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Sir Simon Rattle

Vielseitig und flexibel

75 Jahre BR-Chor

75 Jahre BR-Chor

Der BR-Chor sucht und findet zu seinem 75. Geburtstag neue Wege, um die „Macht der Musik“ auch in Pandemiezeiten zu feiern

von Tobias Hell

Die Initialzündung kam am 1. Mai 1946, Punkt 8.15 Uhr morgens, als die erste Sendung mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks ausgestrahlt wurde. Auf dem Programm „Lieder und Chöre zum Tag der Arbeit“. Und tatsächlich waren die Sängerinnen und Sänger die Pioniere, die hier als erster neu gegründeter Klangkörper des Hauses die Ärmel hochkrempelten und ihre Stimmen ertönen ließen. Von Volksliedern und geistlicher Musik bis hin zu eigens produzierten Opernaufnahmen war das Repertoire des Ensembles von Anfang an breit gefächert.

Diese Vielseitigkeit wurde über die letzten 75 Jahre hin gewissenhaft gepflegt und zählt auch für den aktuellen künstlerischen Leiter Howard Arman zu den wichtigsten Qualitäten seines Ensembles. „Es ist ein sehr intuitiver Chor, der sich gern auf Neues einlässt und dabei nicht nur auf die Dinge reagiert, die ich auf der Probe sage, sondern auch im Konzert jede noch so kleine Geste wahrnimmt und sofort darauf reagiert. Mit anderen Worten, er verkörpert all das, worauf es beim Musizieren eigentlich ankommt.“ Eine Meinung, mit welcher der englische Dirigent keineswegs allein dasteht. Kaum ein Pultstar der Nachkriegszeit, der nicht mit dem BR-Chor gearbeitet hätte. Rafael Kubelík, Leonard Bernstein, Claudio Abbado oder Sir Simon Rattle. Aber auch ausgewiesene Originalklang-Experten wie Ton Koopman oder Nikolaus Harnoncourt. Umso mehr bedauert man, dass die zum Jubiläum angedachte Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin aus bekannten Gründen vorerst aussetzen musste. Gerade weil die beiden Ensembles auf eine ebenso lange wie fruchtbare künstlerische Freundschaft zurückblicken. Und mit seinem Untertitel „Die Macht der Musik“ wäre Händels „Alexanderfest“ tatsächlich das ideale Werk für diesen Anlass gewesen. Howard Arman ist jedoch kein Mensch, der lange über das klagt, was derzeit nun einmal nicht geht, sondern pragmatisch genug, um gemeinsam mit seinem Chor nach kreativen Alternativen zu suchen. „Beim ‚Alexanderfest‘ wäre vor allem die Orchesterbesetzung einfach zu groß gewesen. Aber wir bleiben trotzdem bei Händel und machen eine Geburtstagsode, kombiniert mit Kompositionen von Henry Purcell und Daniel Purcell. Bei diesem Programm haben wir die Möglichkeit, für die beiden Hauptwerke zwei separate Besetzungen aufzustellen und so trotzdem alle Mitglieder des Chores zum Geburtstag zu Wort kommen zu lassen. Das war mir sehr wichtig.“

Schöpferisch durch die Krise

Fünf Jahre nach seinem Amtsantritt hat Arman dem BR-Chor seinen eigenen Stempel aufgedrückt und neue Schwerpunkte gesetzt, daneben aber auch die von Vorgängern wie Michael Gläser oder Peter Dijsktra angestoßenen Linien weitergeführt. Der Blick geht zwar nach vorne, ohne dabei jedoch etablierte Traditionen zu vergessen. Eine Mischung, die so gut angenommen wird, dass Aboplätze für die eigene Konzertreihe schon lange als Mangelware gelten. Die enge Verbindung zu seinem Publikum wollen das Ensemble und sein künstlerischer Leiter daher auch unter den aktuell erschwerten Bedingungen nicht abreißen lassen. „Ein Chor ist immer Teil seines Umfeldes. Wir alle sind gezwungen, kurzfristiger zu planen und zu leben. Und wir müssen eben nicht nur mit der Situation zurechtzukommen, sondern auch darauf reagieren. Das haben Komponisten und Musiker zu allen Zeiten getan. Ich bin kein Fan davon, Programme nur zu verkleinern oder zu verkürzen. Deshalb haben wir im letzten Jahr auch Kompositionen in Auftrag gegeben und versucht, neue Verbreitungswege zu entwickeln. Das sehe ich durchaus als etwas sehr Schöpferisches. Damit wir mal nicht immer nur über die Nachteile der Pandemie reden.“

Ob das Jubiläum im Mai zumindest vor teilweise gefülltem Saal gefeiert werden kann oder wieder nur als Stream über die Bühne geht, steht zum Redaktionsschluss wie so vieles andere noch in den Sternen. Den Optimismus, dass irgendwann wieder eine Art von Normalität einkehren wird, will man sich aber auch beim BR nicht nehmen lassen, wo der Probenbetrieb unter strengen Auflagen in kleinen Gruppen weitergeführt wird und einiges von dem, was aus dem ersten Lockdown geschoben werden musste, nun eben in adaptierter Form kommen soll. So unter anderem ein groß angelegtes Mahler-Projekt mit dem österreichischen Kollektiv Franui oder auch eine „Schubertiade“ in kleinen Besetzungen.

Probenarbeit zu Arvo Pärts „Miserere“ anlässlich der Salzburger Festspiele 2019 unter Mitwirkung des Komponisten: Howard Arman (links) und Arvo Pärt im Gespräch mit Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler (Foto Salzburger Festspiele / Marco Borrelli)

Estnische Spiritualität und bayerische Stubenmusi

Frisch im Handel erhältlich ist dazu eine CD, mit der gleich noch an ein weiteres Jubiläum erinnert wird. Gilt es neben dem 75-jährigen Bestehen des BR-Chores doch ebenfalls den 85. Geburtstag von Arvo Pärt zu feiern, dessen Werke im Repertoire des Ensembles seit langem einen wichtigen Platz einnehmen. „Wir haben das als eine sehr angenehme Pflicht empfunden, weil wir eine sehr starke Verbindung mit ihm und seiner Musik haben. Er war sehr enttäuscht, dass er nicht nach München kommen konnte, um mit uns zu feiern.“ Hauptwerk auf der CD, die man gemeinsam mit dem œnm (œsterreichisches ensemble fuer neue musik) und dem Münchner Rundfunkorchester realisierte, ist Pärts „Miserere“ als Live-Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 2019. Ein Konzert, an das sich Arman ebenso gern erinnert wie an die vom Komponisten selbst intensiv begleitete Probenzeit.  „Es ist schön, zu unserem gemeinsamen Jubiläum eine Live-Aufnahme zu haben, die so viel Kraft vermittelt. So ein heikles Stück 1:1 ohne Korrekturen auf CD übernehmen zu können, sagt schon einiges aus. Über die gute Zusammenarbeit mit dem œnm, aber auch über unsere Sängerinnen und Sänger, weil wir mit Ausnahme des Countertenors alle Soli aus den eigenen Reihen besetzen konnten.“

Von der weltlichen Seite erlebt man den Chor dagegen auf der ebenfalls vor Kurzem erschienenen CD mit Edward Elgars „From the Bavarian Highlands“. Einem Zyklus, zu dem der englische Komponist bei einem Ferienaufenthalt in den Alpen beeinflusst wurde. Hier trafen sich Heimat und Wahlheimat von Howard Arman, beim Livekonzert im Münchner Herkulessaal ergänzt durch eine original bayerische Stubenmusi. Wobei es besonders schön war, dass man für dieses Crossover im besten Sinne des Wortes „nur geringfügig außerhalb der eigenen Familie“ schauen musste. Kamen die Volksmusik-Beiträge doch ebenfalls von Mitgliedern des Chores oder aus deren direktem Umfeld. „Es zeigt, aus welchem Hintergrund das Singen manchmal entspringt. In der Kindheit ist das erste, das man singt, ja eher selten Mendelssohns ‚Elias‘, sondern eben Volkslieder. Und da gibt es eine sehr lebendige Kultur, die wir zeigen wollten. Davon waren auch die Mitglieder der Elgar Society in London sehr begeistert, mit denen ich im Vorfeld über unsere Idee gesprochen habe.“

Experimente und neue Begegnungen ist man beim BR-Chor also gewohnt. Und auch, wenn sich das gemeinsame Singen auf absehbare Zeit wohl eher in übersichtlichem Rahmen abspielen wird, steht Qualität bei Howard Arman und seiner Truppe weiterhin an erster Stelle. „Natürlich planen wir auch größere Werke in der Hoffnung, dass diese bald wieder möglich sein werden. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von kleineren Stücken, auf die ich mich sehr freue. Die Größe der Besetzung sagt ja nichts über die Gedankengröße dahinter aus. Nehmen wir zum Beispiel Händel, der in seinen Opern oder Oratorien gern in wichtigen Momenten das Orchester reduziert. Wenn da eine Arie nur von einer Violine begleitet wird, dann heißt es aufpassen!“ Egal ob im kleinen oder großen Format, der BR-Chor ist für alles gerüstet.

CD-EMPFEHLUNGEN

Arvo Pärt: „Miserere“ (Chor- und Instrumentalwerke)
Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner ­Rundfunkorchester, œnm – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Edward Elgar: „From the Bavarian Highlands / Partsongs“
Chor des Bayerischen Rundfunks – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2021

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München ein bisschen aufrütteln

Sir Simon Rattle übernimmt ab Herbst 2023 Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Sir Simon Rattle übernimmt ab Herbst 2023 Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

von Wolf-Dieter Peter

Sir Simon Rattle
(Foto Oliver Helbig)

„Aber bitte mit Sahne …“ gilt so in etwa für das Münchner Kultur-Selbstverständnis. Auch wenn Berlin Bundeshauptstadt ist, die dortigen Philharmoniker schon Weltklasse sind und ein immer noch fabulöses Konzertgebäude bespielen: München kann sich mit Mozart-, Wagner-, Strauss-, etlichen anderen Uraufführungen und seinen Orchestern durchaus ebenfalls in die Weltliga der Musik einreihen. Deshalb ist traditionell das Beste gerade gut genug.

Reaktion eins: Wenn man einen Maazel, Celibidache, Levine oder Mehta in der Stadt hatte, wenn man die derzeit wohl herausragende Begabung – einen Kirill Petrenko – an Berlin abgegeben hat, dann muss nach dem Tod von Mariss Jansons etwas „Großkalibriges“ den seit einem Jahr verwaisten Chefsessel des BRSO einnehmen. Schließlich kam ein Weltstar wie Leonard Bernstein zu seiner „Tristan“-Einspielung eben hierhin – und deutlich weniger glamourös, aber von selten anzutreffender Tiefe und Herzenswärme war auch die Ära des unvergesslichen Rafael Kubelík als BRSO-Chef. Ein Konzert unter Kubelík mit Beethovens 9. Symphonie soll 1970 in Liverpool einen prägenden Eindruck hinterlassen haben: Der Teenager Simon wollte genau so ein Dirigent werden.

Sir Simon Rattle und das BR Symphonieorchester
Sir Simon Rattle und das BR-Symphonieorchester (Foto Astrid Ackermann)

Reaktion zwei: „Rattle-di-tattle“ … na, da kommt einer, der wird dem stets gediegenen, mitunter auch selbstgefälligen Münchner Musikleben mal so etwas wie das Tanzen beibringen! Der 1955 geborene Liverpooler Simon Rattle hat schon in seiner ersten Chefposition beim zunächst nur regional bekannten Birmingham Symphony Orchestra internationales Aufsehen erregt. Seine von 2002 bis 2018 – also ganze 16 Jahre – währende Chef-Periode bei den Berliner Philharmonikern führte das vor, was München jetzt guttun wird: Neugier über gängige Repertoirebereiche hinaus – siehe seine Videobox „Musik im 20. Jahrhundert“. Ein Musizieren, das nicht auf emotionale Überwältigung zielt, sondern auf feine Klangreize und Durchhörbarkeit, dazu die Freude an Monumenten der Klassik – das zeigen Rattles Einspielungen der ersten zwei Werke aus Wagners „Ring des Nibelungen“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Vor allem aber „Kommunikation über Grenzen hinaus“: Rattle spielte mehrfach Filmmusik ein, er dirigierte zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London, initiierte ab 2002 mit den Berliner Philharmonikern das Projekt „Zukunft@BPhil“, mit dem Kinder an Musik herangeführt wurden, gipfelnd in dem Tanzprojekt auf Strawinskys „Sacre du Printemps“ sowie mehrfach preisgekrönt verfilmt als „Rhythm is it“. Auf dieser kommunikativen Schiene – niederschwellig erstklassige Kunst zu vermitteln – sollte München also einiges erwarten. Außerdem kann das internationale Renommee, mit dem Rattle antreten wird, der problem- und jetzt auch finanziell belasteten Situation um einen neuen Münchner Konzertsaal-Bau nur zuträglich sein. Schon einmal hat der „british style“ um Sir Peter Jonas Münchens Musikleben in der Oper eine singuläre Blüte beschert. Das als Omen genommen: Welcome Sir Simon!