Die Kinder sind mal wieder die Leidtragenden. Papa hat eine Jüngere, die Mutter schwankt zwischen Toleranz und Rachsucht an allen. Und so werden die zwei Buben im Dreieck hin- und hergeschoben: von Norma zu Adalgisa, dem Austauschmodell, von Adalgisa zu Papa Pollione, von Pollione zurück zu Norma. Später entgeht der Nachwuchs knapp einem Giftanschlag durch die Mutter, bevor ihn letztlich das Emigrantenschicksal ereilt – während die Eltern, eben noch auf Messer und Blut kämpfend, in neuer Liebe vereint und edelmütig auf den Scheiterhaufen wandern. Norma und Pollione, hoch emotional handelnde Subjekte, die Kinder verhandelte Objekte: Das ist bewegend dramatisch erdacht von Seollyeon Konwitschny-Lee für die diesjährige Neuproduktion der Bellini-Oper auf dem oberbayerischen Gut Immling. Erdacht also für bürgerliche Tonkunst auf einem idyllisch gelegenen Einzelgehöft. Nirgends liegen Fichten-, Mais- und Hochkultur so dicht beieinander.

Auch die Druiden- und Druidinnen-Akademie, die Norma unter dem Porträt des im Prinzip feindlichen römischen Prokonsuls Pollione in Gallien leitet, um göttliche Weisheiten weiterzureichen (und Promotionsurkunden zu verleihen), ist ein sinnstiftender Regieeinfall. Doch diesem Originellen steht Überholtes, ja recht Kurioses gegenüber: Bühnenbild (Nikolaus Hipp) und Choraufstellungen neigen tendenziell zu Symmetrie und damit Steife, wobei in mitunter etwas ungelenker Führung einige Holzgewehre, -schwerter und -messer das Fürchten nicht so recht lehren wollen. Vor allem aber müsste Normas Hochverrat an Gallien eigentlich schon viel früher auffliegen, da sie doch im ersten Akt, umrundet vom eigenen lauschenden Volk, ihre starke Zuneigung zum Römer Pollione bekundet – also öffentlich, alles andere als „beiseite“ gesungen. Aber das bekannt unbeugsame Volk übt sich in etwas, worin sich ein unbeugsames Volk nicht immer übt: in Diskretion. 

So ergibt sich – wie im Werk selbst – ein Wechselbad der Gefühle bei einer Premiere, in der sich auch Anstrengung, Andacht und Feuereifer die Hände reichen. Das auch musikalisch: Elodie Hache in der Titelrolle strahlt stimmmächtig, beglückt durch exquisit platzierte Koloraturen, forciert und explodiert aber gelegentlich auch in der Höhe. Einspringer Sung Kyu Park als Pollione zeigt sich nicht weniger stimmmächtig, doch reduziert um vokale Farben. Niina Keitel als Adalgisa, zweite Umbesetzung in letzter Sekunde, singt hingebungsvoll aus dem Orchester heraus ihren Part, während Regisseurin Konwitschny-Lee stumm auf der Bühne die Rolle mimt. Evan Alexis Christ vor Festivalorchester und -chor beweist die rundeste musikalische Leistung, ebenfalls auf einspringende Schnelle: Wie er dramatische Impulse setzt, sorgsam lenkt und einfühlsam-sublim die Tragik der Norma schürt, dies kommt einer Hauptrettung des Abends voller Reiz und voller Kanten gleich.

Rüdiger Heinze

„Norma“ (1831) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

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