Tiroler Festspiele Erl • Lucia di Lammermoor Dualer geistiger Verfall in Donizettis „Lucia di Lammermoor“
Regisseurin Louisa Proske erzählt bei den Erler Winterfestspielen Donizettis Dramma tragico „Lucia di Lammermoor“ aus Sicht einer unbekannten Patientin in einer geschlossenen Anstalt, die sehnsuchtsvoll im Radio mit Belcanto-Musik in die Geschichte über familiäre Machenschaften und verlorene Liebe eintaucht. Ähnlichkeiten mit dem Komponisten, der die Situation des Eingeschlossenseins in einem Irrenhaus persönlich kennenlernen musste, sind erwünscht. Die junge Frau bäumt sich, ans Psychiatriebett in eiskalter Atmosphäre gefesselt, auf, wird oft niedergespritzt und „flieht“ als Lucia-Darstellerin aus ihrem Gefängnis, um in der Oper durch körperliche Gewalt und brutale patriarchal-manipulative Struktur ein unrühmliches Ende zu finden.
Der Bühnenboden (Darko Petrovic), den man im steil abfallenden Festspielhaus gut sieht, zeigt zu Beginn eine ästhetische Naturlandschaft mit saftig grünen Wiesen und tiefblauen Bächlein, wo die fröhliche Lucia/Patientin mit Socken und weißem Hemdchen mit ihrer Vertrauten Alisa lacht, jauchzt und herumspringt. Auf der Bühne wird aus dem Naturgeschöpf schnell eine unglückliche Braut, die vom festlichen Hochzeitspublikum und später von vielen Ärzten, in Theaterlogen sitzend, hilflos allein gelassen und genaustens beobachtet wird. Ab der Turmszene, mit grellen Blitzen und bauschenden Vorhängen eindringlich dargestellt, ist die schöne Farbenvielfalt am Boden verschwunden und die zwei Erzfeinde hinterlassen in der spannungsgeladenen Konfrontation nur verbrannte Erde. Während Edgardo an einem Holzkreuz für das Grab des Gegners schnitzt, liegt die Titelheldin wieder in der Psychiatrie. Die Patientin kann Fiktion und Realität nicht mehr auseinanderhalten, als sie in der Wahnsinns-Szene erneut in die Rolle der leidenschaftlichen Liebenden schlüpft und während dem Verarzten und Säubern (nach einem Selbstmordversuch?) in imaginäres Romantik-Liebesglück ausbricht. Das Libretto wird wiedergegeben, auch wenn das Radio in der Nervenklinik von der vorletzten Reihe im Auditorium nicht erkenntlich ist und man von der gewollten Heilung der Patientin durch Opernmusik nur durch das Programmheft erfährt.
Das junge Ensemble besticht durch Einsatz und Homogenität, allen voran die technisch brillante Sara Blanch in der Titelrolle mit Glas sprengender Höhe, virtuosen Koloraturen und atemberaubender Harmonie im Dialog mit dem mystischen Klang der Glasharmonika. Kang Wang präsentiert seine heroisch-strahlenden Höchsttöne, eine anmutige, flexible Stimme und profitiert vom Vorteil, dass Edgardo die letzte, schöngesungene Arie gehört, wobei der australisch-chinesische Tenor noch heftiger und energischer agieren könnte. Fortissimo-Passagen und das dynamisch-kraftvolle Übersingen von Chor und Orchester gelingt Lodovico Filippo Ravizza als Lord Enrico, während Adolfo Corrados Bass klangvoll den Gattenmord Lucias verkündet, zündend-sonore Tiefe aber fehlt.
Sesto Quatrini stellt am Pult des Orchesters der Tiroler Festspiele Erl die Sängerinnen und Sänger in den Vordergrund und erwirkt musikalische Ausdruckskraft, sodass der Abend heftig bejubelt wird.
Susanne Lukas
„Lucia di Lammermoor“ (1835) // Dramma tragico von Gaetano Donizetti
Infos und Termine auf der Website der Tiroler Festspiele Erl
