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Premierenkritik

Zarzuela-Begeisterung im weichen Lockdown von Madrid

Madrid / Teatro de la Zarzuela (Februar 2021)
Beste Unterhaltung mit „Luisa Fernanda“

Madrid / Teatro de la Zarzuela (Februar 2021)
Beste Unterhaltung mit „Luisa Fernanda“

„Luisa Fernanda“, eine lyrische Komödie in drei Akten von Federico Moreno Torroba mit einem Libretto von Federico Romero und Guillermo Fernández-Shaw, erlebte im März 1932 ihre Uraufführung am Teatro Calderón de Madrid. Sie gehört zu den populärsten Stücken dieses ursprünglich rein spanischen Genres, welches sich auch in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko und Kuba, ausbreitete. Die Zarzuela, die man bis zu einem gewissen Grad als spanische Operette bezeichnen könnte, verbindet auf unterhaltsame Weise folkloristische Elemente mit klassischer, oft durchaus opernhafter Musik sowie Tanz und Dialog.

„Luisa Fernanda“, die bisher über zehntausendmal aufgeführt worden sein soll, bringt all das aufs Schönste heraus. Das Stück artikuliert zudem die Gegensätze zwischen der feinen Gesellschaft in Madrid und dem Landleben zur Zeit der spanischen Revolution im September 1868, im Spanischen auch „La Gloriosa“ genannt. Sie führte zu Abdankung und Asyl von Königin Isabella II. infolge des Sieges des republikanischen Aufstands. Darum spannt sich eine Liebesgeschichte um die junge Madrilenin Luisa Fernanda, die zwischen einem reichen Großgrundbesitzer aus dem Süden, Vidal Hernando, und dem bereits lange mit ihr verlobten jungen Militär Javier Moreno steht. Im Kampf um die Angebetete wechselt Hernando sogar die Fronten und wird zum Republikaner, nur weil Javier sich aus vorübergehender Sympathie zu Carolina, einer Dame des Hofes in Madrid, den Monarchisten anschließt. Auch wenn Luisa Vidal die Ehe versprochen hat, kommt es schließlich nicht dazu, da er erkennt, dass ihre Liebe zu Javier, der schon für gefallen galt, aber unerwartet zurückkehrt, größer ist. So entlässt er sie mit einer schönen Überzeugung aus ihrem Versprechen: „Un corazón que perdona no es una carga que pesa.“ – „Ein Herz, das verzeiht, ist keine schwere Last.“

Regisseur Davide Livermore schuf dazu ein einfallsreiches Bühnenbild im Stile eines Theaters im Theater. Im Teatro Doré laufen ständig Schwarz-Weiß-Filme aus alten Zeiten und bilden so den historischen Hintergrund und Kontrast – mit dem seinem Ende entgegen gehenden bourgeoisen Leben in der Hauptstadt – zum lebhaften und meist bunten Geschehen des Heute auf der Bühne. Die Kampfszenen und Explosionen der Revolution werden allerdings allzu folkloristisch nur auf den Bühenparavents angedeutet, wo sich das doch im Teatro Doré etwas dramatischer empfohlen hätte. Umso mehr Gewicht legen Livermore und seine Bühnenbildner der Designers Artists Architects Giò Forma, die Kostümbildnerin Mariana Fracasso, der Beleuchter Antonio Castro sowie Nuria Castejón mit einer exzellenten Choreographie auf die eigentliche Handlung mit all ihren Emotionen, einer entsprechend intensiven Personenregie, schmissigen Tanzszenen und stets guten Chorensembles (Leitung Antonio Fauró). Bestens abgestimmtes audiovisuelles Design kam von Pedro Chamizo.

Yolanda Auyanet war mit ihrem klangvollen Sopran eine brillante Luisa Fernanda. Moreno Torroba sah für die Titelrolle allerdings einen Mezzosopran vor. César San Martín gab mit seinem geschmeidigen Bariton einen ausdrucksstarken Vidal Hernando und Jorge de León mit prägnantem Tenor einen Javier Moreno auf Augenhöhe. Roció Ignacio sang die Carolina mit einem facettenreichen Sopran. Die zahlreichen Nebenrollen waren durchwegs gut besetzt. Das Publikum ging mit großer Emotion mit und spendete nach allen offenbar sehr populären Arien und Duetten begeisterten Applaus. Karel Mark Chichon leitete das Orquesta de la Comunidad de Madrid engagiert mit guter Kenntnis der besonderen Herausforderungen einer Zarzuela.

Klaus Billand

„Luisa Fernanda“ (1932) // Comedia lírica von Federico Moreno Torroba

Eisige Zeiten

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Was die Staatsoper Unter den Linden mit ihrer jüngsten Livestream-Premiere bietet, ist Janáček de luxe. Vor allem musikalisch. Aber „Jenůfa“ ist immer noch eine unmittelbar packende und aufwühlende Geschichte über Menschen in einer Gesellschaft, die von einer Moral beherrscht wird, in der die Frauen die Rechnungen für Liebe und Leidenschaft oft allein zahlen. Werden sie ohne den Segen der Kirche und einen angetrauten Mann schwanger, dann haben sie das Problem. Als sich die Stiefmutter der Titelheldin gegen die brutal-patriarchalischen Machtverhältnisse zur Wehr setzen will und dabei genauso brutal vorgeht, vernichtet sie sich gleich selbst. Sie schüttet im doppelten Wortsinn das Kind mit dem Bade aus beziehungsweise verbannt den kleinen unschuldigen Jungen ins Eis. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sonne diesen Kindsmord an den Tag bringt. Das Ergreifende an dieser Geschichte aus einer voremanzipatorischen Zeit liegt in der Kraft, die Jenůfa und Laca aufbringen, einander und auch der verzweifelten Küsterin zu verzeihen. Dass diese Geschichte immer noch funktioniert, sagt nicht nur etwas über die Genialität ihres Schöpfers aus, sondern ebenso über die Abgründe, die auch heute noch in der kollektiven Erinnerung oder im parallelgesellschaftlichen Halbdunkel verborgen sind. Dass „Jenůfa“ (leider) kein Märchen aus uralten Zeiten ist, wird deutlich, wenn man alles Historisierende der Ausstattung auf wenige sparsame Insignien reduziert. So wie es Paolo Fantin mit seinem transparenten Guckkasten und Carla Teti mit ihren unauffällig gestrigen Kostümen in Damiano Michielettos Inszenierung getan haben. Dieser macht aus dem Eis, von dem immer wieder die Rede ist, den einen optischen Coup. Ein spitzer Eisblock durchschlägt hier wie ein Meteor in Zeitlupe die Decke. Der große Rest besteht aus Psychologie und Kammerspiel.

Das funktioniert, weil Simon Rattle die Staatskapelle Berlin nicht nur gleichsam von innen leuchten lässt, sondern die hörbar große Lust hat, der Regie dabei zu folgen. Einen Spezialeffekt bietet der Chor, der im leeren Haus im Parkett und auf den Rängen verteilt ist – so sind wir zwar außen vor, aber doch irgendwie auch mittendrin.

Das Protagonisten-Ensemble auf der Bühne hat Referenzqualitäten. Das fängt an mit der wunderbaren, so lyrischen wie kraftvollen Camilla Nylund als glaubhafter Titelheldin und Stuart Skelton als einem Laca im Wagnertenor-Format. Es geht weiter über den markanten Ladislav Elgr als leichtsinnigem Števa bis hin zu Evelyn Herlitzius als Küsterin (in einer ihrer Paraderollen) und der legendären Hanna Schwarz in der Rolle der Großmutter. Das Ensemble ist nicht nur stimmlich eine Pracht, sondern vermag durchweg aus der entlarvenden Nähe der Kamera einen Vorzug zu machen. Die technische Qualität der Übertragung ist tadellos. Im Saal dabei zu sein, wäre aber auch hier die bessere Lösung.

Joachim Lange

„Její pastorkyňa“ (Jenůfa“) (1904) // Oper von Leoš Janáček

Nuancenreiches Welttheater

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

Ja, es ist schon toll, wenn über einhundert Mann Wagners „Walkürenritt“ oder den „Trauermarsch“ hinfetzen. Doch dann gibt es die eine Künstlerin auf der weiten, leeren Bühne des Münchner Nationaltheaters, die die ganze Welt erstehen lässt. Der Rezensent hob am Ende sein Glas und verneigte sich vor dem Bildschirm …

Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte irgendwie überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub; der Teufel bittet um drei Tage Geigenunterricht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch; durch teuflische Täuschung werden daraus drei Jahre; niemand im Dorf erkennt den Soldaten und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter; enttäuscht nutzt der Soldat den Buchzauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe; doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen die kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen; nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf; als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Teufel. „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“

Was moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute. Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße des ungenannt bleibenden Szenikers im Theaterrund völlig verzichtbar. Zwar blieben Norbert Grafs kleine Tanzeinlagen ebenfalls belangloses Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte oder mit erhobenem Arm eine hohe Klarinettenlinie beschwor, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre: geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige – stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts bemühtem Theoriebau so etwas wie „epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört“ als Assoziation ein. Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung – ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon.

Da stand auch nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken – und beschwor: ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, liebevolle Prinzessin und vermeintlich souveränen reichen Mann, final tobenden Teufel … und zahllose weitere Nuancen als fesselnde Klangdramatik – ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein: Beschwörung durch situativen Klang und aufgeladene Betonung – und Welt und Mensch sind imaginativ sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas heben und tief beeindruckt danken: für ein singuläres Kabinettstück, einen „Kunst-Brillanten“, der lange weiterstrahlt … und dann zurück in unsere Welt: eine Aufzeichnung auf DVD verdient!

Wolf-Dieter Peter

„L’histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“) (1918) // Igor Strawinsky

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 17. Februar 2021 für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 4,90 Euro.

Heillos Inkonsequentes gegen Romantik

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

Ein besonderer Abschied wäre möglich gewesen: In der 1990 gescheiterten „Freischütz“-Neuinszenierung donnerte im Nationaltheater der damalige Schauspieler Klaus Bachler die tödlichen „Freikugel“-Bedingungen Samiels ins Theaterrund. Jetzt hätte der gerne als Erzähler oder Vorleser auftretende Intendant Nikolaus Bachler in seiner letzten Saison nochmals … doch der von ihm engagierte Regisseur sah alles anders.

Der weiße Schimmel „Regietheater“ führt in seinen besten Auftritten bestürzende, faszinierende und horizontbereichernde Werksichten vor. Dafür stand Dmitri Tcherniakov lange Zeit. Als Künstler im 21. Jahrhundert lehnt er überirdische „Freischütz“-Gegebenheiten wie Gottesglaube und Eremiten, Teufelspakte und Samiel ab. Er siedelt die Handlung um Probeschuss, treffsichere Kugeln und allerlei Spuk-Brimborium im Hier und Heute an. Und muss also viel „in die Moderne übersetzen“: neue Texte für die dann stummen Figuren über der Bühne.

Als sein eigener Bühnenbildner hat er als Einheitsbild den hochgelegenen Veranstaltungssaal eines schicken Hotels gewählt. Dessen hintere Holzlamellenwand lässt durch Drehen der Segmente in einen weiteren Saal blicken, dahinter Hochhausfassaden. Im vorderen Saal feiert ein Oligarch oder Boss (imposant mit dicker Havanna Bálint Szabó) mit einer Business-Society ohne Masken und Abstand (tapfer klangschön der Staatsopernchor; Einstudierung: Stellario Fagone), bedient von Hotelpersonal mit Maske; man säuft Bier aus der Flasche. Der Probeschuss besteht darin, aus dem Hotelfenster wahllos einen Passanten abzuknallen. Dafür kommt Tcherniakovs zweite Neuheit abermals zum Einsatz: Auf der schwarzen Leinwand oberhalb blicken wir mit Max durchs Zielfernrohr und sehen dann bei Kilians Schuss das Gehirn des Getroffenen spritzen – erst nachher wird vorgeführt, dass das ein Fake-Filmchen war. Damit wir auch verstehen, dass Max ein Weichei ist, läuft er in einer ärmlichen Strickjacke herum, Typ Oberbuchhalter. Diesen panischen Normalo schleift Kaspar, ein wohl traumatisierter Kriegsheld, später in den abgedunkelten Saal als „Wolfsschlucht“ in einem Plastiksack herein. In einer Ölsardinendose mixt er diese speziellen Kugeln und ballert damit lustvoll herum. Da fehlt jegliche Horror-Atmosphäre. Einzig beeindruckende Regie-Idee für Kaspar, die der kernig-böse Bariton Kyle Ketelsen auch bewundernswert umsetzt: Aus seinem Trauma heraus antwortet er als „Samiel“ mit gepresst abgedunkeltem Bass sich selbst und beschwört sein Ende.

Der ansonsten dominierenden szenischen Enttäuschung entsprechend zieht sich aber Agathe in eben diesem Saal – und nicht in einer Luxussuite – zur Hochzeit um. Woher Ottokar kommt, bleibt unklar, erst recht der Auftritt des Eremiten. Dafür spielt all das in halbhellem Nachtblau – also wohl nur in Max’ neuem Trauma …? Doch da war schon klar, dass Tcherniakovs Werksicht in sich völlig inkonsequent und verkorkst modernisiert war. Da retteten auch die auf die Filmleinwand projizierten neuen Zwischentexte nichts.

Trost für die pausenlos gestreamte Aufführung kam aus dem auf Abstand sitzenden Staatsorchester unter Antonello Manacorda. Die auf gute Übertragungsqualität zielende Aussteuerung ließ die Besonderheiten der Orchesterfassung von Eberhard Kloke nicht so recht erkennen. Doch Manacorda vermied alle spätromantische Aufladung der Emotionen, sondern bezog den Gesamtklang auf die damals lebenden Beethoven und Schubert: schlank, klar, straff, melodieselig wo angebracht. Darin folgte ihm ein exzellentes Solistenensemble: neben dem fiesen Kaspar von Ketelsen der tenoral fast zu gesund strahlende Max von Pavel Černoch; aus Ännchen hatte Tcherniakov eine zweite Tilda Swinton geformt, die auch noch eine lesbische Beziehung zu Agathe andeuten musste – aber Anna Prohaska sang das einfach strahlend weg. Sie alle überragte Golda Schultz: Ihre Agathe klang nach Sopran-Sonnenschein-Gold, dabei weich, mühelos geformt und herzenswarm – eine Verneigung wert. Ansonsten: Auf Nimmerwiedersehen!

Wolf-Dieter Peter

„Der Freischütz“ (1821) // Romantische Oper von Carl Maria von Weber

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 15. Februar 2021 für 30 Tage kostenfrei auf Staatsoper.TV abrufbar.

Leichtsinn mit Folgen

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Heute ist die Versuchung wohl, „Influencerin“ oder „Model“ zu werden und dazu Bernsteins „Glitter and be gay“ zu singen … Diesem schwelgerisch-bösen Mädchentraum setzte Abbé Prévost schon 1731 ein Roman-Denkmal. Den damaligen Bucherfolg hat dann über 100 Jahre später François Auber als Oper gestaltet. Doch erst Jules Massenets Vertonung von 1884 wurde zu einem Erfolg, den Giacomo Puccini wenige Jahre später noch übertrumpfte.

Massenets Manon verlangt keinen üppigen und am Ende fast hochdramatischen, auf alle Fälle hochexpressiven Sopran, sondern „Lyrismus pur“. Dafür ist Elsa Dreisig in der Hamburger Einstudierung eine Idealbesetzung: noch ein Hauch von Kindfrau, dazu viel ungeformte Lebenserwartung, die prompt mal auf diesen und mal auf jenen Weg gelockt werden kann. Das haben Regisseur und Dirigent erfreulicherweise erkannt und weitgehend interpretatorisch umgesetzt.

Regisseur David Bösch nutzt die Corona-Vorgaben und zeigt Menschen oft auf Distanz mit der Sehnsucht nach Nähe. Es sind Menschen in einem zeitlosen Jetzt und Hier und Heute. So genügen ein paar Stühle und Tische auf sonst leerer Bühne für die Erstbegegnung im Wirtshaus, dann für das sehr schlichte Liebesnest in Paris. Kontrastreich fulminant ist Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostümbildner Falko Herold Manons „Erfolg“ in der Welt des „Glitter and be gay“ gelungen: als Shootingstar im Showgeschäft, alles unter der Leuchtschrift „C’est la vie“, alles glamouröse Oberfläche – dahinter die Glücksuche an einarmigen Banditen, wo sich die nicht so glücklichen, daher sich sexy anbietenden „Freundinnen“ Poussette, Javotte und Rosette tummeln. Dass die dann doch zu zarte Manon noch einmal das Glück bei Des Grieux sucht, ihn aus seiner religiösen Zuflucht herauslockt: All das überzeugt szenisch wie musikdramatisch. Nach dem kurzen Glückspiel-Irrglauben lässt Bösch dann alles in einer leeren Öde enden, wo Massenet Manon im Gefangenentransport nach Le Havre an Erschöpfung sterben lässt. Doch Bösch muss da ärgerlicherweise wieder seine „eigene Sicht“ zeigen: Manon kommt wie am Anfang mit ihrem kleinen Rucksack und trinkt Gift, noch dazu aus einem Fläschchen, das eher aus dem 19. Jahrhundert stammt – Massenet ver-schlimm-bessert! Interpretationsgewinn: null!

Dafür entschädigt Dirigent Sébastien Rouland mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und idiomatischem Gespür: eben keinen Puccini aus dem Werk zu machen, sondern die schnellen Umbrüche in der „easy“-Stimmung, den vermeintlich „leichten“ Tonfall junger Menschen im Umgang mit ihrem „leichten“ Leben Klang werden zu lassen.

All das lässt auch Elsa Dreisig ihren musikalischen Feinsinn in Ton wie Körpersprache entfalten und macht Bösch letztlich zweitrangig. Ihr Sopran verströmt mädchenhaft scheue Süße – und blüht dann kurz auf zur großen Emotion. Ihre strahlenden Augen verwandeln sich mehrfach zu innerem Glanz, es singt aus ihr – um dann getreu der raffiniert feinen Komposition Manons Schwäche und die Stimmungsumschwünge vokal zu gestalten bis in die melodramatischen Phrasen hinein. Eine bildhübsche junge Frau, durchs Leben gewirbelt von vokaldramatischen Windstößen der Banalität, Berechnung und Gemeinheit – gut verkörpert und gesungen durch Björn Bürgers Lescaut, Daniel Kluges Guillot-Morfontaine und die anderen Männer. Zu ihnen kontrastiert der feingliedrige Des Grieux von Ioan Hotea, ein schlanker Tenor mit dem nötigen „lyrisme française“, dem Ernst und der Schwäche vor diesen divergierenden Anforderungen des Lebens. Dreisig und Hotea bilden ein anrührend fesselndes Paar des Scheiterns. Ein musikdramatisches Plädoyer für Massenet!

Wolf-Dieter Peter

„Manon“ (1884) // Opéra comique von Jules Massenet

Die Inszenierung ist als Stream ab 12. Februar 2021 für einen Monat kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Spanien macht’s möglich

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Man mag es kaum glauben! In einer Zeit, in der in klassischen Opernländern wie Deutschland und Österreich die Politik sich beharrlich weigert, die systemische Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft anzuerkennen und die Theater-, Konzert- und Opernhäuser zumindest für einen Teil des Publikums zugänglich zu machen, ist das in Spanien und Bulgarien, also an den extremen Rändern der so viel beschworenen „Alten Welt“, derzeit Normalität. In Spanien sind die Häuser nach professionellen Hygiene-Analysen zur Erkennung möglicher Covid-19-Gefahren zum Schluss gelangt, dass man mit einem signifikanten Zuschaueranteil spielen kann. Und in Barcelona wird das Angebot mit einem nahezu Erreichen der genehmigten 50-Prozent-Auslastung gut angenommen, bei Preisen von bis zu 290 Euro im Parkett.

So erlebte am Gran Teatre del Liceu nun Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ in der Regie von Laurent Pelly eine Neuinszenierung, in Koproduktion mit der Opéra national de Lyon und der San Francisco Opera. Pelly erzählt die Geschichte sehr intensiv aus den Augen und den Emotionen Hoffmanns heraus, was ihm mit einer blendenden Personenregie für alle Figuren, selbst die kleinste Nebenrolle, eindrucksvoll gelingt. Das Stück führt so ein starkes Innenleben. Immer geht es um die Tragik Hoffmanns, seine oft überschwängliche Freude und schnell folgende Enttäuschungen. Chantal Thomas baute dazu ein zwischen Realismus und Abstraktion changierendes Bühnenbild, das situationsgemäß einmal überholte Industrietechnik zeigt (Olympia-Akt), dann wieder großbürgerliche Romantik mit einem hochherrschaftlichen Treppenhaus (Antonia-Akt) und dem eleganten Salon einer Edel-Kurtisane (Giulietta-Akt), allerdings ohne Venedig-Aperçu. Die Welt von Lindorf, Coppélius, Doctor Miracle und Dapertutto spielt in diese Szenerie mit surrealen Momenten hinein, was das Ganze noch spannender macht (Videos: Charles Carcopino). Die großflächigen und stets in diskret depressiven Pastelltönen gehaltenen Bühnenwände erinnern an die Minimalkunst des russischen Avantgarde-Künstlers Kazimir S. Malévich (1879-1935). Es passte aber alles, auch aufgrund der Lichtregie von Joël Adam, in großer dramaturgischer Homogenität zusammen und wirkte stets sehr geschmackvoll. Dazu trugen auch die aus der Zeit des Stücks stammenden Kostüme vom Regisseur in Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Delmotte bei.

Man konnte an beiden Abenden zum Teil alternierender Besetzungen alle wunderschönen „Hoffmann“-Melodien auf das Feinste hören. Riccardo Frizza dirigierte das Symphonische Orchester des Gran Teatre del Liceu in stets enger Harmonie mit dem Geschehen, sodass sowohl die dramatischen Höhepunkte als auch die ruhigen und besinnlichen Momente sehr gut gelangen. John Osborn war ein beeindruckender (Premieren-)Hoffmann mit stabiler Mittellage und kräftiger Höhe sowie packender Darstellung. Arturo Chacón-Cruz kam vokal nicht an diese Leistung heran, war aber schauspielerisch sehr gut. Olga Pudova war eine erstklassige Olympia mit bestechenden Höhen, Ermonela Jaho eine gute und sehr musikalische Antonia, und sowohl Nino Surguladze wie Ginger Costa-Jackson stimmlich ansprechende und laszive Giuliettas. Roberto Tagliavini konnte als Bösewicht aufgrund seines wärmeren Timbres besser gefallen als Alexander Vinogradov. Marina Viotti war eine erstklassige und engagierte Muse mit farbigem Mezzo. Der hervorragende Chor des Gran Teatre del Liceu wurde von Conxita Garcia einstudiert.

Klaus Billand

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach