Kassel / Staatstheater Kassel (Oktober 2025) Das neue „Interim“ bietet im Multifunktionsraum fast schon zu viel
Es riecht noch nach frischer Farbe. Gerade einmal 18 Monate waren es von der ersten Idee bis zur Eröffnung des „Interim“, der Ersatzspielstätte des Kasseler Opernhauses während der technischen Sanierung. Intendant und Regisseur Florian Lutz zeigt zur Eröffnung mit Giuseppe Verdis „Aida“, was der Multifunktionsraum kann.
Der modulare Theaterbau – komplett rückbaubar zur Wiederverwendung an anderen Orten – bietet mit einem Bühnenraum von 25 mal 50 Metern und einer Höhe von 18 Metern Platz für bis zu 850 Gäste. Der Holzboden erstreckt sich über die gesamte Fläche, die Obermaschinerie mit 28 Zügen über die komplette Raumlänge. Im Boden eingelassen sind ein variabler Orchestergraben und eine Schwerlast-Drehscheibe. Eine umlaufende Gerüstgalerie dient als Spielfläche und Zuschauerraum. Die flexiblen Sitztribünen bieten unterschiedliche Varianten: Guckkasten, Raumbühne und immersive Arena. Bei „Aida“ steht die Tribüne auf der Drehscheibe, die die Zuschauer um 180 Grad zu einer Spielfläche im Hintergrund bewegt.
Verdis Oper spielt auf dem gleichnamigen Kreuzfahrtschiff. Chor und Statisten bevölkern auf Liegestühlen das Sonnendeck im Bühnenraum von Sebastian Hannak. Darunter sind auch einige Zuschauerinnen und Zuschauer – man kann „Adventure-Sitze“ an der Bar und im Restaurant buchen, geführte Ortswechsel durch „Crewmitglieder“ inbegriffen.
Statt ägyptischen Pyramiden gibt es Politik an Bord (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Heerführer Radamès (Gabriele Mangione) wird zu Wolodymyr Selenskyj, Priester Ramfis (Sebastian Pilgrim) ist Donald Trump. Als Priesterin (Daniela Vega) erleben wir Ursula von der Leyen, der ägyptische König (Ian Sidden) ist Frank-Walter Steinmeier. Aidas Vater Amonasro (Filippo Bettoschi) erinnert an Putin – inklusive filmischem Pferderitt. Aidas Rivalin Amneris, hinreißend dargestellt von Emanuela Pascu, kommt mit einem Porsche auf die Bühne gerollt. Aida arbeitet als Servicekraft auf dem Luxusschiff. Sie wird von Ilaria Alida Quilico grandios in ihrer Zerrissenheit zwischen Liebe und Loyalität dargestellt. Leinwände und Bildschirme (Videos: Konrad Kästner) untermalen jede Sekunde mit großflächigen Projektionen: Nachrichtenschnipsel, Livebilder und KI-generierte Sequenzen.
Das Staatsorchester Kassel unter Leitung von Ainārs Rubiķis überzeugt schon bei den ersten leisen Tönen und füllt den Raum auch in den kraftvollen Momenten. Gerade die Abstimmung zwischen Orchester und den überall im Raum befindlichen Solisten gelingt und schafft – je nach Sitzplatz – ungewöhnliche Gänsehautmomente. Es ist schon etwas Besonderes, wenn der sich gerade noch neben einem an der „Schiffsbar“ befindliche Mensch nicht als Zuschauer, sondern als Chorsänger entpuppt (hervorragend einstudiert von Marco Zeiser Celesti und Anne-Louise Bourbion). Fast möchte man mitsingen und mitspielen.
Der Start ist gelungen – es gibt freundlichen Applaus, einige Buhs für die Inszenierung und Jubel für die musikalische Seite des Abends.
Marcus Leitschuh
„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi
