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Rezensionen 2022/05

Kein Ausweg

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2022)
Leoš Janáčeks „Káťa Kabanová“ wird stürmisch gefeiert

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2022)
Leoš Janáčeks „Káťa Kabanová“ wird stürmisch gefeiert

Diesmal entfesselt Barrie Kosky in Salzburg kein Operettenspektakel, sondern stellt Leoš Janáčeks „Káťa Kabanová“ auf die Bühne der Felsenreitschule. Mit einer jungen Frau, die an der Enge der Verhältnisse und ihrer Ehe fast erstickt. Sie wird von einem Musterexemplar von Schwiegermutter-Drachen drangsaliert und erniedrigt, gegen die sich ihr schwächlicher Ehemann nicht einmal ansatzweise zur Wehr zu setzen vermag. Káťa lässt sich in ihrer Verzweiflung und Lebens-Sehnsucht auf eine Liebschaft ein, hat aber die Verhältnisse und ihre Stellung darin so verinnerlicht, dass sie ihre „Sünde“ öffentlich beichtet und so die Ächtung in Gang setzt, die sie dann in den Selbstmord treibt. Sie geht in die Wolga – hier öffnet sie eine Bodenluke und gleitet hinein. Man findet am Ende nur noch ihr pitschnasses Kleid. Aber das ist auch schon der konkreteste Bezug zu einer realistischen Welt. Für Káťa besteht die Welt aus Menschen, die sie – abgesehen von ein paar Ausnahmen – nicht als junge Frau sehen. Die sich wie eine Wand ihr gegenüber verweigern und mit dem Rücken zu ihr nur Zurückweisung demonstrieren. Die konkrete Verortung der Geschichte lässt Kosky beiseite.

Es gibt einen Vorhang. Vor den (optisch) zugemauerten Arkaden stehen unzählige menschliche Puppen mit dem Gesicht zum Felsen. Sie bilden einen variablen Raum, den eine Lichtbatterie von oben zusätzlich imaginiert. Aus dieser Masse Mensch lösen sich die Akteure, haben die gesamte Bühnenbreite für sich. Ein großer Raum, der dennoch beklemmend eng wirkt. Das ist eines der Kunststücke von Rufus Didwiszus (Bühne). Die präzise Personenregie ist eins des Regisseurs. Davon profitiert allen voran die phänomenale Corinne Winters als Káťa. Eine junge, hübsche Frau, doch eingesperrt, ein leichtfüßiger Wirbelwind mit beeindruckender vokaler Ausdruckskraft. Sie ist das Glanzlicht eines in jeder Hinsicht durchweg exzellenten Ensembles: von Evelyn Herlitzius als unbarmherziger Schwiegermutter Kabanicha über Jens Larsen als ihr „Hündchen“ Dikoj, David Butt Philip als Liebhaber Boris, Jarmila Balážovás Káťa-Freundin Varvara und Jaroslav Březinas mutterhörigem Ehemann Tichon – alle fabelhaft.

Im Graben am Pult der Wiener Philharmoniker liefert Jakub Hrůša einen so atmosphärischen wie dramatisch-raunenden Janáček-Sound – immer mit, nie gegen die Sänger. Einhelliger Beifall.

Dr. Joachim Lange

„Káťa Kabanová“ (1921) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website der Festspiele

Klang trifft Kulisse

Grafenegg / Grafenegg Festival (August 2022)
Glanzvolle Eröffnung mit Beethovens „Fidelio“ im romantischen Schlosspark

Grafenegg / Grafenegg Festival (August 2022)
Glanzvolle Eröffnung mit Beethovens „Fidelio“ im romantischen Schlosspark

Es ist inzwischen liebgewordene Tradition geworden, sich vor Konzertbeginn in der weitläufigen, zauberhaften Gartenanlage von Schloss Grafenegg aufzuhalten, sich kulinarisch verwöhnen zu lassen und mit Klängen der letzten Probe auf den Abend eingestimmt zu werden. Im angenehmen Open-Air-Ambiente im ausverkauften Wolkenturm kann – in Koproduktion mit dem renommierten Gstaad Menuhin Festival – Beethovens einzige Oper konzertant begeistern. Jaap van Zweden, Chefdirigent der New Yorker und der Hong Kong Philharmonic, führt bereits bei der E-Dur-Ouvertüre mit unterschiedlichen Klangfarben wie Kampfgeist, Hoffnung und bedrückender Finsternis trefflich ein und leitet die Musiker sicher und einheitlich zusammen.

Da die gesprochenen Dialoge fehlen, liest Peter Simonischek als Sprecher „Roccos Erzählungen“ (Walter Jens), um die abenteuerliche Handlung als Rückblick aus der Sicht des Kerkermeisters zu gestalten. Dabei wird die Wandlung vom bestechlichen Kapitalisten zum mitfühlenden Menschen sehr gut sichtbar.

Einspringerin Sinéad Campbell-Wallace, auch bei den Salzburger Festspielen seit der „Elektra“ im Vorjahr bekannt, präsentiert eine ideale Leonore, die sich souverän für eine dramatisch-expressive Gestaltung einsetzt. Mit klarer Intonierung, kraftvollem Timbre und strahlender Höhe besticht die Sopranistin, deren Gesicht bei „O namenlose Freude!“ auch zu leuchten beginnt. Der Florestan an ihrer Seite, Jonas Kaufmann, kann – braungebrannt – optisch keinen vom Hunger ausgezehrten Gefangenen darstellen, aber sein einleitender, hoher Ton bei „Gott, welch Dunkel hier!“, der langsam-zart und schmerzvoll anschwillt, verströmt herrlich. Obwohl der Tenor mit dem unverkennbar-geschmeidigen Timbre sich am Ende der Arie stark zurücknimmt, bemerkt man starken Kraftverlust, wenn er von der Fiebervision „Leonore als Engel“ singt. Ausreichend Kraft und warme, aber auch ängstliche Klangfarbe beweist Andreas Bauer Kanabas als liebevoller Vater, Schlitzohr und schlauer Pragmatiker Rocco. Mit starker Persönlichkeit und exakter Aussprache zeigt das Frankfurter Ensemblemitglied einen beeindruckenden Totengräber und Kerkermeister. Christina Landshamer mit jugendlich-frischem, rundem Klang und ansprechender Höhe als Marzelline und Patrick Grahl mit lyrischem Tenor als ihr Kurzzeit-Bräutigam Jaquino finden sich ebenso gut ein wie der würdevolle Matthias Winckhler, der mit gehaltvollem Bariton als Minister Don Fernando für Gerechtigkeit und Freiheit sorgt. Falk Struckmann beweist Durchschlagskraft und mit dämonischen Farbtönen wirkt er gekonnt brutal. Sein Don Pizarro, eine Ausgeburt der Finsternis, kann eindringlich Angst und Furcht erzeugen.

Da auch der Tschechische Philharmonische Chor Brünn bewegend agiert, kann man von einem gelungenen Festival-Auftakt sprechen.

Susanne Lukas

„Fidelio“ (1805/14) // Oper von Ludwig van Beethoven

Zum Klang wird hier der Raum

Bochum / Ruhrtriennale (August 2022)
Elisabeth Stöpplers Musiktheater-Kreation „Ich geh unter lauter Schatten“

Bochum / Ruhrtriennale (August 2022)
Elisabeth Stöpplers Musiktheater-Kreation „Ich geh unter lauter Schatten“

Für den Auftakt des Programms zur mittleren Jahresscheibe der von Barbara Frey verantworteten Ruhrtriennale liefern vier querständige Vertreter der Moderne des vorigen Jahrhunderts die musikalische Vorlage: Giacinto Scelsi (1905-1988), Gérard Grisey (1946-1998), Claude Vivier (1948-1983) und Iannis Xenakis (1922-2001). Regisseurin Elisabeth Stöppler und ihr Bühnenbildner Hermann Feuchter vereinen Lieder und Stücke dieser Tonschöpfer unter dem poetischen Titel „Ich geh unter lauter Schatten“ miteinander und höchst gelungen auch mit der Bochumer Jahrhunderthalle selbst. Dieser Prachtbau mit dem zweiten Leben als Hort der Kunst kam bislang jedenfalls kaum so exponiert selbst zu Worte wie diesmal.

Vier in den Raum abgeknickte Laufstege aus Metall liefern ein optisch überwältigendes Kreuz und Quer. Darauf und dazwischen bewegen sich die Solistinnen (jeder Sängerin ihren Steg), das Ensemble Chorwerk Ruhr und die von Peter Rundel von wechselnden Positionen aus dirigierten Musiker des Klangforums Wien. Es ist der Raum für ein szenisches Nachdenken über den Tod. Das Zentrum bilden Griseys „Quatre chants pour franchir le seuil“ („Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“): „Der Tod des Engels“ (Sophia Burgos), „Der Tod der Zivilisation“ (Kerstin Avemo), „Der Tod der Stimme“ (Kristina Stanek) und „Der Tod der Menschheit“ (Caroline Melzer).

Eingeflochten sind Scelsis „Okanagon“ (1968) für Harfe, Kontrabass und Tamtam, Viviers „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele“ und Griseys „Tempus ex Machina“ für sechs Schlagzeuger. Ein raumflutendes Intermezzo wie auch Xenakis’ „Nuits“ für zwölf gemischte Stimmen.

Eine Handlung gibt es hier naturgemäß nicht. Die Regie erfindet auch keine. Es wird auf den Stiegen auf- und abwärts geschritten oder in Formation aufmarschiert, zu Boden gegangen oder sich wieder aufgerappelt, dem Klang und der Wirkung von Licht- und Raumveränderungen nachgelauscht. Die mit der Moderne vertrauten Protagonisten sorgen für eine exzellente Umsetzung. Stöppler schafft es, Kompositionen, die ohne Szene erdacht wurden, zu einem mit purer Bewegung sparsam umgehenden, eindrucksvoll rätselhaften, allemal assoziationsoffenen Stück Musiktheater zu verbinden. Zumindest bei der Ruhrtriennale findet sie dafür ein Publikum, das sich auch ohne eine erkennbare Handlung beeindrucken und in einen anderen Zustand versetzen lässt. Immer im Bereich der Lebenden versteht sich, die bereit sind, über „das Andere“ nachzudenken.

Dr. Joachim Lange

„Ich geh unter lauter Schatten“ (2022) // Musiktheater von Elisabeth Stöppler und Peter Rundel mit Kompositionen von Giacinto Scelsi, Gérard Grisey, Claude Vivier und Iannis Xenakis

Infos und Termine auf der Website des Festivals

Vom Ende aller Dinge

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2022)
Der Bartók-Orff-Doppelabend „Herzog Blaubarts Burg / De temporum fine comoedia“

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2022)
Der Bartók-Orff-Doppelabend „Herzog Blaubarts Burg / De temporum fine comoedia“

Hölle, Fegefeuer, Paradies: ewige Unbekannte in der Gleichung des Lebens. Und diesen Sommer, in Anlehnung an Dantes „Divina Commedia“, die programmatischen Leitmotive der Salzburger Festspiele. Gleich die erste Opernpremiere macht das mit einer ungewöhnlichen Kombination überdeutlich. Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“, ein 1911 komponiertes, intim-abgründiges Kammerspiel, auf der einen Seite. Carl Orffs Spätwerk „De temporum fine comoedia“, eine apokalyptische Oratorienoper, zwei Weltkriege später entstanden, auf der anderen.

Beiden Kompositionen wohnt etwas Rituelles inne, für das die Archaik der Felsenreitschule wie gemacht zu sein scheint. Und doch entscheidet sich Romeo Castellucci (Regie, Ausstattung und Licht) dafür, die Arkaden mit einem schwarzen Vorhang auszukleiden und ganz auf die Wirkmacht eines symbolträchtigen Bühnendunkels zu setzen. Zurecht, entfaltet sich in diesem Nicht-Raum im ersten Teil doch eine soghafte Seelenschau rund um eine Frau, die vom Tod ihres Säuglings – ob selbst verschuldet oder nicht – innerlich zerrissen wird.

Aušrine Stundyte lässt den Schmerz dieser Judith Stimme und Körper werden. Angst vor den Schatten in Blaubarts Mauern gibt es für sie nicht, den Weg in die Finsternis beschreitet sie bereitwillig. Vielleicht, weil der Eindruck nicht weichen will, dass wir uns in Wahrheit in ihrer Seelenburg wiederfinden, Blaubart nichts anderes als ein imaginierter Dialogpartner im Tränensee ihrer Einsamkeit ist. Mika Kares ist in dieser Produktion jedenfalls nicht die treibende, beunruhigende Kraft – und bleibt folgerichtig bei aller Klangschönheit etwas blass und konturlos.

Das lässt sich weder von Castellucci behaupten, der das schiere Gegenteil einer Materialschlacht anvisiert und mit akzentuiert platzierten Feuer- und Wasser-Impressionen jede Bühnenverwandlung überflüssig macht. Noch von Teodor Currentzis, dem energiegeladenen Meister großer Gesten, der die reiche Instrumentation dieser Perle der ungarischen Opernliteratur am Pult des Gustav Mahler Jugendorchesters in unzählige feine Nuancen auffächert. Über die „Causa Currentzis“ wurde und wird hitzig diskutiert – ein sehr sensibles Thema, für das dringend eine finale Lösung gefunden werden muss.

Nach einer grenzwertig langen Umbaupause findet der Abend nicht zu den Qualitäten der ersten Hälfte zurück. Das ist nicht etwa dem nun auch auf der Bühne großformatig besetzten Ensemble, sondern vielmehr Orffs „Spiel vom Ende der Zeiten“ selbst anzulasten. Es gibt unzählige Stücke, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind – die 1973 hier uraufgeführte Choroper in altgriechischer, lateinischer und deutscher Sprache zählt leider nicht dazu. Inhaltlich kreist sie um die Frage nach der Erlösung der Menschheit am Tag des Jüngsten Gerichts: Gibt es auch für das Böse noch Hoffnung? Auf dem Papier ein reizvolles Sujet, nutzt sich das eigenwillige, spröde Werk durch manische Repetition, skandierte Rhythmen, schrilles Sprechgeschrei bis zur Schmerzgrenze und bedeutungsschwangere Bebilderung nervenaufreibend ab. Eine komplexe Werkanlage und Bühnenwirksamkeit gehen nicht immer Hand in Hand. Der perfektionistischen Einstudierung durch alle Gewerke gebührt nichtsdestotrotz größter Respekt.

Florian Maier

„A kékszakállú herceg vára“ („Herzog Blaubarts Burg“) (entstanden 1911, uraufgeführt 1918) // Oper von Béla Bartók
„De temporum fine comoedia“ („Das Spiel vom Ende der Zeiten“) (1973/81) // Oratorienoper von Carl Orff

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Alte Liebe rostet nicht

Bayreuth / Bayreuther Festspiele (Juli 2022)
Eine eindrucksvolle und vom Publikum einhellig bejubelte „Tristan und Isolde“-Inszenierung

Bayreuth / Bayreuther Festspiele (Juli 2022)
Eine eindrucksvolle und vom Publikum einhellig bejubelte „Tristan und Isolde“-Inszenierung

Regisseur Roland Schwab liefert einen Gegenentwurf zu gängigen Aktualisierungsversuchen des Ausnahmewerkes. Soviel Erdenferne und Universumsnähe gab es bei Wagners „Tristan und Isolde“ seit Ruth Berghaus nicht. Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele wähnt man sich in einem Raumschiff, das in Sachen Erkundung unendlicher Weiten der Liebe unterwegs ist. Aber doch auch nicht. Denn der sternenklare Blick in den Himmel ist das eine. Es gibt aber auch den Blick nach unten, in den Abgrund der Leidenschaft. Als Gegenstück zum ovalen Himmelsblick findet sich auf der (post-Neubayreuther?) Scheibe ein Ausschnitt mit Meereswellen – vielleicht ein Pool. Aber wir sind an keinem konkreten Ort und schon gar nicht auf einem Luxusliner mit Braut-Fracht. Wir sehen Isolde am Rande eines Abgrunds, in dem die Leidenschaften Bild geworden sind. Blutrot. Dann aber als ein Strudel, der zwei Liebende aufeinander zu und hinab zu ziehen scheint. Man sieht, was man hört, und umgekehrt. Alles übersetzt in eine eigene Welt, ist es doch klar und nachvollziehbar. Tristan und Isolde können über diesen Boden gehen. Kurwenal oder Brangäne kämen nicht mal auf die Idee, ihn zu berühren.

Im zweiten Akt kommen Tristan und Isolde durch eine gleißend taghelle Öffnung in das Dunkel ihrer Liebesnacht. In der dann sogar die Sterne tanzen. Wenn ihre Begegnung auffliegt, macht Melot daraus ein Tribunal. Tristan landet auf einem Stuhl in der Mitte und Isolde wird mit einem der Suchscheinwerfer immer wieder geblendet. Grandios das Bild, wenn unzählige, gleißend weiße Neonröhren auf Tristan herniedersinken und er von dieser Überdosis Tageshelle tödlich verwundet wird. Im dritten Aufzug wuchern Trauerweiden von oben in die Szene. Tristan – ganz in Weiß – liegt da schon zwischen Kerzen wie ein Toter. Auch Isolde kommt in Weiß. Wenn sie zu ihrem Liebestod anhebt, taucht ein greises Paar (das uns davor schon in jüngeren Jahren begegnet war) auf und bleibt aufrecht an der Rampe stehen, während die anderen Liebenden hinter ihnen in ihrer Welt versinken.

Schwab wirft die „Tristan“-Rezeption nicht um, erfindet nichts neu. Aber das Tröstliche einer grenzenlosen Liebe über den Tod hinaus einzufangen, das versucht er schon. Dank Bühnenbildner Piero Vinciguerra, Gabriele Rupprechts Kostümen und den Videos von Luis August Krawen mutet das alles sehr ästhetisch an.

Und sehr sängerfreundlich. Dabei kann er sich auf eine erfahrene Crew stützen. Catherine Foster ist eine phänomenale Isolde mit einem umwerfenden ersten Akt und einem krönenden Liebestod vom Feinsten. Dass man zwischendrin nicht jedes Wort versteht: was tut’s. Stephen Gould liefert einen Tristan ohne Gefährdungen ab, der die Erinnerung an seinen vorigen deutlich übertrifft. Exzellent Ekaterina Gubanova als Brangäne und ein wunderbar klarer Markus Eiche als Kurwenal. Georg Zeppenfeld muss nicht beweisen, dass er ein Referenz-Marke ist, und tut es doch.

Dass Markus Poschner, der den beim „Ring“ aushelfenden Cornelius Meister ersetzt, nach nur zwei Proben mit dem Orchester mit seinem zupackend-diesseitigen Dirigat eigene Akzente setzt, die Sänger auf Händen trägt und doch den großen Bogen liefert, qualifiziert ihn für mehr als eine Einspringer-Rückkehr in den verdeckten Graben. Der Jubel ist einhellig.

Roberto Becker

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

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Filigrane Opulenz

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2022)
Puccinis „Madama Butterfly“ als Spiel auf dem See

Bregenz / Bregenzer Festspiele (Juli 2022)
Puccinis „Madama Butterfly“ als Spiel auf dem See

Giacomo Puccinis 1904 uraufgeführte Tragedia giapponese „Madama Butterfly“ wurde in Bregenz noch nie gezeigt. Intendantin Elisabeth Sobotka hat Bühnenbildner Michael Levine gebeten, eine gewaltige, quasi über dem Wasser schwebende japanische Schriftrolle mit Tuschezeichnungen (Berge und Bäume) bauen zu lassen. Sie wiegt rund 300 Tonnen und ist mit ihren 23 Metern Höhe und 33 Metern Breite monumental und doch filigran. Suggestive Beleuchtungen (Franck Evin) und animierte Videoproduktionen (Luke Halls) verleihen der ungewöhnlichen Spielfläche etwas ständig sich Wandelndes und Traumhaftes. Irritierende Bewegungen der Landschaften und geisterhaft auftauchende, plastische Gesichter sorgen für Magie. Die ungewöhnliche Bühnenskulptur, die horizontal wie vertikal bespielt wird, kann wie ein zerbrechliches Blatt japanischen Reispapiers wirken, eine Metapher des Seelenzustands der Protagonistin, aber auch wie ein archaisches Gebirgsmassiv mit mehreren übereinander angeordneten Spielflächen. Weiß verschleierte Tänzer symbolisieren den Geist des alten Japans und greifen auch in die Handlung ein.

Regisseur Andreas Homoki versteht es souverän, aber auch (gemessen an den vorherigen Produktionen mit einem riesigen Clownskopf des „Rigoletto“, den Händen der „Carmen“ oder dem Auge der „Tosca“) spektakulär unspektakulär, die Tragödie der Cio-Cio-San in Szene zu setzen. Jene aufwühlende Geschichte einer Geisha, die vom leichtfertigen amerikanischen Marinesoldaten Pinkerton zum Spaß geheiratet, sexuell ausgebeutet, geschwängert und schließlich verlassen wird. Homoki kann Massenchöre und Individualschicksale, Statisten und Sänger überzeugend führen, aber auch die szenischen Übergänge verblenden und die 1.340 Quadratmeter große Bühne geschickt theatralisch bespielen. Die anti-imperialistische, antiamerikanische Stoßrichtung gipfelt darin, dass Pinkerton Löcher in die Papierwände reißt, durch deren eines sich ein Mast mit der amerikanischen Flagge schiebt. Ein Bild des alten Japans, in das überheblicher amerikanischer Imperialismus einbricht.

Die opulenten Kostüme von Anthony McDonald verleihen der Aufführung etwas Rauschhaftes. Exzellent ist auch die Sängerbesetzung. Barno Ismatullaeva singt eine herzzerreißende Cio-Cio-San, Edgaras Montvidas einen draufgängerischen „Yankee vagabondo“ Pinkerton, Annalisa Stroppa eine anrührende Dienerin Suzuki und Brian Mulligan einen kernigen Konsul Sharpless. Auch der Rest des Ensembles lässt nichts zu wünschen übrig.

Leider erzwingen Donner, Blitz und Regen eines am Abend aufziehenden heftigen Bodensee-Gewitters nach einer Stunde den Abbruch des Spiels auf dem See. Aber die halbszenische Fortsetzung der Aufführung im Festspielhaus macht umso mehr die musikalische Qualität der Wiener Symphoniker und des Prager Philharmonischen Chores hörbar, die unter Enrique Mazzola eine eindrucksvolle Gratwanderung zwischen Opulenz und Lyrismus, subtilem Klangfarbenzauber und erschütternder emotionaler Gewalt bewältigen. Eine großartige Aufführung trotz der meteorologischen Unbilden.

Dr. Dieter David Scholz

„Madama Butterfly“ (1904) // Tragedia giapponese von Giacomo Puccini

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Zum Jubeln schön

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2022)
Europäische Erstaufführung des Musicals „Tootsie“

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2022)
Europäische Erstaufführung des Musicals „Tootsie“

Mit „Tootsie“ und Verwandlungskünstler Dustin Hoffman steht seit 1982 ein Filmklassiker an der Spitze der Geschlechtertausch-Komödien. Das Musical nun bietet den Vorteil, um eine Theateraufführung zu kreisen – ermöglicht also eine ironische und auch realistisch bittere Selbstbespiegelung des Lebens und Leidens auf den Brettern, die die Welt bedeuten können und sollen. Es legt noch amüsant insistierend den ein und anderen Missstand im Kulturbetrieb bloß, gerade auch nach dem Corona-Shutdown.

Gleich nach dem Opening beginnt Bühnenzauber: Billigwohnung, banale Probebühne, Hinterhofgewirr, Künstlerkleingarderobe, Agenturbüro, Mini-Parkidylle, alles herum-, herauffahrend oder versinkend auf der fabelhaft genutzten Drehbühne. Doch dann dreht sich die imaginierte Bühne für die geplante „Romeo und Julia“-Adaption um 180 Grad und verwandelt alles in ein Broadway-Kitsch-Verona mit Kolonnaden, Fellini-Springbrunnen mit Haifisch obenauf und Lichterlauffäden als kleinen Fontänen: Ovationen für Karl Fehringers und Judith Leikaufs Bühne. In diesen Szenerien vermitteln Alfred Mayerhofers Kostüme Kleinkünstler-Schlichtheit, verschwitzte Tanzproben-Vielfalt, imitierte Bühnen-Renaissance – und dann: Fetz! Verlegung der ganzen Aufführung in die 1950er mit Fast-Petticoat und Tanz-Smoking. All dies wirbelnd in Adam Coopers Choreografie, die den Showtanz dieser Jahre mit einer zwölfköpfigen Tanztruppe imitiert.

Aus dem Graben fetzt es immer wieder: Andreas Partilla serviert David Yazbeks Musik mit Verve und geht perfekt auf das meist rasante Tempo der Inszenierung ein. Doch die fasziniert auch durch das Setzen von Mini-Pausen, wenn Chaos droht oder plötzlich die Gefühle ernst werden. Die gute deutsche Übersetzung von Roman Hinze enthält viel Charakteristisches zu Schauspielerberuf, Gagen-Elend, Glück des Spielens – und der Situationskomik echter wie vorgespielter Selbstverwirklichung. So viel Wortwitz, promptes Gelächter und Szenenapplaus ist selten. Mehrfach fühlt man sich in eine Komödie von Feydeau versetzt, Regisseur Gil Mehmert gelingt ein Saison-Höhepunkt.

Seine Solisten-Riege verdient mehr als die eine Bühnen-Rose: vom „voll schlau“-tumben Romeo-Schönling (Daniel Gutmann), der silberhaarigen, millionenschweren Produzentin mit Theaterinstinkt (Dagmar Hellberg), dem bemüht wuselnden Agenten (Erwin Windegger) und dem zunächst uninspirierten Autor (Gunnar Frietsch) bis hin zur neurotisch-hysterischen Schauspielkollegin in bejubelten Slapstick-Höhen-Abstürzen (Julia Sturzlbaum) und einer Brüll-Knall-Charge an eitlem Regisseur voller „MeToo“-Attitüden (Alexander Franzen). Dem entzieht sich die bildschöne Julie von Bettina Mönch mit Grazie, Anmut und gekonnten Show-Attitüden einer Bühnen-Julia. Klar, dass der bislang von Bühne wie Leben eher enttäuschte Michael Dorsey ihr schon beim ersten Blick verfällt. Seine Verwandlung in „Tootsie“ Dorothy Michaels, in die resolute Amme der Bühnen-Julia gelingt Armin Kahl so perfekt, weil der „Kerl“ immer wieder ein wenig durchscheint: Sein Rollen- und Mentalitätswechsel, prompt auch die Umgestaltung der Bühnenhandlung mit Titel „Julias wahre Amme“ wird glaubhaft – bis hin zum Pausengag, dem heißen Kuss zwischen beiden: „Oh shit!“

Doch über all dieser präzisen Personenzeichnung und ihren rasanten Wechseln durch die Bühnenräume kommt der Gesang nicht zu kurz. Nach dem reizvoll stillen Finale brandet die Begeisterung aus dem Zuschauerraum in Standing Ovations zurück. Das Gärtnerplatztheater hat einen neuen Hit – entsprechend der Erstaufführung: Europa kann und sollte kommen!

Dr. Wolf-Dieter Peter

„Tootsie“ (2019) // Musical von David Yazbek (Musik und Texte) und Robert Horn (Buch)

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In der Druiden-Akademie

Halfing / Immling Festival (Juli 2022)
Bellinis „Norma“ als Wechselbad der Gefühle

Halfing / Immling Festival (Juli 2022)
Bellinis „Norma“ als Wechselbad der Gefühle

Die Kinder sind mal wieder die Leidtragenden. Papa hat eine Jüngere, die Mutter schwankt zwischen Toleranz und Rachsucht an allen. Und so werden die zwei Buben im Dreieck hin- und hergeschoben: von Norma zu Adalgisa, dem Austauschmodell, von Adalgisa zu Papa Pollione, von Pollione zurück zu Norma. Später entgeht der Nachwuchs knapp einem Giftanschlag durch die Mutter, bevor ihn letztlich das Emigrantenschicksal ereilt – während die Eltern, eben noch auf Messer und Blut kämpfend, in neuer Liebe vereint und edelmütig auf den Scheiterhaufen wandern. Norma und Pollione, hoch emotional handelnde Subjekte, die Kinder verhandelte Objekte: Das ist bewegend dramatisch erdacht von Seollyeon Konwitschny-Lee für die diesjährige Neuproduktion der Bellini-Oper auf dem oberbayerischen Gut Immling. Erdacht also für bürgerliche Tonkunst auf einem idyllisch gelegenen Einzelgehöft. Nirgends liegen Fichten-, Mais- und Hochkultur so dicht beieinander.

Auch die Druiden- und Druidinnen-Akademie, die Norma unter dem Porträt des im Prinzip feindlichen römischen Prokonsuls Pollione in Gallien leitet, um göttliche Weisheiten weiterzureichen (und Promotionsurkunden zu verleihen), ist ein sinnstiftender Regieeinfall. Doch diesem Originellen steht Überholtes, ja recht Kurioses gegenüber: Bühnenbild (Nikolaus Hipp) und Choraufstellungen neigen tendenziell zu Symmetrie und damit Steife, wobei in mitunter etwas ungelenker Führung einige Holzgewehre, -schwerter und -messer das Fürchten nicht so recht lehren wollen. Vor allem aber müsste Normas Hochverrat an Gallien eigentlich schon viel früher auffliegen, da sie doch im ersten Akt, umrundet vom eigenen lauschenden Volk, ihre starke Zuneigung zum Römer Pollione bekundet – also öffentlich, alles andere als „beiseite“ gesungen. Aber das bekannt unbeugsame Volk übt sich in etwas, worin sich ein unbeugsames Volk nicht immer übt: in Diskretion. 

So ergibt sich – wie im Werk selbst – ein Wechselbad der Gefühle bei einer Premiere, in der sich auch Anstrengung, Andacht und Feuereifer die Hände reichen. Das auch musikalisch: Elodie Hache in der Titelrolle strahlt stimmmächtig, beglückt durch exquisit platzierte Koloraturen, forciert und explodiert aber gelegentlich auch in der Höhe. Einspringer Sung Kyu Park als Pollione zeigt sich nicht weniger stimmmächtig, doch reduziert um vokale Farben. Niina Keitel als Adalgisa, zweite Umbesetzung in letzter Sekunde, singt hingebungsvoll aus dem Orchester heraus ihren Part, während Regisseurin Konwitschny-Lee stumm auf der Bühne die Rolle mimt. Evan Alexis Christ vor Festivalorchester und -chor beweist die rundeste musikalische Leistung, ebenfalls auf einspringende Schnelle: Wie er dramatische Impulse setzt, sorgsam lenkt und einfühlsam-sublim die Tragik der Norma schürt, dies kommt einer Hauptrettung des Abends voller Reiz und voller Kanten gleich.

Rüdiger Heinze

„Norma“ (1831) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

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Sündenpfuhl

München / Bayerische Staatsoper (Juni 2022)
Pendereckis abgründiger Opernerstling „Die Teufel von Loudun“

München / Bayerische Staatsoper (Juni 2022)
Pendereckis abgründiger Opernerstling „Die Teufel von Loudun“

Erstickte Sexualität, politische Diffamierung, religiös befeuerte Massenhysterie: Krzysztof Pendereckis Opernerstling „Die Teufel von Loudun“ betritt ein nachtschwarzes Minenfeld – mit tödlichem Ausgang. In dieser Welt ist kein Platz für Licht. Ein forderndes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das die Bayerische Staatsoper da zur Eröffnung ihrer diesjährigen Münchner Opernfestspiele auf die Bühne hievt.

Denn was oberflächlich wie ein kruder Genremix zwischen Horrorsplatter, kirchlichem Intrigenstadl und freudianischem Triebstau wirkt, entpuppt sich als historisch verbürgte Einbahnstraße Richtung Hölle. Anno 1634 wird die französische Stadt Loudun zum Schauplatz eines aufsehenerregenden Hexenprozesses. Priorin Jeanne begehrt den affärentechnisch umtriebigen Priester Grandier. Als er ablehnt, Beichtvater ihres Klosters zu werden, beschuldigt sie ihn, sie und ihre Mitschwestern mit Dämonen verführt zu haben. Ein willkommener Anlass für die Anhänger von Kardinal Richelieu, denen der politische Freigeist Grandier schon lange ein Dorn im Auge ist. Eine Serie von Exorzismen nimmt ihren Lauf, an deren Ende Grandier aller Unschuld zum Trotz den Flammen übergeben wird …

Ein Stoff wie gemacht für den bekennenden „Links-Katholiken“ Penderecki, dessen schroffe Partitur (in der Originalgestalt von 1969) mit kurzen, filmschnittartigen Szenen eine gleißende, rasiermesserscharfe Atmosphäre schafft. Nicht umsonst wurde die Musik des polnischen Komponisten mit ihrem schleichend-unheimlichen Sog immer wieder auch fürs Kino eingesetzt. Ihre Qualitäten beglaubigt der über alle Zweifel erhabene Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Wenn er mit dem groß besetzten Instrumentarium im Schatten lauert und dann wieder Eruptionen auslöst, Klangballungen auf kammerspielartig-buffonesken Galgenhumor treffen, Gregorianik mit Polyphonie einhergeht und gesungene Passagen sich mit Sprechtexten überlagern, erschließt sich der theatereffektive Wert der Komposition. Untermauert vom Chor des Hauses, der zwischen oszillierendem Summen und wildem Crescendo für eine transzendente Klangerfahrung der beklemmenden Art sorgt (Einstudierung: Stellario Fagone).

Was den musikalischen Gesamteindruck abrundet, ist ein mustergültig besetztes (und exzellent textverständliches) Solisten-Ensemble. Allen voran Aušrine Stundyte, die mit hochexpressiver Gesangs- und Schauspielkunst die unerfüllten Begierden der Jeanne in kühl-schizophrenem Wahnsinn auslotet. Martin Winkler entlarvt den Exorzisten-Pater Barré mit voluminösem Bassbariton als animalische Bestie unter einer Fratze der Scheinheiligkeit. Wegen Wolfgang Kochs Covid-Erkrankung musste für die Partie des Grandier in kürzester Zeit eine alternative Lösung gefunden werden: Jordan Shanahan (viriler, technisch hervorragender Bariton) und Robert Dölle (glaubwürdig in Schauspiel und Sprechpassagen) retten die Premiere, was den Priester zwischen Verführer und Märtyrer letztendlich mit einem interessanten Verfremdungseffekt sogar zusätzlich isoliert.

Und die Regie? Eine unablässig in Drehung befindliche, wuchtige Betonkirche (Bühnenbild: Bob Cousins) stärkt den filmischen Fluss. Simon Stone setzt auf Illustration statt Regietheater, was der starken Vorlage gut zu Gesicht steht. Er verortet die Handlung zwar in der Gegenwart, vertraut aber zurecht auf die überzeitliche Wirkmacht dieser Parabel um Toleranz und Intoleranz und umschifft inszenatorische Fallen, ohne das Publikum vor der rohen Brutalität des Stoffs (samt Elektroschock-Folter und Hinrichtung im Krematorium) zu schonen. Denn am Ende gibt es sie gestern wie heute, die Teufel von Loudun.

Florian Maier

„Die Teufel von Loudun“ (1969) // Oper von Krzysztof Penderecki

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Der Premieren-Mitschnitt ist als kostenfreies Video on Demand bis 27. Juli 2022 auf Staatsoper.TV abrufbar.