„Vielleicht können sie nur gelingen, wenn man alle seine Poren öffnet, osmotisch, wenn man alle Stimmungen, Farben und Gerüche so weit inhaliert, dass sie im richtigen Augenblick ganz selbstverständlich wieder aus einem herausströmen“, sagt Christian Thielemann über Wagners „Meistersinger“ im Booklet. Und diesen Anspruch löst er in seiner Salzburger Osterfestspiel-Produktion auch ein: Majestätisch erstrahlt das lichte Vorspiel ohne falsches Pathos, komplexe, dramatische Szenen wie die „Prügelfuge“ bleiben trotz dynamischer Zuspitzung transparent im Stimmengeflecht, lyrische Szenen wie Stolzings Preislied, Sachs’ Fliedermonolog oder das Quintett bestimmen eine zärtliche Poesie ohne Anflüge ins Sentimentale. Und auch vor komischen Momenten hat diese Einstudierung keine Scheu.

„Die Meistersinger von Nürnberg“ zählt zu Thielemanns ganz besonderen Herzensstücken, was auch der Video-Mitschnitt einer Vorstellung von 2008 aus der Wiener Staatsoper dokumentiert, der eine der schönsten Inszenierungen dieses Stücks von Otto Schenk konserviert. Elf Jahre später konnte er nun – mittlerweile wie sein einstiger Förderer Karajan auch als Entdecker von Stimmen unterwegs – die Partien idealer besetzen, wovon der CD-Mitschnitt der Sächsischen Staatskapelle und des Staatsopernchors Dresden Zeugnis gibt: Mit exquisiter Textverständlichkeit, Ausdrucksintensität und profunder Stimmführung empfiehlt sich allen voran Georg Zeppenfeld als einer der momentan besten Interpreten des Hans Sachs, wobei sein Schuster weniger alt daherkommt als die meisten berühmten Kollegen vor 30 Jahren. Klaus Florian Vogt steht als Ritter Stolzing mit lichten Höhen im Zenit seiner lyrischen Sangeskunst. Als David gefällt der in allen Registern geschmeidig und agil tönende Sebastian Kohlhepp. Eine Klasse für sich in der kleineren Partie des Veit Pogner ist der kernige Bass Vitalij Kowaljow. Jacqueline Wagner singt die Eva mädchenhafter und anmutiger als Ricarda Merbeth in der Wiener Aufnahme, Adrian Eröd verleiht der düpierten Figur des Sixtus Beckmesser bewegende und elegante Tiefenschärfe. Aufführungsgeschichte dürfte diese Produktion vor allem aber auch dank der fulminanten Orchesterleistung schreiben: Jede Phrase, jedes Solo wird sensitiv erkundet und filigran ausziseliert, eine nach Fliederduft schimmernde Pianokultur bewirkt eine zutiefst anrührende Innigkeit im Lyrischen. Aber auch der überwältigende „Wach auf“-Chor, dessen Beginn mit der Fermate Thielemann wie ein Ausrufezeichen monumental ausstellt, kann in der Aufnahme in seiner starken energetischen Wirkung nachempfunden werden.

Wann die Aufführung einer so groß besetzten Oper in Pandemie-Zeiten wieder möglich sein wird, steht noch in den Sternen. Dasselbe gilt für Schönbergs „Gurre-Lieder“, die Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle in Dresden gerade noch rechtzeitig im März 2020 vor dem ersten Lockdown in Dresden aufführen konnte. Beide Aufzeichnungen erweisen sich von daher als ein großer Glücksfall und unverzichtbar für Thielemann-Fans. Stilistische Anklänge an Wagners „Tristan“ und Debussys „Pélleas et Mélisande“ ziehen sich durch dieses Drama um den König Waldemar und seine von der eifersüchtigen Königin ermordete geliebte Tove. Insbesondere im ersten Teil, dem Zwiegesang zwischen den Liebenden, schwankt die Musik zwischen geheimnisvollem Knistern und leidenschaftlicher Ekstase, weshalb man die Aufnahme am besten mit Kopfhörern abspielen sollte. In der sehr fordernden, hoch anspruchsvollen, strapazierenden Partie des Königs gelingt allen voran Stephen Gould eine Glanzleistung, wie sie wohl kaum ein anderer Heldentenor im Alter von 58 Jahren zu meistern in der Lage wäre.

Kirsten Liese

INFOS ZU DEN CDs

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868)
Zeppenfeld, Vogt, Wagner u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
4 CDs, Profil


Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“ (1913)
Gould, Nylund, Mayer u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
2 CDs, Profil