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Medien 2021/01

Entdeckerfreude und Wiedergutmachung

Jaromír Weinberger: „Frühlingsstürme“

Jaromír Weinberger: „Frühlingsstürme“

Entdeckerfreude und Wiedergutmachung – wen letzteres misstrauisch macht: Barrie Kosky steht ja grundsätzlich für theatralisch unterhaltsame „Stürme“ – und auch für Ausgrabungen von Berliner Erfolgen. Hier geht es um die am 20. Januar 1933 letzte glamouröse Operetten-Premiere im Admiralspalast vor der „Machtergreifung“ am 30. Januar. Vierzig Tage später wurde das gefeierte Werk des jüdischen Komponisten Jaromír Weinberger abgesetzt und verboten.

Damals sangen die bildschöne Jarmila Novotna und Star-Tenor Richard Tauber. Jetzt ist Vera-Lotte Boecker eine überzeugende Diva und reiche russische Witwe Lydia mit strahlendem Sopran. Seine türkische Abstammung kann Tansel Akzeybek in einen Hauch von „Osten“ für den japanischen Diener-Spion Ito verwandeln, vor allem aber besitzt er einen mühelosen Tenor mit glasklarer Artikulation. Er ist der Störfaktor im Schwarm russischer Garde-Offiziere um die begehrte Frau, die der amüsant alltags- und liebes-trottelige General Katschalow unbeirrt liebt. Doch militärisch gewieft gibt er für den im Hintergrund heraufziehenden russisch-japanischen Krieg von 1905 über Lydia falsche Informationen weiter, mit denen sie dem in einem großen Duett halb-und-halb geliebten Ito zur Flucht verhilft. Monate später treffen alle bei Friedensverhandlungen im Drehtür-Wirbel des Nobelhotels von San Remo aufeinander. Diplomat Ito hat geheiratet und singt Lydia nun wehmütig „Du wärst die Frau für mich gewesen“ hinterher. Sie rettet die durch die Ito-Flucht beschädigte Ehre von Katschalow und gibt ihm ihr Ja-Wort. Nebenbei sind seine Tochter Tatjana samt deutschem „rasenden Reporter“ Roderich durch die Szenen getaumelt-stolpert-küsst und dürfen nun auch ein Paar werden.

Für all das hat Weinberger eine mal kess bunte, mal emotional schwelgerische Mischung von großem Orchester mit jazziger Tanz-Band geschrieben, was Dirigent de Souza wie edlen Boulevard-Schampus serviert. Doch reizvoll „anders“ klingt und wirkt, dass sich fast operntragisch Tenor und Sopran nicht kriegen und die Absurdität allen Kriegs als fataler Hintergrund aufscheint – über alle Heimlichkeiten und Pistolen-Spiele hinweg dürfen Filmfreunde an Lubitschs unsterbliches „Sein oder Nichtsein“ denken. So wirkt auch der fast bühnengroße Militär-Truhenkoffer (Bühne: Klaus Grünberg) zunächst befremdlich düster, ehe er sich mal zum Boudoir oder zur erinnerungsseligen Show-Treppe für ein Folies-Bergère-Feder-Boa-Ballett (herrliche Choreographie-Vielfalt: Otto Pichler) auffächert. Durch Barrie Koskys turbulenten Mix hindurch ist einem der Theater-Lorbeer zuzuwerfen: Schauspieler Stefan Kurt mischt in der Sprechrolle des Generals Katschalow nicht nur Militärsteife mit Männerstolz und liebesblinder Trotteligkeit, er bewegt sich rhythmisch genau mit allen singend-tanzenden Partnern, bringt genau getimt seine melodiös eingefärbten Texteinwürfe – und dann gipfelt seine Liebesverzweiflung in einer abgründigen Parodie von Lenskis todesverschatteter Abschiedsarie „Wohin, wohin bist du entschwunden“. Da berühren sich wie in aller großen Kunst Tragödie und Komödie – und verdienen ein „Stupendo! – Bravo!“ All das zusammen brachte der reizvollen Aufzeichnung soeben den Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ein.

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUR DVD/BLU-RAY

Jaromír Weinberger: „Frühlingsstürme“ (1933)
Kurt, Sadé, Boecker, Köninger, Akzeybek, Lindenberg u.a.
Jordan de Souza (Dirigat), Barrie Kosky (Inszenierung)
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin
1 DVD/Blu-Ray, Naxos

Originelle Geschichte für musikbegeisterte Kinder

Loretta Stern und Bela Brauckmann (Autoren), Ulf Keyenburg (Illustrator): „Der kleine Ton“

Loretta Stern und Bela Brauckmann (Autoren), Ulf Keyenburg (Illustrator): „Der kleine Ton“

Im Mittelpunkt dieses Buches steht ein kleiner Ton, der in der zweiten Zeile eines Klavierstücks wohnt. Die Noten dieses Klavierstücks stehen auf einem Klavier, auf dem das Mädchen Antonia eigentlich üben sollte. Doch sie spielt immer nur die erste Zeile, sodass der kleine Ton gar nicht erklingen kann. Irgendwann reicht es dem kleinen Ton, und er schwingt sich von seiner Notenlinie hinein in die Stadt und in die Welt der Musik und der Geräusche. Er und seine Freundin Penny Pause, die er unterwegs kennenlernt, treffen auf einen Presslufthammer, einen plätschernden Brunnen, vor dem ein Mädchen auf einer Gitarre spielt, in der U-Bahn hören sie Rapper, und später kommen sie bei einem Popkonzert und einer Jazzband vorbei. Am Ende bekommt der kleine Ton noch einen ganz großen Auftritt – aber mehr will ich nicht verraten.

Ich finde das Buch sehr gut und sehr witzig geschrieben. Die Idee mit dem kleinen Ton, der klingen möchte, ist sehr originell. Wenn man einmal mit dem Lesen anfängt, möchte man gar nicht mehr aufhören, weil immer wieder neue Musikarten hinzukommen. Es ist ein gutes Buch für Kinder, die Noten lesen können und auch ein Instrument spielen.

Ich finde allerdings, dass die Illustration etwas zu wünschen übriglässt. Im Text ist vieles sehr bunt und farbenfroh beschrieben, die Abbildungen sind aber nur in den Farben Rot, Weiß, Schwarz und Grau gehalten. Das passt nicht zusammen und ist ein bisschen eintönig. Ich finde auch die Altersempfehlung mit vier Jahren etwas zu früh. Es werden oft schwierige englische Wörter verwendet, die die meisten Kinder mit vier Jahren nicht verstehen.

Insgesamt ist es aber ein sehr interessantes und spannendes Buch für musikbegeisterte Kinder, das ich sehr empfehlen kann.

Carla Bastuck, 11 Jahre

INFOS ZUM BUCH

Loretta Stern und Bela Brauckmann (Autoren), Ulf Keyenburg (Illustrator): „Der kleine Ton“
72 Seiten, Migo Verlag
auch als ungekürzte inszenierte Lesung und Lieder-CD erhältlich

#makemusicnotwar

Dror Zahavi (Regie): „Crescendo #makemusicnotwar“

Dror Zahavi (Regie): „Crescendo #makemusicnotwar“

Schon der erste Lockdown verhinderte die verdiente Breitenwirkung eines besonderen Musikfilms. Nun sind wiederholt die Türen sämtlicher Kulturstätten geschlossen. Dafür holt der DVD-Player mit großem Bildschirm und gutem Klang die Welt der Musik ins Wohnzimmer – und mit dazu ein gärendes Problem, für das seit 20 Jahren ein spezielles Ensemble mögliche musikalische Lösungswege erklingen lässt.

Peter Simonischek gleicht ein bisschen Edward Said, dem schon verstorbenen Mitbegründer des „Orchester des West-Östlichen Divans“. Seit 1999 gastiert das jetzt hauptsächlich mit Daniel Barenboim verbundene Ensemble weltweit als Beispiel dafür, wie gemeinsames Musizieren den arabisch-israelischen Konflikt zeitweise und begrenzt überwinden kann. In Regisseur Dror Zahavis wuchtigem Film kommt die auf internationales Business-Niveau gestylte Bibiana Beglau als Karla de Fries auf Professor Eduard Sporck (Peter Simonischek) zu – die kühl erfolgsorientierte Managerin der weltweit tätigen „Stiftung für effektiven Altruismus“ auf den ehemals renommierten Dirigenten mit immer noch wohlklingendem Namen: Parallel zu einer diplomatischen Konferenz soll ein frisch zusammengestelltes arabisch-israelisches Jugendorchester unter seiner Leitung ein publicityträchtiges Beispiel mit internationaler Wirkung geben. Im lichtdurchfluteten Marmortreppenhaus eines Frankfurter Hochschul-Imitats sagt Sporck nach anfänglichem Zögern zu – im Film gekonnt kontrastiert mit der Szene eines mühsam-gefährlich-diskriminierenden Weges zweier palästinensischer Jugendlicher über die Grenze zum Vorspiel in Tel Aviv. „Sporck – das ist der Porsche!“, jubelt der palästinensische Vater der Geigerin Layla (mit vielfältiger Emotion Sabrina Amali), die es in die Auswahl schafft und feststellen muss, dass der smarte, allzu weltgewandte Israeli Ron (überzeugend Daniel Donskoy) weit besser und auch noch sensibel freier spielt. Dennoch oder gerade deswegen wird sie von Spork als Konzertmeisterin eingesetzt.

Im von der Stiftung gesponserten, idyllischen Südtiroler Burg-Domizil greift der in gruppendynamischen Prozessen erfahrene Sporck die Aversion, ja den schwelenden Hass zwischen Israelis und Palästinensern auf. In aggressiven Konfrontationsübungen und heftigen Diskussionen prallen historisches Unrecht, gewachsene Vorurteile und aktuelle Missstände aufeinander – so sehr andererseits die musikalischen Proben auch ein Miteinander erzwingen. Über Dvořáks Bläserserenade, Pachelbels Kanon D-Dur oder das so emotionale wie traumverlorene Largo aus Dvořáks 9. Symphonie stellt sich langsam das nötige „harmonische“ Zusammenspiel ein – was die Neue Philharmonie Frankfurt unter Dirigent Jens Troester klangtechnisch perfekt realisiert und Simonischek ohne Maestro-Überzeichnung bis hin zu Vivaldis „Winter“ gut „dirigiert“.

Parallel hat sich eine überschwänglich heftige Jugendliebe zwischen dem schüchternen palästinensischen Hochzeits-Klarinettisten Omar (Mehdi Meskar) und der quirlig-sonnigen Hornistin Shira (Eyan Pinkovich) aus einer arrivierten israelischen Familie entwickelt. Als die beiden ihre Liebe samt Musikstudium in Paris leben wollen und fliehen, kommt es zu einer tödlichen Katastrophe. Einige Filmkritiker kritisierten dies – doch die zuvor ob ihres Realismus hochgelobten Szenen der Grenzkontrollen bilden genau den begründenden Hintergrund dazu. Diskutabel ist eher, ob der grauenhafte NS-Medizin-Hintergrund der Eltern, den Dirigent Sporck als sein „Paket“ einbringt, nicht ein großes Problemfeld anreißt, ohne es gebührend zu behandeln. Am Ende lässt der tragische Todesfall das Konzertprojekt scheitern und die windschnittige Kulturmanagerin ist bereits Richtung Afrika orientiert. Ganz zuletzt scheint dann die Suche nach einer gemeinsamen Basis – anders als erwartet – doch noch zu glücken: Mit seinem Geigenbogen beginnt Ron an der Glaswand zwischen den getrennten Abflughallen den pochenden Rhythmus – und widerstrebend, aber eben unwiderstehlich zwingt am Ende der gruppenweise Instrumenteneinsatz und der verführerische Sog von Ravels „Bolero“ noch einmal alle Musiker beider Seiten zusammen … zu einem musikalischen Crescendo, hinter dem nur unsere politische Realität wie so oft weit zurückbleibt. Noch dazu tröstet dieser realitätsnahe Musikfilm über viele entgangene Aufführungen hinweg.

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUM FILM

„Crescendo #makemusicnotwar“
Simonischek, Beglau, Donskoy, Amali, Meskar u.a.
Dror Zahavi (Regie)
1 DVD/Blu-Ray, Camino/Good!Movies

(Zwei) Werkprobleme hochkünstlerisch gelöst

Alexander von Zemlinsky / Arnold Schönberg: „Der Zwerg / Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene“

Alexander von Zemlinsky / Arnold Schönberg: „Der Zwerg / Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene“

Rund 80 Minuten dauert Zemlinskys Einakter „Der Zwerg“ – was spielt man zu diesem anspruchsvollen Werk als Abendergänzung? Und wie besetzt man die Titelrolle, die einen hochexpressiven Tenor verlangt, aber eben mit zwergenhafter Bühnenerscheinung? Noch vor seinem exzellentem Bayreuth-Debüt – mit dem glänzenden Kleinwüchsigen Manni Laudenbach als Oskar – präsentierte Regisseur Tobias Kratzer in der Deutschen Oper Berlin eine überzeugende Lösung für beide Probleme.

Die verbürgt hoffnungslos glühende, aber scheiternde Liebesschwärmerei des kleinen, abgestanden nach Zigarren riechenden „Kompositionslehrers“ Zemlinsky für die hoch gewachsene, schön-berechnende „Schülerin“ Alma Schindler, spätere Mahler-Gropius-Werfel: Das formte Kratzer zu einem quasi-expressionistischen Stummfilm-Melodram auf der Bühne, dem GMD Donald Runnicles Schönbergs „Lichtspielszenen“-Musik aus dem Orchestergraben unterlegte – ein ironisch bitteres Vorspiel, das Adelle Eslinger-Runnicles und Evgeny Nikiforov mit theatralischen Hochmuts- und Verzweiflungsgesten füllen. Eine überzeugende, ja bestechende Verlängerung des Abends auf 90 Minuten.

Als sich der Vorhang wieder öffnet, zeigt Kratzers Dauerausstatter Rainer Sellmaier einen schicken weißen Konzertsaal. Denn Kratzer greift Kerninhalte des Werkes szenisch auf: Der kleinwüchsige Mick Morris Mehnert tritt als Zwerg im Dirigentenfrack, also als Mini-Zemlinsky mit der Partitur unter dem Arm auf, über den ehrenhaften Empfang erfreut, aber künstlerisch durchaus selbstbewusst. Er dirigiert später ein auf dem Konzertpodium platziertes Teilorchester mit Zemlinsky-Musik vor dem Damenchor als eitlem „Lady-Club“, wird dann aufgefordert zu singen – und da fordert Kratzer einfach die Phantasie aller Zuschauer heraus: Der Zwerg sieht sich ja selbst als Held und Ritter – also tritt hinter ihm der hochgewachsene Tenor David Butt Philip im Frack als sein imaginiertes Alter Ego auf und singt strahlend – mehr noch: Der hochbegabte Mehnert singt nicht nur den ganzen Tenor-Text stumm mit, sondern agiert künstlerisches Selbstbewusstsein, vor allem aber die in hochlyrischen Phrasen aufschäumende Liebe zur Model-schönen Prinzessin von Elena Tsallagova darstellerisch so expressiv aus, dass sein Drama in Bann schlägt. Denn ein paar Momente lang ist Tsallagovas Prinzessin mal mit warmen Tönen angerührt, doch dominant eben kühl amüsiert-distanziert. All das gipfelt in der „Spiegel-Szene“, für die eine zunächst schwarze Glaswand den weißen Saal begrenzt; parallel zum Liebesscheitern wird sie durchsichtig und Tenor Butt davor, dahinter der „Zwerg“ Mehnert vollführen einen erschütternden Erkenntnistanz … Das Ende sei nicht verraten, jedenfalls aber: so anrührendes wie fesselndes Musiktheater und ein Plädoyer für ein unterschätztes Werk, das nur so dramaturgisch-inszenatorisch erstklassig geboten werden muss.

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUR DVD/BLU-RAY

Alexander von Zemlinsky / Arnold Schönberg: „Der Zwerg / Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene“
Eslinger-Runnicles, Nikiforov, Tsallagova, Magee, Philip, Mehnert, Jekal u.a.
Donald Runnicles (Dirigat), Tobias Kratzer (Inszenierung)
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
DVD/Blu-Ray, Naxos

Präcoronale Herzstücke

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ & Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ & Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“

„Vielleicht können sie nur gelingen, wenn man alle seine Poren öffnet, osmotisch, wenn man alle Stimmungen, Farben und Gerüche so weit inhaliert, dass sie im richtigen Augenblick ganz selbstverständlich wieder aus einem herausströmen“, sagt Christian Thielemann über Wagners „Meistersinger“ im Booklet. Und diesen Anspruch löst er in seiner Salzburger Osterfestspiel-Produktion auch ein: Majestätisch erstrahlt das lichte Vorspiel ohne falsches Pathos, komplexe, dramatische Szenen wie die „Prügelfuge“ bleiben trotz dynamischer Zuspitzung transparent im Stimmengeflecht, lyrische Szenen wie Stolzings Preislied, Sachs’ Fliedermonolog oder das Quintett bestimmen eine zärtliche Poesie ohne Anflüge ins Sentimentale. Und auch vor komischen Momenten hat diese Einstudierung keine Scheu.

„Die Meistersinger von Nürnberg“ zählt zu Thielemanns ganz besonderen Herzensstücken, was auch der Video-Mitschnitt einer Vorstellung von 2008 aus der Wiener Staatsoper dokumentiert, der eine der schönsten Inszenierungen dieses Stücks von Otto Schenk konserviert. Elf Jahre später konnte er nun – mittlerweile wie sein einstiger Förderer Karajan auch als Entdecker von Stimmen unterwegs – die Partien idealer besetzen, wovon der CD-Mitschnitt der Sächsischen Staatskapelle und des Staatsopernchors Dresden Zeugnis gibt: Mit exquisiter Textverständlichkeit, Ausdrucksintensität und profunder Stimmführung empfiehlt sich allen voran Georg Zeppenfeld als einer der momentan besten Interpreten des Hans Sachs, wobei sein Schuster weniger alt daherkommt als die meisten berühmten Kollegen vor 30 Jahren. Klaus Florian Vogt steht als Ritter Stolzing mit lichten Höhen im Zenit seiner lyrischen Sangeskunst. Als David gefällt der in allen Registern geschmeidig und agil tönende Sebastian Kohlhepp. Eine Klasse für sich in der kleineren Partie des Veit Pogner ist der kernige Bass Vitalij Kowaljow. Jacqueline Wagner singt die Eva mädchenhafter und anmutiger als Ricarda Merbeth in der Wiener Aufnahme, Adrian Eröd verleiht der düpierten Figur des Sixtus Beckmesser bewegende und elegante Tiefenschärfe. Aufführungsgeschichte dürfte diese Produktion vor allem aber auch dank der fulminanten Orchesterleistung schreiben: Jede Phrase, jedes Solo wird sensitiv erkundet und filigran ausziseliert, eine nach Fliederduft schimmernde Pianokultur bewirkt eine zutiefst anrührende Innigkeit im Lyrischen. Aber auch der überwältigende „Wach auf“-Chor, dessen Beginn mit der Fermate Thielemann wie ein Ausrufezeichen monumental ausstellt, kann in der Aufnahme in seiner starken energetischen Wirkung nachempfunden werden.

Wann die Aufführung einer so groß besetzten Oper in Pandemie-Zeiten wieder möglich sein wird, steht noch in den Sternen. Dasselbe gilt für Schönbergs „Gurre-Lieder“, die Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle in Dresden gerade noch rechtzeitig im März 2020 vor dem ersten Lockdown in Dresden aufführen konnte. Beide Aufzeichnungen erweisen sich von daher als ein großer Glücksfall und unverzichtbar für Thielemann-Fans. Stilistische Anklänge an Wagners „Tristan“ und Debussys „Pélleas et Mélisande“ ziehen sich durch dieses Drama um den König Waldemar und seine von der eifersüchtigen Königin ermordete geliebte Tove. Insbesondere im ersten Teil, dem Zwiegesang zwischen den Liebenden, schwankt die Musik zwischen geheimnisvollem Knistern und leidenschaftlicher Ekstase, weshalb man die Aufnahme am besten mit Kopfhörern abspielen sollte. In der sehr fordernden, hoch anspruchsvollen, strapazierenden Partie des Königs gelingt allen voran Stephen Gould eine Glanzleistung, wie sie wohl kaum ein anderer Heldentenor im Alter von 58 Jahren zu meistern in der Lage wäre.

Kirsten Liese

INFOS ZU DEN CDs

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868)
Zeppenfeld, Vogt, Wagner u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
4 CDs, Profil


Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“ (1913)
Gould, Nylund, Mayer u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
2 CDs, Profil

Vokale Hommage

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“

Die Mezzosopranistin Margarita Gritskova und die Pianistin Maria Prinz haben ihre Affinität zum russischen Lied bereits in zwei Recitals bewiesen. Nach einem gemischten Programm und Vokalmusik von Sergey Prokofjiev setzt sich das Duo im dritten Album mit Dmitry Shostakovich auseinander. Eingespielt wurden zwanzig Sologesänge aus mehreren Zyklen, in denen er schwierige persönliche Lebensumstände und die repressiven politischen Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion verarbeitete. Am Anfang der weitgehend chronologisch angeordneten Auswahl steht die Fabelvertonung „Libelle und Ameise“ des Sechzehnjährigen, am Ende das Finalstück der autobiographisch geprägten Michelangelo-Suite, die der Komponist erst kurz vor seinem Tod schrieb. Die Doppelbödigkeit, die dem Kosmos aus expressiven Romanzen, folkloristischen Weisen und grellen Satiren innewohnt, erschließt Margarita Gritskova mit ihrem ebenmäßigen, geschmeidigen Mezzo durch eine Palette an Zwischentönen und Variabilität im Ausdruck. So charakterisiert sie zum Beispiel die unterschiedlichen Erzählebenen der „Undine-Ballade“ durch jeweils andere Stimmfärbung. Am Klavier korrespondiert Maria Prinz mit der Sängerin auf kongeniale Weise. Im musikalischen Dialog schafft sie Atmosphäre, setzt eigene pianistische Akzente und hebt illustrative Elemente hervor. Das Booklet mit Einführungen zu jedem Stück samt abgedruckter Texte in drei Sprachen – die deutsche Übersetzung ist von Maria Prinz selbst – rundet die hörenswerte Shostakovich-Hommage ab.  

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“
Margarita Gritskova und Maria Prinz
1 CD, Naxos

Oper im Fieberwahn

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

Camille Saint-Saëns hat ein enormes Œuvre hinterlassen, doch populär sind nur wenige Stücke, wie die Suite „Karneval der Tiere“ und die Dalila-Arie aus „Samson et Dalila“. Um das Interesse am Schaffen des Komponisten anzukurbeln, richtet das Forschungsteam vom Palazetto Bru Zane anlässlich seines 100. Todestags im Dezember 2021 in den kommenden Monaten einen vielseitigen Zyklus aus. Auftakt ist die Einspielung des ersten großen Bühnenwerks „Le Timbre d’argent“, die 2017 nach Vorstellungen in Paris entstand. Die Oper thematisiert Fieberfantasien des Malers Konrad, die sich um einen Pakt mit dem Teufel, eine Geld- und Tod-bringende Silberglocke sowie die Obsession zu einer Tänzerin ranken. Das musikalisch und szenisch effektvolle Künstlerdrama weist Parallelen zu Offenbachs „Hoffmann“ auf, einiges erinnert auch an die „Faust“-Vertonungen von Berlioz und Gounod. „Le Timbre d’argent“ hatte 1877 Premiere, die weiteren Aufführungen bis zur letzten Fassung 1914 waren durch widrige Bedingungen und etliche Umarbeitungen geprägt, so dass Saint-Saëns resümierte: „Es ist keine Oper, es ist ein Alptraum.“ Nicht so das Revival, das der Dirigent François-Xavier Roth mit seinem Orchester Les Siècles, dem Chor accentus und einem vorzüglichen Gesangsquintett zu einem lustvollen Musikfest werden lässt. Eröffnet wird der kurzweilige Mix aus romantischem Gesang, Operettenesprit, Chören und Balletteinlagen von einer ausgedehnten Ouvertüre. Die beiden Tenöre, der jugendlich-heldische Edgaras Montvidas und der lyrisch-geschmeidige Yu Shao, harmonieren perfekt miteinander, ebenso die Sopranpartien, die innige Hélène Guilmette und die bezaubernd klare Jodie Devos. Als Teufel zieht Tassis Christoyannis alle stimmlichen Register, seine Gestaltung des Bösen ist elegant und ungemein subtil.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“ (1877)
Guilmette, Devos, Montvidas, Shao, Christoyannis
Les Siècles, accentus – François-Xavier Roth
2 CDs, Bru Zane

Wagners weltweite Wirkung

Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“

Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“

Ein Perspektivwechsel tut fast immer gut. Noch dazu bietet die angloamerikanische Musikschriftstellerei meist einen bestens lesbaren, analytisch klaren Stil, fern aller ästhetischen Schwurbelei – so auch der arrivierte US-Musikkritiker Alex Ross. Deshalb also: kein Zurückschrecken vor 750 reinen Textseiten, vertieft durch 100 Seiten Anmerkungen und einem breit angelegten Register. Auch weil Gloria Buschor und Günter Kotzor gekonnt die nötige Fachsprache mit den ästhetischen Beschreibungen und Urteilen des versierten Autors übersetzen und mischen konnten.

Ross hat nicht die x-te Wagner-Interpretation verfasst, sondern den Horizont von Wagners Lebensende bis circa ins Jahr 2000 gespannt: Was hat der Komponist geschaffen und wie haben seine Werke, seine Schriftstellerei und seine oft ausufernden Äußerungen dann die Kunstwelt der Moderne beeinflusst? Also untersucht Ross den schon zu Lebzeiten einsetzenden „Wagnerismus“ in Lyrik, Prosa, Malerei, Theater, Tanz, Architektur und Film bis in unsere Zeit. Selbst musikalisch ausgebildet, wollte Ross wohl ein auch künstlerisch geformtes Buch schreiben. Folglich hat er seine 15 Kapitel „werk-nahe“ benannt, vom eröffnenden „Rheingold“ etwa über „Nibelheim“ zu „Venusberg“, „Nothung“ und „Siegfrieds Tod“ bis zu „Walkürenritt“. Dass am Ende „Parsifal“-nahe „Die Wunde“ steht, signalisiert auch, dass Ross kein Problem der vielfältigen Wirkungsgeschichte ausspart, vor allem nicht den für ihn klar zu Tage liegenden Antisemitismus Wagners samt breit belegter Nachwirkung: Da bleibt Ross ganz auf der Linie des ihn beratenden Hans Rudolf Vaget, britischer Kollegen wie Barry Millington und hierzulande Jens Malte Fischer. Hier und bei der vielfach umrissenen politischen Nachwirkung Wagners, seiner Instrumentalisierung und des Missbrauchs zeigt sich eine Leerstelle der Analyse: Der seit 1989 neue Werk-Horizonte eröffnende, mit „Richard Wagner in Deutschland“ die gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte grundlegend beleuchtende Udo Bermbach ist nur einmal kurz genannt, seine „Erdung“ Wagners in der Politikgeschichte zu wenig verarbeitet. Erfreulicherweise aber hebt Ross die Bedeutung und Stellung von George Bernard Shaws kleinem Wagner-Brevier von 1896 hervor. Nur wurde Shaws 1906 dann im Kaiserreich erscheinendes Büchlein kaum rezipiert: Auch nicht in Neu-Bayreuth ab 1951, sehr wohl in der DDR und im „Leipziger Ring“ von 1974-76 – und 1976 dann im Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ von Chéreau zunächst als „linker Skandal“.

Doch weit darüber hinaus eröffnet Ross tiefe Einblicke in den schon zu Lebzeiten Wagners in Frankreich entstehenden „Wagnerisme“ mit Mallarmés „le dieu Wagner“ hin zu W.H. Audens „absolute shit“ inmitten der englischen Wagner-Verehrung. Siegfrieds Trauermarsch wird bei Lenins Beerdigung gespielt und Zionist Theodor Herzl erholt sich bei „Tannhäuser“. Neu ist der – wenn auch etwas breit geratene – Blick auf Wagners Wirkung in Amerika. Speziell den auf dort blühende Sängerromane Willa Cather oder Sidney Lanier, auf Owen Wisters Wagnerianische Cowboys und Walt Whitman: Die farbige Literaturgröße W.E.B. du Bois versteht „Lohengrin als Utopie eines rassefreien Gemeinwesens“. Ross zeigt die nahezu weltweite literarische Breitenwirkung des Tristan-Akkords und der Liebeshandlung. Weit über Seiten zu Nietzsche, Oscar Wilde und Thomas Mann hinaus verfolgt der Autor Wagners heimatsuchenden „Holländer“ in Joyces „Ulysses“, in T.S. Eliots „The Waste Land“ und Virginia Woolfs „The Waves“ und zeigt Dutzende anderer Spuren auf. Differenziert wird die Problematik „Wagner-Hitler-Nationalsozialismus“ erörtert, etwa, dass Wagner in dieser Phase in Angloamerika zum „guten Deutschland“ gerechnet wurde – bis hin zu dem Faktum, dass Filmsequenzen der US-Bomberflotte der „Walkürenritt“ unterlegt ist – lange vor „Apocalyse Now“, in dem dann der „deutsche Wille zur Macht durch einen God-bless-America-Imperialismus ersetzt wurde“. Insgesamt bringt das Kapitel „Wagner im Film“ von Stummfilm-Musik bis zu Stanley Kubrick, Ken Russell und Coppalas Opus viel Informatives.

In der abschließenden „Wunde“ zum „Wagnerismus nach 1945“ bestätigt Ross die von Udo Bermbach schon ausgeführte Kontinuität von Neu-Bayreuth auf etlichen alten Schienen, ehe dann mit dem Engagement von DDR-Regisseuren und Chéreau wirklich die Neu-Interpretation begann. Das aus US-Sicht oft als „German Trash“ abqualifizierte „Regietheater“ würdigt Ross mit den Namen Herzog-Syberberg-Melchinger-Berghaus-Schlingensief-Alden-Konwitschny-Herheim etwas zu pauschal, doch dann mit Schluss-Urteil „die Mühe wert, weil es zu außergewöhnlichen Einsichten führen kann“. Das gelingt auch Alex Ross mit erhellenden Seiten zu „Wagner in der Bildenden Kunst“: von Henri Fantin-Latour, Odilon Redon, über Kandinsky, Franz Marc, die endlich entdeckte Hilma af Klint bis zu Anselm Kiefer. Passagen über Loïe Fuller und den Ausdruckstanz, über Isodora Duncan und d’Annunzio – all das rundet sich zu einer lohnenden Tour d’Horizon mit den „Besten und schlimmsten Eigenschaften des Menschen“, mit mal einem „Sieg der Kunst über die Wirklichkeit“, mal einem „Sieg der Wirklichkeit über die Kunst“ – also einer „Tragödie extremer Unvollkommenheit“ um Wagners Werk. Die Quintessenz seines enorm gehaltvollen Bandes hat Ross schon auf Seite 421 selbst formuliert: „Wagner bleibt das Monster im Herzen des modernen Labyrinths, dem man nicht entrinnen kann.“ 

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUM BUCH

Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“
907 Seiten, Rowohlt Verlag

Eine Aufnahme zum Schwärmen!

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“

Der Einakter „Der unsterbliche Kashchei“, den Nikolai Rimski-Korsakov 1902 komponierte, basiert wie viele seiner Bühnenwerke auf einem Volksmärchen. Er handelt von der Befreiung einer Prinzessin aus den Fängen des titelgebenden Zauberers samt männermordender Tochter und deren anschießendem Untergang. Musikalisch kontrastiert die nur 70 Minuten dauernde Oper zwischen Fabel- und realer Welt. Die erste charakterisiert Rimski-Korsakov durch düstere Farben und kühne Harmonien, die zweite durch kantablere Melodien und traditionelle Formen. Die früheste Gesamtaufnahme, die 1949 eingespielt und vom Label Melodiya gerade in bester Klangqualität wiederaufgelegt wurde, ist ein elektrisierendes Dokument sowjetischer Opernkunst. Der damalige Bolschoi-Chef Samuil Samosud dirigiert wie entfesselt – beispielhaft etwa in dem illustrativen Schneesturm-Zwischenspiel. Stimmpracht und Charisma zeichnet das Gesangsensemble aus. Auf der Besetzungsliste befindet sich der alle Ausdrucksvarianten ausreizende Charaktertenor Pavel Pontryagin als Magier, der russische Ausnahmebariton Pavel Lisitsian als Prinz und der tief orgelnde Bass Konstantin Polyaev als Sturm. Zu rühmen sind desgleichen Natalia Rozhdestvenskaya, die Mutter des Weltklasse-Dirigenten Gennady, die der Prinzessin einen beseelten Sopran mit Höhenglanz schenkt, und Lyudmila Legostayeva, die den Furor der Kashchei-Tochter mit voluminösem, farbreichem Mezzo vorantreibt.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“ (1902)
Pontryagin, Rozhdestvenskaya, Lisitsian u.a.
Symphony Orchestra and Choir of All-Union National Radio Service – Samuil Samosud
1 CD, Melodiya

Prachtgemäuer

Christian Bührle, Markus Kiesel, Joachim Mildner (Hrsg.): „Prachtgemäuer. Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig“

Christian Bührle, Markus Kiesel, Joachim Mildner (Hrsg.): „Prachtgemäuer. Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig“

Nachdem das Herausgebertrio in seiner Vorgängerpublikation, dem Reiseführer „Wandrer heißt mich die Welt“, alle 200 Orte in 15 Ländern in Wort und Bild dargestellt hat, die Wagner in seinem Leben besuchte, schließen sie nun ihre Tetralogie (deren erste Bände das Bayreuther Festspielhaus und das Wohnhaus Wagner in Bayreuth, Wahnfried betrafen) ab. Damit ist eine Lücke geschlossen.

An keinen Orten außerhalb Bayreuths sind die authentischen Bauten, in denen Wagner gewohnt, gelebt und gewirkt hat, noch heute so zahl­reich vorhanden wie in Luzern, Tribschen, Zürich und Venedig. Wagner hatte ohne Zweifel eine besondere Beziehung zur gebauten Umgebung bzw. zur Architektur. Was Loge im „Rheingold“ mit seinem „ironisch-despektierlichen Ausdruck für die Luxus­immobilie Walhall“ sagt – „Das Prachtgemäuer prüft ich selbst“ –, gilt wohl auch für den Komponisten Richard Wagner, der lebenslang diverse in Frage kommende Objekte seines Weilens in Augenschein nahm.

In diesem Buch werden erstmals alle Wohn- und Wirkungsstätten Wagners in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig in Wort und Bild (damals und heute) ausführlich dokumentiert und beschrieben. In seinem „Zürcher Exil“ 1849-1858 (in den drei ehemaligen Wagner-Wohnungen am Zeltweg und in einem Neben­haus der Villa Wesendonck) „konnte Wagner ausprobieren und experimentieren, wohin seine ästhetischen, theoretischen und musikalischen Visionen führen würden“. Zürich war „eine Wagnerstadt von globaler Strahlkraft par excel­lence“, wie die Autoren betonen. Bedauerlicherweise habe die Stadt dieser Tatsache „bis heute nie dauerhaft sichtbare Rechnung getragen“. „Gemessen an Aufenthaltsdauer, Vorhandensein der authentischen Gebäude und Werkschaffung ist Zürich sogar die Wagnerstadt neben Bay­reuth.“ Oberhalb des Sees, mit Blick auf die Berge, wollte Wagner ursprünglich sogar sein Festspielhaus errichten.

In Tribschen, wo Wagner 1866 nach seiner Flucht aus München die Meister­singer, den letzten „Siegfried“-Akt und das „Siegfried-Idyll“ komponierte, erlebte er mit Cosima die glücklichste, auch ruhigste Zeit seines Lebens. In Luzern vollendete Wagner 1859 im Hotel Schweizerhof seinen „Tristan“ und heirate am 28. August 1870 Cosima von Bülow, geborene Liszt. In Venedig residierte er seit 1858 viermal bis zu seinem dortigen Tod 1883. Alle Städte werden akribisch beschrieben, Wagners Wirken dort minutiös geschildert und in bril­lianten, oft atemberaubend schönen historischen wie heutigen Fotos abgebildet, zum Teil zum ersten Mal. Manche der kenntnis- wie aufschluss­reichen Texte, u.a. von Nike Wagner, Dagny Beidler und Antoine Wagner, sind Erstver­öffentlichungen. Das abschlie­ßende Kapitel von Markus Kiesel „Alles was ist, endet“ fasst juristisch akkurat die Bayreuther Festspiel­geschichte nach Wagners Tod bis heute zusam­men, der durchaus kritische Schlusspunkt einer Publikation, die ein Standardwerk werden wird.

Dieter David Scholz

INFOS ZUM BUCH

Christian Bührle, Markus Kiesel, Joachim Mildner (Hrsg.): „Prachtgemäuer. Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig“
288 Seiten, ConBrio