II. ihre Uraufführung erlebte, in den Kontext des US-amerikanischen und äußerst erfolgreichen Musicalfilms „Singin’ in the Rain“ von 1952 zu stellen. Das Dramma giocoso kommt im mondänen Auditorio Adán Martín von Santa Cruz auf unorthodoxe und unterhaltsame Weise daher. Roberto Catalano verlegt die Handlung kurzerhand in die Qualitäts-Konditorei Geronimo & Co. ins Manhattan der 1950er Jahre. Im Bühnenbild von Emanuele Sinisi sind Miniaturen des Empire State und des Chrysler Buildings zu erkennen. Die rosa gestylten Kostüme des Personals schuf Ilaria Ariemme. Hier produziert der Napolitaner Geronimo edle Spezialitäten aus seiner Heimat und hat es schon zu etwas gebracht. Allein, das reicht ihm nicht, er möchte über die Verheiratung seiner Tochter Elisetta mit einem Grafen auf der Gesellschaftspyramide noch etwas höher steigen. Da der tatsächlich eintreffende Graf sich aber sofort in die andere Tochter Carolina verliebt, kommt es zu grotesk-komischen Verwicklungen, die bisweilen an Mozarts „Le nozze di Figaro“ erinnern. Denn Carolina hat heimlich den Laufburschen Paolino geheiratet und träumt mit ihm bereits von Auftritten am Broadway …

Es beginnt mit Gene Kelly, Regisseur des Filmmusicals 1952, der als einer der Hauptdarsteller alias Don Lockwood den weltberühmten Tanz zum Schlager von 1929, „Singin’ in the Rain“, im Film vollführte. Er sitzt zu Beginn der Cimarosa-Oper auf der Bühne, mutiert dann zu einer alten Frau, die die ganze Zeit unerkannt mit ihrem Hündchen herumwandelt, bis er am Ende, als alle ein wahres Happy End feiern, den berühmten Sprung mit Regenschirm auf die Laterne macht.

Mit einer feinen Personenregie bei ausgefeilter Mimik aller sowie Fiammetta Baldiserris stets stimmungsbetonender Lichtregie wirken junge Sänger aus Italien, Frankreich, der Türkei und Chile. Das Opernstudio von Teneriffa unter Leitung von Giulio Zappa wählte sie aus 195 Bewerbern aus. Giulia Mazzola überzeugt als Carolina mit einem klangvoll-leuchtenden Sopran und starkem Ausdruck am meisten. Francesco Leone ist ein ebenso souveräner Geronimo mit prägnantem Bass. Ramiro Maturana kann mit seinem Bariton stimmlich auf hohem Niveau mithalten, welches für alle drei bereits den Weg zu Mozart weist. Eleonora Nota ist als Elisetta stimmlich etwas leichter, was jedoch ihrer exzentrischen Rolle entgegenkommt. Claire Gascoin lässt einen guten Mezzo hören und Bekir Serbest fügt sich tenoral bestens in dieses gute Ensemble ein. Davide Levi dirigiert das musikalisch dichte und immer wieder an Mozart erinnernde Werk, das allen Solisten interessante Arien gewährt, mit viel Verve und ausgezeichneter Sängerführung. Das Symphonische Orchester von Teneriffa spielt engagiert mit. Die Produktion geht nun mit zwei Besetzungen an das Teatro Regio di Parma und an das Teatro Massimo di Palermo.

Klaus Billand

„Il matrimonio segreto“ („Die heimliche Ehe“) (1792) // Dramma giocoso von Domenico Cimarosa

Glamouröses It-Girl twittert sich durchs Leben

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wenn jeder erkrankte Tenor an der Wiener Staatsoper mit großartigen Sängerdarstellern wie Piotr Beczała (zuletzt bei „Carmen“) oder nun mit Juan Diego Flórez als Einspringer besetzt wird, darf man sich glücklich schätzen. Der Peruaner lässt seine Spitzentöne wunderschön erstrahlen – vor allem im piano – und besticht mit gefühlvollem Spiel. Für einen perfekten Alfredo fehlt allerdings mehr Durchschlagskraft. Im Belcanto-Fach wahrscheinlich unübertroffen, muss seine Tenorstimme für Verdi noch etwas dramatischer werden. Auch Pretty Yende ist eine außergewöhnliche Darstellerin und berührt nuancenreich bis zum tödlichen Ende. Die südafrikanische Sopranistin beweist ausdrucksstarke Phrasierungskunst und klare Höhe, auch wenn man bei der Mittellage manchmal noch Kraft und Volumen vermisst. Sie ist aber trotzdem eine sehr gute Violetta mit herzzerreißendem „Addio del passato“. Ensemblemitglied Igor Golovatenko bestätigt nach seinem Posa im vergangenen Herbst erneut, dass er über einen wohltönenden, noblen Verdi-Bariton verfügt. Das Dirigat von Hausdebütant Giacome Sagripanti wurde oft langweilig und uneinheitlich geführt.

Die Koproduktion mit der Opéra national de Paris (Premiere 2019) führt uns unter Regisseur Simon Stone in die heutig-schnelllebige Zeit. Chatverläufe und gepostete Selfies flimmern rasant auf übergroßen Video-Leinwänden im Hintergrund. Dies überfordert die Konzentration und führt schnell zu „digitaler Schwindsucht“. Violetta ist keine Edelkurtisane, sondern gelangt als Influencerin mit eigener Parfümlinie zu Ruhm und Reichtum. Umso weniger ist schlüssig, warum Germont sie als eine „vom Weg Abgekommene“ sieht und es stattdessen bevorzugt, seine Tochter an einen saudischen Prinzen zu verheiraten – angesichts der Frauenrechte in diesem Land eher unglaubwürdig. Alfredos Liebesgeständnis wird zwischen Mistkübeln vorgetragen, was ihn scheinbar so verwirrt, dass er in Flaschenkisten stürzt. Um idyllisches Landleben darzustellen, muss Violetta in Gummistiefeln einen Traktor reparieren (worauf Germont von „tanto lusso“ singt?). Die lebende Kuh von der Pariser Produktion hat hierzulande nicht den Tierschutzgesetzen entsprochen und wurde scheinbar auf die Almwiesen zurückgeschickt. Alfredo – im karierten Holzfällerhemd – sitzt bei einem Schubkarren, als ihn sein Vater mit „Di provenza il mar“ zurückgewinnen will. Fällt dem Regieteam zum Thema „Land“ wirklich nichts Besseres ein? Danach muss der Chor vor flimmernden Graffiti-Wänden beinahe unbeweglich in skurrilen Kostümen – Doktor Grenvil mit Dildo als unbegreiflichem „Kopfschmuck“– ein mehr als geschmacksloses Fest bei Flora feiern. Mit gut gezeichneter, dramatischer Wirkung überzeugt lediglich der Beginn des finalen Aktes, als die Todgeweihte ihre Chemotherapie erhält. Im Unterschied zu den anderen Patienten im Hintergrund ist die an Krebs Erkrankte (auch ohne Follower) vollkommen verlassen. Nicht einmal die – in Corona-Zeiten unerlässliche – Jogginghose stört (obwohl sie zusammen mit dem bauchfreien Top sehr unvorteilhaft wirkt). Für die Autorin konnte der Regisseur das Werk Verdis nicht glaubwürdig ins Heute übertragen – besonders beschäftigt die Frage nach Violettas Stigma, die zum Verzicht ihrer großen Liebe führt.

Susanne Lukas

„La traviata“ (1853) // Oper von Giuseppe Verdi